Steffen Popp, D

Geboren 1978 in Greifswald, lebt in Berlin. Studium in Dresden, Leipzig und Berlin. Veröffentlichte zwei Gedichtbände und einen Roman.

 

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Anstelle eines Videoporträts hat sich der Autor einen "Vorfilm" gewünscht, der vom Videokünstler Pascual Sisto gestaltet wurde:

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"No strings attached"

 

 

Spur einer Dorfgeschichte

Gelesen bei den 35. Tagen der deutschsprachigen Literatur, 6. bis 10. Juli 2011 in Klagenfurt.

© 2011 Steffen Popp

 

Früher Morgen, Lauf über glitzerndes Feld. Durch eine schwebende Nebelbank in den Baumbestand tauchen, vereisten Bachläufen folgend, auf Talgründe zu, in Hohlwegen aufsteigend, mittleren Gipfeln entgegen. Vor langer Zeit markierte Aussichtspunkte, von Bäumen geschluckt. Nicht deine Geschichte – die einer Besiedlung, eines Waldhamsters, der in seinem Bau nicht mehr erwacht nach Monaten Schlaf unter Schnee. Starre, frostklar. Fernes Geräusch einer Axt.

Das innere Licht; Menschen, die von nichts anderem leben angeblich. Dich zehrt es aus. Nur für den Fall, dass es existiert. Cordelia und Berthold, die diese Perspektive teilen, Dirk, der sie ignoriert. Auf der Rückbank von Dirks Golf: der fahrbare Untersatz gehört dem Ignoranten, du kannst ihn nicht einfach rausschmeißen. Am Innenspiegel baumeln ein ausgeblichener Duftbaum und ein knollennasiger Troll, die Berthold nachdenklich stimmen.

Stehender Film in einem Quellgebiet. Dorfhäuser, Scheunen, Garagen klumpen am Hang, künden von materieller Not, technischem Unverstand. Bewegungen von Köpfen hinter Gardinen, Cordelia kann nicht erkennen, in welcher Form etwas wie Sozialismus hier je gewesen ist. Prototypen des deutschen Gartenzwergs fertigte man in der Region.

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Man wird den Sozialismus nie begreifen. Dirk: Als Kind besaß ich ein Buch, das die Uhr erklärte – ein roter Pappband aus den Fünfzigerjahren, in dem meine Mutter die Uhr lesen lernte, wenn nicht die Zeit. Es zeigte den Werktag der sozialistischen Musterfamilie: hell, funktional, eine schwebende Bauhauswelt. Keine Konflikte, kein Müll, nur kleine Störungen manchmal, Gekräusel der Oberfläche, das sich umseitig glättete. Was ihm gefallen habe damals. Kinder hätten diesen Instinkt – alles muss in einer Ordnung sein oder in eine gebracht werden.

Dein bürgerliches Bewusstsein auf der Rückbank, ein träumendes Wrack, ein Kentaur. Cordelia sieht Eulen, ihre enorm drehbaren Köpfe, Augen in zeitloses Dunkel. Ihr schwebender Flug, das Brechen zierlicher Knochen in diesem Flug. Unerhörte Weichheit des Eulenbalgs, den ihr ein Präparator wie eine Puppe über die Hand zieht.

Dirk sieht das Uhrenbuch. Vergeigte Monumente erreichen Berthold. Im Dorf sind esWerksgebäude: ein Klinkerkomplex aus der Gründerzeit, zum Touristenzentrum umgebaut; ein Block aus den Nachkriegsjahren, vernagelt, mit ruinösem Dach, toten Augen. Fenster als Augen zu denken, scheint Berthold verfehlt, auch der Umstand, dass man dahinter neben Brillengläsern und Röntgenröhren eine Zeit lang Glasaugen herstellte, verhilft den von Dreck trüben, teils gesprungenen Scheiben zu keinem Blick. Andererseits, einmal als Augen gedacht, starren Objekte dich an, im Fall Bertholds die Fenster durch ihn hindurch. Die erste Röntgenröhre am Ort zog man 1896, die

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weltweit erste überhaupt sei das gewesen – noch vor Röntgen, vermutet Berthold, erwirbt im Museumsshop einen gläsernen Briefbeschwerer in Form eines Riesenschnauzers für einen befreundeten Hundezüchter aus Konstanz. Nachdenken über diesen Gegenstand, oft sind dir Briefbeschwerer begegnet, Hufeisen, Flusskiesel, eine Brezel aus Salzgebäck kam vor – nur in zwei Fällen beschwerten diese Dinger etwas, einmal den eh umfallsicheren Stapel beschlagnahmter Ikonen beim syrischen Zoll, einmal tatsächlich Briefe bei einer Tante in Krefeld, die dir immer selbstgemachtes Süßzeug in den Mund stecken wollte. Wenn es sich auch nur um Rechnungen, Kontoauszüge der Sparkasse handelte, man sah den Sinn des Beschwerers erfüllt – das Magazin einer Beretta, keine Ahnung, woher sie das hatte, an der Grenze von Syrien war es der Unterkieferknochen eines Esels gewesen. Deine Zufriedenheit mit diesem Bild. Der Esel wehrt sich nicht, gibt einen Teil seines Schädels gleichmütig dafür hin.

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Das Dorf hat Flügel, sitzt auf dem Gebirgsrücken wie ein Vampir. Nachts überfliegt es die Wälder, riesiges Schwarz, mit kleinen Lichtinseln, schimmernden Kugellampen. Ein eigener Kosmos – eine Möchtegernmilchstraße, in der du mit Laufschuhen stehst. Deine Ideen sind ihm egal, seine Beute ist Leben. Die alles durchdringende Vergreisung, Verzwergung, Verstetigung wirft Cordelia nieder, in schönen Schnee, der sich im Wärmefeld ihres Körpers in Matsch verwandelt. Das glücklose Schienbein Bertholds ragt ins Bild.

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Besonderer Baubestand: Spitzgieblige Häuser der Forstverwaltung und Winterbungalows von Städtern am Dorfrand, den Wäldern zu. Windschiefe Lauben auf dorfnahen Wiesen, in einer liegt Dirk auf einem geblümten Sofa. In einer stapeln sich Bauteile von Elektrozäunen und Tränken für Fleckvieh, das sommers die Hänge beweidet. In einer knäult sich das Gebrüll von Betrunkenen, die nachts auf Wildschweine prallen, mit Hirschen zusammenstoßen. Dirk: Was das Dorf singen kann, gründet in Kakophonien des Rauschs, des Crashs und des Leids. Auch Äußerungen der betroffenen Waldbewohner glaubst du zu vernehmen. Besonderer Baubestand: Ein aufgegebenes Betriebsferienlager am Fuß des Rübensteins. Im Lauf der Jahre verkommene Hütten, in denen russlanddeutsche Aussiedler ihre Verteilung auf Städte erwarteten, später Asylbewerber den Ausgang ihrer Verfahren. Ausgelagert, ein Außenlager scheint auch derWald, wenn Berthold und Cordelia sich in ihm bewegen, historischen Pelzjägern, Pelztieren ähnlich, seinen von Stürmen und Raubbau gelichteten Körper durchschießen wie Mondraketen.

Suche nach Dorfbewohnern: Die Frau mit der selbstgeschnittenen Ponyfrisur stapft energisch durch kniehohen Schnee, ihr Zwergterrier schleift nach erfolglosen Sprüngen an der Leine mit. Die vielen kleinen Wesen der Natur täten ihr leid, Menschen zerträten sie. Viel Elend unterm Dach dieses Schädels ahnt Berthold. Da er nur Soziologie lernte, kann er keine bessere Diagnose stellen. Der Terrier, die Promenadenmischung mit Terrieranteil wenigstens, du wusstest nicht, dass Fell vergilben kann. Dieses Tier war mal weiß. Es kläfft, eine Art Quietschen, ins Nichts. Sie hänge so an diesem Hund. Der, stranguliert, doch optimistisch blickt – eingepackt in ein fussliges Leibchen aus Fleece.

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Suche nach Dorfbewohnern: Der emeritierte Professor schrubbt den Fliesenboden seiner Küche mit einer Wurzelbürste. Hand, die mal Walnüsse knackte, nun beinahe knochenlos, eine Arthrose-Fallstudie aus Sehnen, Muskeln, einigem Knorpel und Gewohnheit. Einen hässlichen Leuchter sieht Cordelia, darunter Ferro-Musikkassetten (Telemann, Händel), ausrangierte Laptops, darauf Staub von Zimmerpflanzen, Spuren von Zimmerspinnen.

Demonstration auf dem Rücken der traurigen Hand: Zusammengedrückte Haut, die als Falte stehen bleibt, zeigt Wassermangel an. Was alten Leuten im Übrigen gleichgültig sei. Brüder, in eins nun die Hände! auf einem Spruchband am Tor eines Schlachthofs. Lange sei alles her. Arzneimittelforschung für die Armee. Pro bono Sommercamps für epilepsiekranke Kinder. Einführen einer Kapillare in den Gallenblasengang einer Versuchsratte, seinerzeit ungeschlagen in zwölf Sekunden.

Weitere Anekdoten aus dem Sozialismus erbeutet Berthold. Die riesige Bollhagenvase im Hintergrund glüht schwarzblau. In der winzigen Küche Wasser aus einem Altbunzlauer Krug in ein Born-Senfglas einschenken. Irgendwelche Designergläser von meinem Neffen stehen im Keller links, hört Berthold. Lautloser Lauf des Gebirgswassers in deinem Körper. Kommunismus ne super Sache sei, hört Berthold, Besitz für Idioten sei, vernimmt er.

Das alles mit Blick auf die Landschaft, die draußen ungerührt steht, Milliarden Eiskristalle bildet, unter der schwachen Gebirgssonne leuchtet wie unter Kontrastmittel ein träumendes Hirn.

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Geländeerkundung, nach prüfendem Blick auf den vereisten Wald doch nur auf Dorfstraßen. Cordelia bricht armlange Zapfen von einer Traufkante, Berthold referiert über Giebel, Balkone, endlos, da immer neue auftauchen. Schneebälle, zuerst von Cordelia vermutlich – linkisch, unentschlossen, Zitat von etwas, das mal Spiel hieß, Schlacht. Plötzlich mit Eifer, gekonnt, flache Parabeln schneiden die Luft.

Einschläge, stiebendes Weiß. Bau eines Schneehasen dann, Frieden und Effizienz des gemeinsamen Tuns rühren Cordelia zu Tränen. Tränen Bertholds rühren von einem Treffer her, der in seinem Auge etwas zurückließ, das jetzt schmilzt. Unsere Winterjacken leuchteten touristisch, aber das war okay, wenn man auch nicht wusste, warum.

Bei Anbruch der Dunkelheit Einkehr, christlich, zumindest sozialdemokratisch gestimmt im Wirtshaus Zum glücklichen Eber. Ein schlauchartiger Gastraum, schlecht ausgeleuchtet, die Luft dick von Alkohol, Rauch. Schneelast und eben Dunkelheit drücken durch kleine Fenster, ein metallener Gegenstand schlägt fern gegen Holz, regelmäßig, dumpf. Vorsichtiges Agieren in diesem Milieu, Tasten mit Augen, Ohren, du meinst, dich in einem historischen Film zu befinden; auch die moderne Zapfanlage ändert daran nichts, die elektronische Kasse, der Spielautomat neben dem Tresen fügen sich bruchlos in das Vergangene ein. In einer anachronistischen Schneekugel, sieht Cordelia, liegt das ganze Dorf.

Suche nach Dorfbewohnern: Der Hüttenmeister, mit seinem Humpen allein, man lädt ihn hinzu. Er repariere Glasdinge in einer Hofwerkstatt, nach Schließung der Hütte, des Glaswerks, zum Schutz vor Verblödung gleichsam. Sichtbare Spuren

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flammennaher Arbeit in dem Gesicht. Eine einzige Flamme aus einem erbärmlichen Gasbrenner noch, die dazu grässlich, Hüttenmeister: faucht. Das Dorf, seit mehr als dreihundert Jahren auf Glas, Berthold notiert auf einem Bierdeckel:

Wichtigster Rohstoff der Gegend war Holz, mit dem man Schmelzöfen heizte. Cordelia versenkt sich in ein Portrait des glücklichen Ebers, sein Ende in

Gulasch und Wurst lässt sie nicht kalt. Der Hüttenmeister verbreitet sich über Quarzsande, Aschen, geheime Zuschlagstoffe, Berthold verschönert den Untersetzer mit Definitionen: amorphe Substanz, gefrorene Flüssigkeit. Cordelia entlarvt den Gastraum als Magen des glücklosen Schweins – verlässt diesen Ort umgehend, folgt der vereisten Straße zum Dorfladen, kauft einen Joghurt von Zott, einen elfenbeinfarbenen Radiergummi von Koh-I-Noor. Der Elefant darauf lacht, bricht einen Widerstand – auch Berthold kommt in dem Moment zu etwas, seine Krakelschrift über Chemie, versunkenes Handwerk hinaus. Halluziniert, fürchtet der Wirt, obwohl Berthold nur Mineralwasser trank; wirft ihn aus dem Lokal.

Vor dem fleischfarbenen Neubau der Feuerwehr in einem Schneehaufen sitzend, siehst du das Grundbuch des Orts: Generationen alter Streit um Liegenschaften, Durchfahrten, groteske Anbauten; ein den Berg spiegelndes Gebirge von Hypotheken, Verbindlichkeiten; Zäune aus Holz und Draht um jeden Fußbreit Erde.

Cordelia erfasst das Dorf mit ruhigem Blick: Substanzwert null, gerade noch zum darin Wohnen geeignet. Ein Fall für den Bagger, wenn nicht das Geld für einen Abriss fehlte. Cordelia findet Bertholds Vision von einem Dorf aus Glas bedenkenswert, vor allem schön – das im Sommer dunkel, im Winter durchscheinend wäre, von fern gesehen nicht mehr als weiße Rodungsflecken im Gebirge. Dirk findet zwei leere Bierflaschen auf einem Sims.

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Seit Stunden hält sich das Dorf durch massiven Auswurf von Licht, nur der Hof der Kunsthändlerin verschmilzt ohne Widerstand mit niedrigem Himmel, struppigem Nadelwald. Du bist angemeldet, doch scheint man dich nicht zu erwarten – so dass Berthold und Cordelia nach einigem Läuten das Tor selbst aufdrücken, durch eine Schneewehe pflügend den Hof betreten. Erst jetzt, hofinnen, der matte Schein einer Lampe im zweiten Stock.

Die Kunsthändlerin sitzt in einem Fuchspelz an ihrem Arbeitstisch, umgeben von Korrespondenzen, Artefakten und Artefaktfragmenten. Das Gesicht hinter weißem Atem wie ein Planet unter Wolken, die Hände bis zu den Knöcheln in gestrickten Pulswärmern, blass, mit schmalen Fingern. Eiskristalle am Fenster, komplexe Solitäre entlang der Wärmebrücken; das Licht der einfachen Tischlampe gibt dem Raum das Flair einer Renaissancewerkstatt, schockgefroren für Augen unserer Zeit. Die Kunsthändlerin steht auf, schaut eine Weile das Dorf an, das in dem sich verdichtenden Dunkel wie die Modellbauwelt einer Spielzeugeisenbahn leuchtet, glimmt. Schon als Kind mochte ich Friedhöfe, sagt sie.

Bedeutende Werte lagerten in diesem Raum – ursprünglich Korn-, später Heulager, deren Rückstände man nach dem Einzug mühsam herauskratzte. Cordelia etwa sitze auf einem Kopf des Djoser, Granit, sie habe vor unserem Eintreten eine Decke drübergelegt. Berthold schaut unter sich, er sitzt auf einem gewöhnlichen Stuhl. Dennoch so pleite, nicht einmal heizen könne sie. Ob man nicht etwas mitnehmen wolle, dieses Entengewicht etwa, polierter Porphyr aus Susa, für einen Rucksack wie den Bertholds passend. Ich mache Ihnen zur Sicherheit einen Repli-

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kenstempel drauf. Cordelia greift das Gewicht, das das Gewicht einer altpersischen Ente nicht einfach repräsentiert, sondern ist, selten hat sie Vergangenheit unmittelbarer gespürt. Die Steigerung von unmittelbar scheint Berthold unzulässig, in Anbetracht der Situation nimmt er sie hin. Rückweg durch große Stille, hangabwärts, der eigenen Spur folgend dem Dorf entgegen. Das Knacken überfrorenen Schnees schmerzt in den Ohren, das Entengewicht bläut dir den Rücken – totes Geflügel, spürst du, rächt sich durch drei Jahrtausende. Sorge um Berthold, Grenzen der Soziologie sieht Cordelia in stockdunkler Nacht. Zwei Jungen am Weg fällen eine verdorrte Robinie, der vordere mit einer glänzenden Axt. Stehen reglos, im schwachen Licht einer Sturmlaterne. Der hintere, der eine Schrotsäge trägt. Der vordere eben die Axt.

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An dieser Stelle atmen, Tee aus einer von Dirks Baumarkttassen trinken. Mit Blick auf sein Kakteenregal, eine Sammlung heroischer Strünke in von Trockenheit rissiger Erde, weiter von Wäldern sprechen, Holzeinschlag. Pferdgroße Traktoren, die kaum noch Wald zerstören; Eigensinn zieht sich in Extremlagen zurück, man möchte ihm folgen, doch es gelingt immer weniger. Je mehr, desto weniger – du denkst an die Zeit, als du Extremen nah warst, wenn damals auch ohne Begriff.

Heute ein Riesenthesaurus in Wäldern, die scheinbar unverändert stehen, unverändert ohne Augen schauen, grüßen. Ein Nadelöhr ohne Kamel, ein falscher Hase ohne ein Wort für echt. Poetischer Ton Cordelias, die bei Roland Berger in München Mergers&Aquisitions betreut, dich überrascht. Nicht weiter verwertbar:

Die Ballade vom Förster, der sich erschoss beim Herausziehen einer Flinte

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aus seinem Van (er packt sie beim Lauf, der Abzug verhakt sich in einer Schlaufe seines Rucksacks). Nervende Einträge Bertholds in Form von Listen. Cordelia: Die Waldwege wurden verbreitert, mit Schotter zu fahrtauglichen Pisten aufgefüllt, eine

Aktion, die man als ökologischen Ausgleich für Autobahnbauten verbuchte. Du erinnerst dich an verwachsene Pfade, denen du unsicher folgtest, verwitterte Wegweiser, die, noch wenn sie zum Boden oder zum Himmel zeigten, kürzeste Routen versprachen.

Auf dem Tisch liegen Krümel, die Cordelia nicht sieht, Berthold in seinen Listen nicht unterbringt. Für ein Erfassen des Dorfes nicht relevant, bereichern sie doch den Blick. Sind wir nicht, schreibst du, streichst das sofort durch. Dirk sucht einen Tischbesen, findet Putzlappen aus zerschnittenen Feinripp-Unterhosen.

Suche nach Dorfbewohnern: Der Marder, die Maus. Der Leguan Hans, der nach seiner Bergung aus einer falsch zugestellten Kiste Jahre im Fenster der Poststelle saß, zwischen mundgeblasenen Ziergläsern und dem Postwertzeichen des Monats manchmal die Zunge nach einer Fliege ausfuhr. Von einer Pagodenschildkröte im Schuhschrank der Ursulinen wurde berichtet, gesehen hast du sie nie. Bevorzugt im Pantoffelfach und im Schub mit den Stricksachen, hieß es.

Besonderer Baubestand: Der Außenpool, das gesprungene Betonbecken eines Schwimmbads an einer Quelle im Wald. Dirk: Wir schwammen, tauchten hier oft noch im Juni bei einerWassertemperatur von zwölf Grad. Zuletzt zog man Forellen

in dem Bassin. In diesem Becken sitzen, über Schichten von Forellenkot undWaldhumusmit Steinen, Elementargeistern reden. Ich wäre die apokalyptischen Heere,

die wilde Sieben und schlüge Dumpfheit, Verfall. Bertholds Theorie des unendlich-

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en Lebens in stehender Zeit – praktisch gewichtlos auf dem Kamm des Werdens reiten. Cordelias Theorie der Vergreisung durch Untätigkeit. Dirks Theorie der Sukkulente, des Strunks.

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Elemente möglicher Beschreibung ziehen als Schneehühner, kopflose Schwäne vorbei, das Wintergesicht des Gebirgsdorfs, weiß auf weiß. Dein glänzender Helm aus den Neunzigern mit der Aufschrift BOLT. Dirks Golf auf dem leeren Touristenparkplatz am Fuß des Rübensteins; der Skiträger auf dem Wagendach, ein Geweih. Die Sage von Göttern und Teufeln, die diesen Berg vor Äonen als Quirl verwendeten. Was immer sie aus dem Schaum des Urmeers, das die Region damals bedeckte, gewannen, Quirlenergie, behauptet Dirk, ist im Stein. Lächeln des toten Lifts, unter dem du die Skier schulterst, langsam nach oben steigst.

Ungeschickt klinkst du die Abfahrtsstiefel in fossile Bindungen ein, jedes Geräusch knallt wie ein Schuss über dem gefrorenen Tal. Erste Bögen in Zeitlupe, steif, ein Wunder, dass du nicht stürzt, sich etwas in dir erinnert, die nötigen Abläufe freigibt.

Durch stiebendes Pulver über festen Altschnee; mit jeder Bewegung kommt mehr zurück, Kontakt, Erfahrungen mit diesem Hang. Im Wechsel der Schwünge siehst du das Dorf als Helix, Rest eines Kodes, den niemand mehr abliest. Postkartenschön steht es im Eis, ein Spiegel innerer Reglosigkeit, während dein Körper beschleunigt, das Gelände automatisch nimmt. Lumineszenz, Binnenbrillanz des Verfalls – dann eine Bodenwelle, die dich hochwirft, hart in den Schnee zurückschickt, jedes Denken zerstäubt. Das spüren, und alle Torheit verbrennen,

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sollst du downhill im Weiß. Am Ende des Auslaufs steht Dirk, mit seiner riesigen Schneebrille wie ein Philosoph. Dein letzter Bremsbogen reißt euch beide um. Noch mal beim Professor, da Berthold den Windschutz vom Mikrophon liegen ließ; Einlass gewährt seine Frau. Freundliches Vogelgesicht hinter dampfendem Tee.

Mit Architektur beschäftigt, wenn Cordelia die Bücherwand richtig erfasst. Auf Nachfrage, während Berthold den Windschutz suchend am Boden herumkriecht: Städtebau, komplett, von der Garage bis zum Stadion. Historische Begriffe, die

Cordelia mit Finance, Construction, Controlling übersetzt. Neue Städte für den neuen Menschen; jahrelang die einzige Frau in dem Geschäft. Wenn Material da war, auch Altes saniert, mal eine Kirche gedeckt. Berthold, vom Boden her: Existiert

Gott? Verwunderung, Heiterkeit. Nachdenklich dann: Das entrückte Gesicht der jungen Frau im Zugabteil neben ihr, nach einem Tieffliegerangriff mit MGs – kein höherer Sinn, nur die Bedeutung des Wortes „zerfetzt“ prägte sich damals ein. Morphin, sieht Cordelia, hält den erschöpften Körper wie Mut ein Geschick, Gold eine Bank. Berthold angelt den Windschutz mit einem Teppichklopfer unter der Couch.

Wiederum Abend, Nacht. Kritische, sprachlose Nacht. Weltnacht, kommt es dir vor, was lächerlich ist, weißt du, und trotzdem ist es gut, so zu denken, in diesem Mittelgebirge Erhabenheit zu simulieren. Außerdem ist der Sternhimmel wirklich unglaublich – du bemerkst ihn nicht, und nicht den Wald, sein Wahnkonzert aus fast nur Stille, bemüht, alle Ideen und Werkzeuge heil durchs Gelände, auf einen

Gipfel zu bringen. Auf dem man sie ausrichten, irgendwie ins Verhältnis setzen könnte, um etwas zu sehen, zu durchdringen, du weißt nicht, was.

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Früher Morgen, Lauf über glitzerndes Feld. Die Raupenspur einer Schneefräse gibt Grund, Atem gefriert um dich. Pferdhaftigkeit solchen Beginnens. In deinem Laufanzug wie vom Mars, der Landschaftsraum stößt dich ab – was das sich Abstoßen beim Laufen erleichtert, das Wiederaufkommen erschwert. Die Pulsuhr im Hals deutet ein Maximum an, das halten, sagt eine Trainerstimme, halten, halten – Das Dorf, von einem mittleren Gipfel gesehen das zertrümmerte Haupt eines idiotischen Riesen. Eines Verrückten, der das Gebirge, den Rübenstein nicht überstieg.

Du erinnerst dich an den Gemeindearbeiter und seine bärenbraune Mütze aus Kunstfell, doppelt so groß wie sein Kopf, die diesen vor Kälte schützte, ihn vor der Welt. Eine Werkzeuglandschaft, sieht Cordelia, die den Geist ihrer Bewohner roh nach außen stülpt. Stumme Verfilzung eines Aktionsraums, aufgrund – das Abzweigen von Sauerstoff für Gedanken und schlechte Lauftechnik zwingen zur Umkehr, später zum Stehenbleiben auf freiem Feld. Berthold erstieg einen trigonometrischen Punkt, mittels Spezialkarte gar einen Superpunkt, seltsam, dass er einen solchen, überhaupt etwas fand. Steht gleichfalls still, an diesem Punkt, faltet die frierenden Zehen in seinen Boots. Lauscht, hört aber nichts. Nichts regt sich, spricht. Das Dorfgehirn, zerschlagen, schaut mit kleinen Augen.

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