Leopold Federmair, Hiroshima (JPN)
Leopold Federmair wurde von Jurorin Daniela Strigl für die TDDL 2012 vorgeschlagen.
Leopold Federmair: Aki
vorgetragen bei den 36. Tagen der deutschsprachigen Literatur
© Leopold Federmair
Kann es sein, daß er mich nicht erkannt hat? Nein, glaube ich nicht. Noch weniger Zweifel auf meiner Seite, schließlich stand sein Name auf dem Schildchen, das er am Revers trug wie die anderen Angestellten auch. Damit der Kunde weiß, mit wem er es zu tun hat. Gut, ich habe nur einen Erlagschein abgegeben, haben Sie ein Konto bei uns? Nein? Macht zehn Schilling extra, trotzdem hätte er mich erkennen müssen. Hat mich erkannt. Ob ich mich so stark verändert habe? Andere Frisur, Haare gefärbt, ein bißchen fester die Figur, wer hält schon sein Mädchengewicht. Und er? War auch derselbe, älter, aber nicht anders, nicht aus der Form gelaufen, nur das Gesicht so... Glatt. Sauberes Gesichtchen, keine Spur von... Keine einzige Narbe, nichts. Schminkt er sich? Ganz dezent? Schminkt sie ihn? Ist er verheiratet? Ich schaute auf die linke Hand, auf die rechte, den Finger, das feine Haarbüschel, den Ring. Kann ich noch etwas für Sie tun?
Nein, nichts zu tun. Ich drehte mich um. Lief über die Treppe, stolperte. Irgendwie hat es mich doch getroffen, daß er mich nicht erkannte. Ich war ja nur zufällig vorbeigekommen in der Gegend dort, beim Wochenmarkt. Ich wohne schon lange auf der anderen Seite vom Fluß. Der Alte soll in derselben Bank gearbeitet haben nach dem Krieg, bevor er das Gasthaus übernahm. Manchmal hat er den Gästen seine Bankgeschichte erzählt, immer gleiche, von einem, der maskiert in den Schalterraum kam, Zorro, noch nicht ausgenüchtert vom Faschingsball, legte einen Bierzettel auf den Tisch, das ist ein Überfall, sagte der Alte: Da fehlt ein L. Wieso, sagte Zorro und beugte sich über den Zettel, was soll da fehlen? Und an der Stimme erkannte der Alte, der damals fast so jung war wie Aki, als ich ihn kannte, den Mann, der ein Stammkunde im Gasthaus war, und sagte: Geh heim, schlaf deinen Rausch aus, und Zorro faltete den Bierzettel zweimal zusammen und schwankte zum Ausgang. Ich sag euch nicht, wer es war, sagte der Alte, sonst kriegt er noch Schwierigkeiten, hat eh schon genug. Die Sache war längst verjährt, aber der Alte tat so, als sei es gestern gewesen.
Ein paar Wochen, nachdem Aki bei der Bank angefangen hatte, schlug ich ihm vor, einen Einbruch zu machen, am Wochenende, nachts, er behauptete, den Code vom Haupttresor zu kennen. War natürlich nicht ernst gemeint, wir dachten uns oft etwas aus, aber manchmal wurde es ernst, und ich stellte mir vor, wir zwei wie Bonnie und Clyde, ich hatte den Film mit Faye Dunaway gesehen, damals in Amerika, als ich in dem Kaff am Highway 209 arbeitete, nicht am Highway 61, das war eine der Lügen, die uns verbanden, und wenn ich frei hatte, fuhr ich manchmal nach Reading, da gab es ein Kino, das auch ältere Sachen spielte. Aber Bonnie und Clyde, da machte er nicht mit, er saß kalt und steif auf dem Bett und sagte, er müsse jetzt üben.
Dabei übte er damals gar nicht mehr. Jedenfalls war er nicht mehr in der Band, wo er Baß gespielt hatte, ich glaube, weil er für die Gitarre nicht gut genug war. Aber zu Hause spielte er nur Gitarre, jedenfalls wenn ich dabei war, der Elektrobaß lehnte am Radioturm, den er dort aufgebaut hatte, uralte Volksempfänger, die er vom Flohmarkt hatte, einer über dem anderen, obwohl im Zimmer gar kein Platz dafür war, das Bett und der Tisch füllten den Raum aus, ein viel zu großer Schreibtisch, der über die Waschmuschel ragte. Da saßen wir oder lagen auf dem Bett, auf der dünnen schwarz-goldenen Decke, die er nach dem Aufstehen über die Tuchent warf, und er sang Highway 61 oder einen anderen Song von Dylan. Eigentlich war er zu jung für Dylan, zehn Jahre jünger als ich, seine Band spielte Softpunk, so nannten sie es, die glaubten, sie hätten etwas Neues erfunden, Softpunk, aber ihm gefiel Dylan. Am Anfang, wenn ich in sein Zimmer kam nach dem Nachtdienst, quetschte er mich aus über solche Sachen, Dylan, Woodstock, Amerika, und wir erfanden uns unser Amerika, dort in dem winzigen Zimmer, wo kein Dritter Platz gehabt hätte, schon gar nicht seine Mutter, die er nicht hineinließ, niemanden ließ er hinein, wir erfanden, was wir wollten, und er hörte auf, mich über Dylan zu fragen, weil ich nicht viel wußte, er konnte viel besser Englisch als ich. Ein ganzes Jahr warst du dort, sagte er vorwurfsvoll, und warst nicht einmal in Kalifornien, nicht einmal in Massachusetts, und verstehst nicht, was der Zimmermann singt? Auch das war mir neu, Aki behauptete, das sei sein richtiger Name: Robert Zimmermann. Und der Kauderwelsch, den er sang, all die seltenen Wörter, die man versteht, wenn man hundertmal hinhört, aber der Sinn bleibt einem verschlossen. Immerhin war ich in New York, tagelang bin ich durch die Straßen gezogen, nächtelang in Clubs und Hinterhofzimmern gesessen mit dem Burschen aus Reading, der mich auf dem Supermarktparkplatz einfach fragte, ob ich mitkomme, New York City’s calling us, und ich stieg ein. Dylan ist mir nie über den Weg gelaufen, ich glaube, der wohnte längst in Kalifornien. Wenn sie zu Geld kommen, ziehen sie alle nach Kalifornien.
Aki, der hätte mich nie so angesprochen. Es ist überhaupt ein Wunder, daß ich ihn kennengelernt habe, wenn man das überhaupt so sagen kann, kennengelernt. Es war mehr wie... wie wenn das Eis zerbricht von einem Gefrierhuhn, du holst es aus dem Kühlraum und schlägst es zwei-, dreimal auf den Stock und die Kristalle fallen ab. Und da zeigte sich, er war flammend, nicht nur sein Gesicht brannte, sondern der ganze Körper, er schwelte und züngelte, aber irgendwie blieb alles unter Kontrolle. Vielleicht wegen der Pubertät, vielleicht sind alle sechzehnjährigen Burschen so. Aber da ist die Pubertät schon vorbei, oder? Jedenfalls brannte er, hörte nicht auf zu brennen, still vor sich hin. Wie sein Schwanz, das gehörte zusammen, das waren die beiden Enden vom Brandherd, der steife Schwanz mit der Erdbeere drauf, ein roter Gupf, so drall, als wollte er platzen, und das Gesicht, aus dem die roten Flecken hervorschossen, rote Ellipsen und Kreise, von gelben Pünktchen gekrönt. Einmal versuchte ich, ihm eins auszudrücken, ich dachte, vielleicht mag er das. Falsch gedacht, er schlug meine Hand weg, daß es klatschte. Obwohl er sonst friedlich war, ein Lämmchen, ein brennendes Lämmchen. Sein Vater war ganz in Ordnung, obwohl Aki ihn haßte, der Alte hatte mich eingestellt, weil er mit meinem gut war, ein Spezi, er hatte ihm Klobecken geliefert, die neuen Pissoirs, früher hat es ja entsetzlich gestunken in diesen Gasthäusern, der Wirt war mit allen gut, der bekam immer was vom Kuchen, und bei den Kellnerinnen hat er’s versucht, was denn sonst, bei allen, und manchmal hat er’s bekommen, von mir nicht, da war Sendepause, Schwamm drüber, gut. Obwohl er mir leid tat. Er schaffte es, daß er einem leid tat, dabei war er nicht arm.
Aki, der tat mir nicht leid, obwohl er, damals zumindest, arm war. Am Anfang dachte ich, er ist Schlafwandler, und eigentlich denke ich immer noch so, ein erregter Schlafwandler, etwas in der Art, weil ich ihn nur nachts zu Gesicht bekam, nach dem Nachtdienst, wenn der Wirt unten die Türen absperrte und das Geld zählte und noch ein Bier trank und in der Zeitung las, was weiß ich, denn er hatte es nicht eilig, zu seiner Frau zu kommen, die sicher schon schlief, wenn sie nicht gerade auf Fortbildung war, keine Ahnung, wofür die sich fortbildete, für die kitschigen Blumenbilder, die an den Wänden verwelkten. Wir hatten unsere Zimmer auf der anderen Seite vom Haus, Aki und ich, eigentlich waren es Gästezimmer, aber das Hotel war nie ausgebucht, immer standen Zimmer frei, nur in der Volksfestzeit wurde es manchmal eng. Meines ging nach hinten, zum Parkplatz, seines nach vorn, auf die Straße, es war lauter und kleiner und heller, außerdem hatte das Haus vorne einen langen Balkon. In der Mitte zwischen unseren Zimmern lag das Klo, nur eines für Männer und Frauen, das Pissoir von meinem Vater geliefert, und da ging Aki fast jedesmal hin, wenn ich die Treppe raufkam kurz nach Mitternacht, da traf ich ihn auf dem Gang. Ich traf ihn und traf ihn nicht, er sagte kein Wort, die Augen blinzelten, ich weiß nicht, ob er mich sah. Es kam vor, daß er mich streifte, der Gang war ja eng, warum hätte ich mich an die Wand drücken sollen. Sein Schwanz streifte mich, die Erdbeere, ein einziges Mal, als er um die Ecke bog und ich um die Ecke bog, genau da. Sein Schwanz streifte mich, denn er war nackt, splitternackt, später sagte er mir, daß er nur nackt schlafen kann, auch wenn es kalt ist, dann breitet er eine Decke über die Tuchent, die Kleider drücken ihn in der Nacht. Ich weiß nicht, ob er mich sah, jedenfalls sagte er nichts und ich sagte auch nichts, ich war viel zu müde, um einen Scherz zu machen, was hätte ich sagen sollen, vielleicht schlafwandelte er, sowas gibt es, Leute, die schlafwandeln, Nacht für Nacht, traumhaft sicher, die tun sich nicht weh, aber daß der Schwanz abstand... Er hatte einen ziemlich großen, ich schaute darauf, wenn ich durch den Gang kam, ich konnte nicht anders, obwohl ich nicht wollte, starrte ich auf die Erdbeere, und er mit fast geschlossenen Augen, ich sagte mir, er muß eben aufs Klo, aber immer dann, wenn ich vom Nachtdienst komme, ich sagte mir, der Blasendruck, mein Damaliger hatte mir das einmal erklärt, durch den Druck der Blase wird der Schwanz steif, das hat nichts zu bedeuten, obwohl mein Jetziger es gern in der Früh macht, ohne vorher aufs Klo zu gehen, aber er stöhnt dann, bevor er abspritzt, er stöhnt wie im Schmerz, und manchmal spritzt er nicht, aber der Schwanz ist härter als sonst, härter als am Abend.
Ein Schlafwandler, meinetwegen. Im Zimmer ließ ich die Tür einen Spaltweit offen, lauschte in den Gang, hörte die Klospülung, hörte die Stille, hörte das Knarren der Treppe, eine andere Tür auf der anderen Seite, Knarren, Stille. Nach einer Minute, zwei Minuten kam er zurück, aber einmal, als sein Vater früher heraufstieg als sonst, blieb Aki im Klo, er wartete, bis die Tür auf der anderen Seite zuklappte. Er wartete schlafend, oder? Und einmal dann nahm ich mir ein Herz, es war lange nach Mitternacht, ich konnte nicht schlafen, ich riß die Tür auf, ging schnurstracks bis zu seiner, wollte klopfen, stoppte, hörte die Gitarre, leises Klimpern, hörte eine Stimme, die nicht seine war. Ich drückte langsam die Klinke, die Tür war nicht einmal abgeschlossen. Und niemand im Zimmer, niemand außer ihm, Aki. Die Stimme kam aus dem Volksempfängerturm, irgendwo aus der Mitte, wo ein grünes Lämpchen leuchtete. Aki schien mich nicht zu sehen, er wandelte noch immer, saß da im Schlaf, saß auf dem Bett, das Kinn auf die Gitarrenbuchtung gelegt. Nackt, das schwarzgoldene Tuch um die Schulter. Ist dir nicht kalt, sagte ich, um etwas zu sagen. Nein, sagte er, nicht kalt, und ich wartete auf ein Aber, das nicht kam. Er rückte, ohne mich anzusehen, rückte in die Tiefe des Zimmers, sehr tief war es nicht, und ich setzte mich neben ihn und ich weiß nicht, was wir dann machten, weiß nur, was wir in all den Nächten machten, aber ich glaube, wir schliefen in dieser ersten Nacht nicht. Er schlief überhaupt nie, nachts, schlief tagsüber in der Schule, die Schule interessierte ihn nicht, trotzdem bestand er alle Prüfungen, immer im Durchschnitt.
Was wir taten, war reden, reden und Musik machen, summen, schweben. Musik machen und reden war dasselbe, eins ging ins andere über, er machte die Musik, ich hörte zu, du beschwingst mich, sagte er, und von da an: Beschwing mich, komm. In der ersten Nacht dachte ich, ich sollte ihn erlösen von diesem Druck, so stellte ich mir das vor, denn das staut sich vorne bei den Männern, das muß irgendwie raus. Dachte ich. Und ich glaube, ich legte meine Hand zwischen seine Beine, streichelte ihn, küßte ihn, leckte an seinem Nacken, wo das Feuermeer begann, und er tat nichts, tat nichts dergleichen, wurde steif, aber nicht dort, wo er steif war, wenn er auf dem Gang wandelte. Deshalb ließ ich wieder davon ab, schon in der zweiten oder dritten Nacht, ich gab es auf, wollte ihn nicht mehr erlösen, vielleicht ist er ja schon erlöst, dachte ich, aber da täuschte ich mich, wie ich später begriff. Wir redeten sogar über Erlösung, das Wort gefiel ihm, und irgendwann tauchte das Lied auf, Star of Redemption, meistens sang er ja Dylan oder Neil Young oder Joni Mitchell, auch Billy Bragg und Paul Collins, aber manchmal tauchte etwas auf, das ich nicht kannte, etwas ganz anderes, das hatte er selbst gemacht, vielleicht, oder auch nicht. An den Refrain kann ich mich genau erinnern, wir haben ihn oft gesungen, unsere fast lautlosen Stimmen in der Nacht, während wir hinausschauten, der Fensterflügel knapp über der Schreibtischfläche, wenn Aki öffnete, mußte er Hefte und Bücher wegschieben. Einfaches Englisch, vom Zimmermann war das sicher nicht:
The star is always there,
so bright and far away.
You’ll never reach it, but you try,
it leads you day to day.
Auf dem Schreibtisch lagen ein paar Bücher, immer aufgeschlagen, mit dem Rücken nach oben, alte Schwarten vom Dachboden seines Großvaters, manchmal erzählte mir Aki, was er gerade gelesen hatte. Aber meistens saßen oder lagen wir auf dem Bett und machten oder hörten Musik, hörten Musik von meinem Walkman, brüderlich geteilt, ein Ohrstöpsel in seinem, einer in meinem Ohr. Jede Menge Cassetten, CDs gab es noch nicht. Musik machen, Musik hören, reden, lesen war eins und dasselbe, es war wie ein Gewand, das wir woben und das nie fertig wurde, das Gewand unserer Nacht.
Wir redeten auch über uns, das lag nahe wie der Stern, und ich fragte ihn, weil ich mir immer noch Sorgen machte, ob er eine Freundin hat, und er sagte ja, dann nein, dann wieder ja, und erzählte mir eine seltsame Geschichte von einem Mädchen aus einer anderen Klasse, das einen Kopf größer war als er und eigentlich mit einem Burschen ging, der schon studierte, und daß sie sich manchmal in einer Telephonzelle trafen, wo das Gras rundherum wuchs, und wenn sie sich küßten, war ihre Zunge, er sagte: wie eine Schlange, eine Schlange oder ein anderes Tier. Ich versuchte, ihn zu küssen, aber er drehte den Kopf weg, da ließ ich es sein. Möglich, daß er einen Schock erlebt hat, als ihm ein anderes Mädchen sagte, er soll sich zuerst waschen. Wie, waschen? Sie war die Zweitschönste in seiner Klasse, die Freundin der Schönsten, die neben ihr saß. Einmal ließen sie ihn kommen, sie hatten beratschlagt, wenn er sich wäscht, überlegt sie es sich, die Zweitschönste. Jeden Tag, fügte die andere hinzu, wenn du dich jeden Tag gründlich wäschst, überlegt sie es sich. Das war ernst gemeint, ein Vorschlag, auf den er eingehen konnte oder nicht. Dabei mußten die zwei doch wissen, daß er sich soviel waschen konnte, wie er wollte, sein Gesicht wurde nicht sauber, keine Chance, nur mit Schminke konnte man da etwas machen, mit Aknichthol, aber das lehnte er ab, es nützte nichts und tat ihm weh, es war Öl ins Feuer. Ich frage mich immer noch, ob sich die Zweitschönste über ihn lustig machte. Er hätte sich ein bißchen zusammennehmen müssen, dann hätte es geklappt. Aber wenn man es von ihm verlangte, nahm er sich nicht zusammen. Dann sicher nicht.
Einmal habe ich mitbekommen, wie ihn sein Vater zum Tisch rief, wo er mit einem anderen Spezi saß, einem Heilbaddirektor. Ich habe fast alles gehört, weil sie am Tisch an der Rückseite der Theke saßen und fast keine Gäste da waren, die Flaute am Spätnachmittag, vor dem Abendgeschäft, und der Alte rief Aki, komm einmal her, sein Bruder mußte ihn holen, weil Aki selten in der Gaststube auftauchte, und wenn, dann schlüpfte er durch den Türrahmen wie ein Unsichtbarer, komm einmal her, und ich spürte den Widerwillen, mit dem er sich hinstellte: Setz dich, er setzte sich mit dem halben Hintern und ließ die Ratschläge über sich ergehen. Der Moorbadgeschäftsführer, der aussah wie ein x-beliebiger Vertreter, erzählte Wunderdinge vom Moorbad, die Leute stiegen mit der reinsten Haut aus dem schwarzen Dreck, und der Wirt war begeistert, denn er machte sich Sorgen um das Erscheinungsbild seines Sohnes, während Aki zuhörte, eine Arschbacke auf der Stuhlkante, oder nicht zuhörte, er starrte zwischen den beiden Männern durch auf die Wand. Ja, murmelte Aki, ja, und ich sah das Gesicht lodern, die blinkenden weißen Punkte. Der Vertreter öffnete seine Aktentasche und nahm zwei Pakete heraus, Torf oder sowas in Plastikbeuteln, legte sie auf den Tisch und begann zu erklären wie ein Apotheker, zweimal täglich, mit Wasser anrühren, das Gesicht vorsichtig abtupfen. Am Anfang kann es schmerzhaft sein... Der Heilungsprozeß dauert... Kann ich jetzt gehen, morgen habe ich Schularbeit. Aki vergaß auf die Pakete, der Vater rief ihn noch einmal zurück, Aki nahm sie, ohne zu schauen, im Zimmer lagen sie dann ein paar Wochen neben den Volksempfängern.
Und ein andermal erzählte er mir, daß ihn ein Lehrer beschimpft hatte, weil er den Kopf auf den Tisch gelegt hatte, der Typ kam in der Pause in die Klasse, die meisten Schüler waren auf dem Hof, der kam in die Klasse und stupste ihn an, starrte Aki ins Gesicht wie einem Außerirdischen, sagte: Hast du wieder gekokst? Wir kennen dich, Bürschchen. Aber Aki kannte den Lehrer nicht, er sah ihn zum ersten Mal oder schaute einfach vorbei, die Lehrer interessierten ihn genauso wenig wie das, was sie erzählten. Hast du wieder gekokst? Die Nacht durchgemacht? Solche Sprüche. So denken sich das die Lehrer. Daß er alte Schwarten las und Musik machte, auf die Idee wäre er gar nicht gekommen. Dabei hat Aki nie irgendwas angerührt, das weiß ich genau. Aber die Leute glaubten, auch die Stammgäste glaubten, daß er was nimmt, Koks oder Haschisch, für die ist sowieso alles eins. Das Geld hätte er gehabt, woher, das werde ich gleich erzählen. Es interessierte ihn nicht, er sagte, ich bin high genug. Nur die Musik interessierte ihn. Der Stern der Erlösung.
Dabei glaubten alle, er hätte kein Geld. Auch sein Vater glaubte das, vor allem sein Vater. Der Bruder, wenn er vom Internat kam, ließ sich anschauen hinter der Theke, trug hellblaue Sakkos und weiße Jeans und ein sauberes Gesicht, die Haare frisierte er sich in die Stirn, während Aki seine Bürste kreuz und quer stehen ließ, und das bißchen Bart, das ihm wuchs, und der Bruder, klar, der würde das Gasthaus übernehmen. Ich habe es selbst gehört, wie Akis Zähne knirschten, als er den Vater um Geld bat für ein Konzert, zwanzig Schilling, sagte der Alte, das genügt, oder? Dabei wußte er genau, daß es unter hundert Schilling kein Konzert gab, er wartete einfach, ganz Geschäftsmann, auf die zweite Forderung, aber die kam nicht, nur das Knirschen von Akis Zähnen. Umso besser, dachte der Vater, zückte die Brieftasche, legte noch einen Zehner dazu, tat großzügig: Hier, dreißig Schilling. Und Aki sagte kein Wort, nahm das Geld und zog ab. Der Bruder, auch das habe ich gesehen, feilschte, so gefiel es dem Alten, obwohl er auf sein Geld schaute, er fühlte sich geschmeichelt, daß der Sohn so geschäftstüchtig war wie er selbst, ein neuer Pullover kostete nicht zwei-, sondern drei-, nein, dreihundertfünfzig Schilling. Kein Wunder, daß Aki auf die Idee mit dem finsteren Loch kam.
Das finstere Loch, genau. Das finstere Loch war ein Zimmer gleich neben der Treppe, auf der anderen Seite, wo der Wirt und seine Frau schliefen. Aki erzählte, daß er früher dort eingesperrt worden war, wenn er etwas angestellt hatte. Er sagte, die Mutter habe ihn mindestens einmal pro Woche eingesperrt, den Bruder auch, aber viel seltener. Ich wunderte mich, aber er sagte: Nein, nicht der Vater, sondern die Mutter. Der Vater hat nie die Hand gehoben, der war viel zu schwach, willensschwach, die Mutter schon, die konnte auch zuschlagen. Finster war das Loch, weil es kein Fenster hatte. Früher muß da eines gewesen sein, von außen sieht man, wenn man genau hinschaut, den Fleck an der Wand, irgendwann haben sie es zugemauert. Natürlich gab es elektrisches Licht, eine Glühbirne an der Decke, ohne Lampenschirm, ich erinnere mich genau, eine Glühbirne, Aki traute sich jahrelang nicht, das Licht einzuschalten, wenn er im Loch eingesperrt war. Auf dem Gang kann man es sehen, wenn drinnen Licht ist, die gelbe Linie zwischen Türrand und Schwelle. Sonst war nichts Besonderes in dem Zimmer, nur Wäscheschränke, eine Bügelmaschine, durch die das Zimmermädchen die Leintücher gleiten ließ. In einem Schrank war der Christbaumschmuck, farbige Kugeln und Silberlametta. Und der Tresor, der Tresor stand in der Ecke neben der Tür. Wenn man an ihn heran wollte, mußte man zuerst die Tür schließen, sonst ging es nicht. Klar, sowieso schließt man die Tür, wenn man an einen Tresor geht. Aki wußte, wo der Schlüssel dazu lag, er hatte seine Zeit im finsteren Loch gut genützt. Ein schweres Ding, dieser Tresor, ganz aus Eisen, mit Vordach und zwei Säulchen, sah aus wie ein Tempel. War ganz leicht zu öffnen, wenn man wußte, wie. Es gab keinen Code, nur eine Stelle, wo man draufdrücken mußte. Wie Aki die herausgefunden hatte, frage ich mich (ihn habe ich nie gefragt); wahrscheinlich hat er viele Stunden herumprobiert, das Ding überall abgetastet. Einen Schlüssel brauchte man auch, der lag auf einem der Kästen, der Wirt legte ihn immer dort hin. Und dann gab es drei Öffnungen für den Schlüssel, die unterste war die richtige.
Wir machten gemeinsame Sache. Nicht von Anfang an, erst nachdem Aki mir davon erzählt hatte, dachte ich, ich könnte ihm helfen. Wir zwei gegen den Wirt. Eines Nachts erzählte er mir die Geschichte, nicht aus Berechnung, glaube ich, sondern einfach so, weil er mir alles mögliche erzählte. Wenn er Geld brauchte oder einfach Lust hatte, an den Tresor zu gehen, warteten wir einen günstigen Zeitpunkt ab, wenn nötig hielt ich den Wirt in der Gaststube zurück, und im Notfall, der nie eintrat, konnte ich immer noch hinauflaufen, um ihn zu warnen. Im übrigen ging es schnell, in ein paar Sekunden waren die Scheine in Akis Hosentasche, immer nur ein, zwei Scheine, keine zu großen Beträge, sonst wäre es aufgefallen. Ich verlangte nichts für meinen Dienst, nur manchmal steckte mir Aki einen Schein zu, oder er kaufte mir ein T-Shirt, einen Ohrring, etwas vom Flohmarkt. Irgendwann schöpfte der Wirt doch Verdacht, er stellte uns seltsame Fragen, zuerst dem Zimmermädchen, dann uns Kellnerinnen, aber ich spürte, daß er sich seiner Sache nicht sicher war. Unmöglich, über die Einnahmen und Ausgaben auf den Schilling genau Buch zu führen, jeden Tag brauchte er einen Betrag hier oder dort, für Handwerker, Bierführer, Kücheneinkäufe, Kartenspiel, Kinder, und die Einnahmen liefen auch nicht alle durch die Hände der Kellnerinnen. Er fragte mich, ob ich Schulden habe oder ein uneheliches Kind, wo ich im Urlaub hinfahre und sogar, dieser Depp, ob ich Drogen nehme. Wie beim Visum für Amerika, die fragen einen doch glatt, ob man Drogen nimmt. Nach einer Weile glätteten sich die Wogen, der Wirt resignierte, und Aki erhöhte die Beträge nicht, Geld interessierte ihn eigentlich nicht – damals zumindest.
Trotzdem kam einiges zusammen. Im nachhinein scheint mir, daß die Stereoanlage der Anfang vom Ende war. Er überlegte, ob er eine neue Gitarre kaufen soll, und entschied sich für die Stereoanlage, eine Onkyo, die japanischen Sachen waren noch nicht lange auf dem Markt. Ein chromblitzendes Ding, für das er drei Volksempfänger opferte, damit es Platz hatte auf dem Rumpf vom Turm. Monatelang verwitterten die Radios unter seinem Fenster auf dem Balkon. Er kaufte Vinylplatten, oft dieselben Alben, die ich auf Cassette hatte, und wir saßen oder lagen auf dem Bett und hörten den reinlichen Klang möglichst leise, damit die Zimmergäste nicht protestierten. Der Walkman blieb fortan in meinem Zimmer. Als die CDs aufkamen, kaufte er welche, obwohl er sagte, daß sie nie so gut klingen werden wie die Vinylplatten. Platten waren echt, ihr Klang war echt, CDs waren künstlich. Ich glaube, er hat dann trotzdem ganz aufgehört mit dem Vinyl. Am echtesten war die Musik, die wir selber machten, Star of Redemption und alles.
Nach der Matura wohnte er ein paar Wochen in Wien, in der Wohnung vom Kaffeelieferanten, der ganz Österreich abklapperte. Aki sagte, er würde mir schreiben, aber er tat es nicht. Über die Zeit in Wien verlor er nachher kein Wort. Als ich erfuhr, daß er in der Bank anfangen wollte, fiel ich aus allen Wolken. Ich erfuhr es von seinem Vater, der es so nebenbei sagte, wie er alles nebenbei sagte, in seinen Augen war nichts von Bedeutung, es ging nur darum, alles halbwegs im Griff zu haben. Danach habe ich Aki noch ein paarmal in seinem Zimmer besucht, obwohl ich wußte, daß es vorbei war. Die Begegnungen auf dem Gang waren vorher schon immer seltener geworden. Als wäre er langsam von der Schlafwandlerei genesen. Vielleicht war es ein heilsamer Schock, als mir einmal ein Verehrer nachgestiegen ist, die Treppe hinauf, und sich im Zimmer irrte. Ich glaube, er war einfach zu betrunken, die Zimmernummern konnte er im Halbdunkel nicht lesen. Er stand auf dem Balkon und klopfte an das Fenster von Akis Zimmer. Klopfte, flüsterte, klopfte: eine Ewigkeit, sagte Aki. Bis er, Aki, aus dem Zimmer lief und in meinem landete. Der Verehrer, dieser Depp, merkte es nicht. Aki hatte die schwarzgoldene Decke über die Schulter geschlagen und zitterte am ganzen Körper. Diese Nacht blieb er bei mir, das einzige Mal. Der Verehrer muß irgendwann auf dem Balkon eingeschlafen sein, der Bäcker sah ihn im Morgengrauen, als er den Brotsack brachte.
Ein einziges Mal habe ich Aki nach seiner Rückkehr aus Wien nachts auf dem Gang gesehen. Es war wie immer, er wandelte starr und der Schwanz stand wie bei einer Statue, aber als er an mir vorbeiging, hörte ich ein leises Röcheln, und aus den Augenwinkeln sah ich, daß er mich sah. Träumte er mich oder nicht, der Blick machte mir Angst. Ich beschleunigte den Schritt und sperrte ab, als ich in meinem Zimmer war.
Zugegeben, es war eine Dummheit, daß ich ihm diesen Vorschlag machte. Nicht im Ernst, eher wie eine von den Erfindungen, die wir uns ausdachten. Seine Antwort war ernst, wie auch sonst immer, nur war es diesmal, wie soll ich sagen, ein vernünftiger Ernst. Vielleicht wollte ich etwas retten, das nicht zu retten war. Wir hatten vom Tresor im finsteren Loch gesprochen, und Aki sagte, er wisse, wie man den in der Bank öffnen kann, er habe den Filialleiter beobachtet. Da kam ich auf die Idee, er könnte ein paar Scheine rausfischen, am Wochenende, ich würde draußen in der Nähe auf ihn warten. Wache stehen. Aki schaute mich an, wie er mich auf dem Gang angeschaut hatte in dem Sekundenbruchteil, aber diesmal schaute er länger, er nahm seine Augen nicht mehr von meinem Gesicht. Nein, sagte er, und dann nichts mehr, und nach einer Weile noch einmal: Nein. Ich glaube, er hat es sich ernsthaft überlegt und mir dann seinen Entschluß mitgeteilt. Dann lagen wir auf der schwarzgoldenen Decke, hörten Hejira, schauten auf das schwarze Vinyl, auf den Schimmer von der Schreibtischlampe, der sich mit der Platte drehte, und als die Platte zum Stillstand kam und der Tonarm sich zurückzog, sagte Aki: Ich will doch nichts von denen. Und er griff noch einmal, ein letztes Mal, zur Gitarre und sang, der Refrain klingt bis heute in meinem Ohr: It was just a false alarm...
Es gab eine Alarmanlage, vielleicht wollte er mir das sagen. Alarmanlage, Überwachungskamera. Nix Bonnie und Clyde... Nach meiner Kündigung habe ich ihn nie wieder gesehen. Auch nicht zufällig, nicht auf der Straße, nicht im Voxx, wo ich eine Zeitlang gekellnert habe, in keinem Konzert. Ich glaube, er geht nicht mehr auf Konzerte. Wen er wohl geheiratet hat? Die Freundin aus der Telephonzelle? Und ich, schon so lange am Fluß, in einer geborgten Blockhütte, was soll ich tun? Brauche ich doch eine Zukunft? Soll ich ewig die alten Dylan-Songs hören, während die Stimme des Meisters längst zerbrochen ist? Zerbrochen und zerbröselt. Roberts Vater war ein Zimmermann, hat Aki einmal behauptet, daher der Name. Wie der Alte im Buch der Bücher: Zimmermann. Ziehvater Joseph, nicht echt, der Erlöser ist ohne Sex gezeugt worden. Aber das ist auch nur Erfindung.