Lisa Kränzler, Freiburg (D)
Lisa Kränzler wurde von Juror Hubert Winkels vorgeschlagen.
Lisa Kränzler: Willste abhauen
vorgetragen bei den 36.Tagen der deutschsprachigen Literatur
© Lisa Kränzler
Auf der einen Seite der Straße, die vielleicht Hirsch-, vielleicht Reh-, vielleicht Frosch- oder Eulenstraße hieß: Gesicht und Bauch der Akademiker-Mutter, auf der anderen hingegen Miene und Nabel der Arbeiter-Mutter. Hüben Lehrplan, drüben Schichtplan; da Eigenheim, dort
Mietwohnung; rechts Standpauke, links Arschvoll. Frischobst und Frischluft und Kompost im Osten, Dosen und Kippen und Ascher im Westen.
Nichtsdestotrotz verbanden unsere so verschiedenen Mütter einige Gemeinsamkeiten: Auf beiden lastete die Aufgabe der Instandhaltung von Haus, Hof und Familienfrieden, wobei sie ihre chronisch übermüdeten Gesichter stets mit einem tapferen Lächeln aufschmückten …
Was sie, Jasmin oder Celine oder Justine, und mich, das Mädchen, deren Name vielleicht Lisa, vielleicht Lea, vielleicht Lara oder Lotta lautet, jedoch am meisten faszinierte, und uns unserer kindlichen Meinung nach zur Freundschaft, wenn nicht gar Schwesternschaft verpflichtete, war
der Umstand, dass beide Mütter auf Namen, deren Ursprünge in der Botanik wurzeln, getauft worden waren. Sowohl auf der Ost- als auch auf der Westseite der Hirsch- oder Reh-, Frosch oder Eulenstraße blühte es auf Briefen, Buchdeckeln und Dokumenten, und wenn unsere Väter
Wünsche hatten, riefen sie einen Blumennamen, der vielleicht Iris, vielleicht Margarita, vielleicht Rose oder Susanne lautete.
Wir finden Gemeinsamkeiten weil wir sie suchen, schneiden passende Stücke aus unserer Wirklichkeit und basteln uns eine Welt, in der wir einander nahe sind. Sichtbare Klebestellen und verunglückte, grobgezackte Formen, deren Farben nur selten harmonieren, kümmern uns wenig, denn noch arbeiten wir ohne fremde Vorlagen, Muster und Maßstäbe. Die Kindergärtnerinnen dagegen suchen nicht, sie inspizieren ... Peinlich genau prüfen und deuten sie Namen, Kleidung, Verhalten, sowie die Fahrzeugmodelle, von denen ihre Schützlinge
morgens abgeliefert werden. Ihre neugierigen Augen wühlen wie Hundeschnauzen in allem, was Schlüsse auf die häusliche Herkunft erlaubt, aufgrund derer sie die Zukunft mit einer Überzeugungskraft prophezeien, wie sie jene alten Zigeunerinnen besessen haben müssen, von denen die Märchen erzählen. Auch dass JasminCelineJustines kurzgeschorener Kopf, durch dessen Stoppeln die Narbe eines Schädelbasisbruchs schimmerte, nicht ewig stopplig bleiben und aus ihrem Stoppel- bald ein Lockenkopf, ein wildes, gewelltes Strahlen rund um ihr Gesicht, werden würde, mussten sie vorhergesehen haben, als sie die Kleine der „Sonnengruppe“ zuteilten. Mich hingegen steckten sie in die „Mondgruppe“, was mich etwas betroffen machte, als ich herausfand, dass der Mond in Wirklichkeit eine Art Almosenempfänger der Sonne ist, ein passiv
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Angestrahlter ohne leuchtende Eigeninitiative. Waren wir, die „Gelben“, lediglich kurzbeinige Mitläufer? Eine Bande Abglanz?
Oder sollten wir, die wir allesamt aus gutbürgerlichen oder neureichen Familien stammten, uns früh in der Kunst des Understatements üben und den anderen, den Arbeiter- und Ausländerkindern, großherzig den Vortritt in unserem katholischen Kindergarten-Sonnensystem überlassen, damit sie einmal im Zentrum, im Mittelpunkt standen, bevor sie in unseren
gutgehenden mittelständischen Betrieben als kleine und kleinste Rädchen arbeiten würden? Die Zugehörigkeit ihres Stoppelkopfes zur Sonnengruppe war genauso wenig zufällig, wie später ihre Rolle in unserem Kindergarten-Theaterstück. Das Schauspiel mit Tanz und Gesang hieß „Safari“ und JasminCelineJustine, deren Stoppeln längst einem voluminösen Wirrwarr aus Locken gewichen waren, übernahm darin den Part einer „Wilden“ oder, korrekter ausgedrückt, einer „Stammeskriegerin“. Ich hingegen wurde von den Erzieherinnen ermuntert, die Rolle des „Safari-Guides“ zu übernehmen, was mich zum einzigen Kind mit Sprechrolle, Zwang zum Auswendiglernen und Lampenfieber machte … Während JasminCelineJustine sich also nach Belieben WILD und ungestüm gebärden durfte, musste ich einen unhandlichen, scharfkantigen Jeep aus Pappkarton über die Bühne schleppen und dabei Verse aufsagen:
„… aus dem großen, blauen NIIIIIILE Kommen jetzt die KROKODIIIIIILE!“, brüllte ich die Zuschauer voller Stolz an. Um dem Publikum die beste Sicht auf meine neue Bluse zu ermöglichen, galt es, den hellblonden Jungen, der den männlichen Safari-Guide verkörpern sollte, mit dem Ellbogen möglichst weit vom Jeepfenster abzudrängen. Die Bluse, welche ich in
dem scheibenlosen Seitenfenster vorführte, verzweigte sich unterhalb der Knopfleiste in „zwei Zipfel zum Knoten“ und bot dank dieser Besonderheit ungehinderte Sicht auf meinen Bauchnabel. Jene Handbreit Nacktheit und die von mir betriebene Präsentation des Nabels im Fenster empfand ich als überaus spektakulär ... Ein bauchfreies Top – das war für mich der
Inbegriff von Sexyness. Da ist es! Das Reizwort mit vier Buchstaben und kesser –ness-Endung. Schamlos quetscht es sich zwischen modale Präposition und Punkt: Sexy. Darunter verstand ich das schlängelnde, geschmeidige, katzenhafte Körpergefühl, das sich einstellte, wenn ich die glatten, sanft geschwungenen Hautlandschaften meines Körpers abfuhr,
das durch die Berührung ausgelöste Bedürfnis nach fremden Fingern.
Es, Eh, Ix, Ypsilon. Mysteriöses Erwachsenenwort, das mit der Entdeckung der Vollkommenheit der eigenen Form zusammenhing und dem Verlangen, diese von mehr als zwei Händen erforschen zu lassen ...
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Der Anblick der übrigen unter plumpen Tiermasken aus Pappmachée versteckten Kinder jedoch war unsexy und stieß mich ab. Die Mädchen und Knaben mit den grauen, fladenförmigen Ohranhängseln, welche sich umständlich verrenken mussten, um die Elefantennasen mit ihren
Armen darzustellen, empfand ich als besonders unattraktiv. Auch die Darsteller der „Riesenschlange“ hatten nicht den Hauch einer Chance, sich meine Sympathien zu erspielen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich den einen oder anderen neidischen Blick auf JasminCelineJustines kurzes Kriegerinnen-Baströckchen warf … So kam es, dass mein begehrliches Schielen in Richtung Mini-Bastrock diese bittere, zum Ausspucken reizende „Man-kann-nicht-alles-haben“-Sprechblase aus dem Mund einer Erzieherin in mein Gesicht platzen ließ, um mir zu verstehen zu geben, dass man sich wohl oder übel zwischen zwei Daseinsvarianten entscheiden muss, da der Reiz eines verwilderten, nackten Arsches und die Kultiviertheit vorgetragener Verse nicht zusammengehen.
„Nicht alles haben…“
„Man kann nicht…“
Der Unsinn der Erwachsenen. Ich rang meine Neidgefühle mit Hilfe der Einsicht nieder, dass das Baströckchen ohnehin hinter den tarnfarbenen Jeeptüren verschwunden und somit für das Publikum unsichtbar geblieben
wäre. Meinen nackten Bauch hingegen sah jeder. Die Entscheidung zwischen Nacktheit oder Kultur erübrigte sich. Um jenen Schein von Unbeschwertheit, der die Krieger, Schlangen, Elefanten und Krokodile zur Sprachlosigkeit verdammte, hatte ich meine plump kostümierten
Kameraden sowieso nie beneidet ... Mein Auftritt verlief ganz nach meinem Geschmack. Nachdem mein blonder Co-Moderator bereits in den ersten Spielminuten seinen Text verpatzt hatte, überließ er mir widerstandslos Fensterplatz und Moderation. Mit hochrotem Kopf verzog er sich in den Fond des Pappjeeps und betätigte sich fortan schweigend als Heckantrieb unseres 4-Feet-Drives. Das lag ihm bedeutend besser, fand ich und vergaß ihn. Sein Gesicht und sein Name verschwanden spurlos in den Katakomben meines Gedächtnisses und wenn ich mich heute in jene dunklen Gehirngänge hineinwage, in denen die Bilder meiner Kindheit spuken, so finde ich dort kaum ein anderes Kind als dich, die Wilde mit dem strubbeligen Strahlenkranz aus Locken ... In Wahrheit warst du gar nicht so wild. Eine sorgsam bewahrte Erinnerung, unser „Pferdchen-Spiel“, beweist es: Ich sitze in deinem Hohlkreuz, meine Unterschenkel antreibend oder zurückreißend gegen deine schon zaghaft gerundeten Hüften gepresst. Rechts und links umwickeln schwarze Schnürsenkelzügel, die mit dem Gürtel, den ich dir um den Hals gelegt habe, verknotet sind,
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meine schwitzigen Fäuste. Damit dein Aufwiehern klar und schallend bleibt, lenke ich mit einer Kombination aus Schenkeldruck, Zisch- und Schnalzlauten. Ich greife in deine gelockte Mähne, raune Richtungswechsel, feuere dich mit jubelnden „HÜAHHÜAH“- Rufen an.
Widerspenstige Launen, die ich mit zügelndem Ruck züchtigen muss, sind glücklicherweise selten. Denn dein geseufzter, wie ein ersticktes Husten klingender Abwürgelaut klingt unangenehm unfein. –- Ein solches Geräusch ziemt sich nicht für edle Tiere.
„HÜAH! HÜAH, mein Ross!“
Wir galoppieren über grüne Teppichlandschaften, rasten im Schatten der Eckbank. Du steckst die Nase in deinen mit Cornflakes gefüllten Futterbeutel. „Ja … Friss schön! Bist ein braves Mädchen!“, lobend tätschle ich dein jeansblaues Hinterteil. Dann wird es Zeit für ein wenig Sprungtraining. Deine Sprünge sind nicht die eines Reittiers. Die langen, kräftigen Hinterläufe, mit denen du dich abstößt, und die kürzeren Vorderbeine lassen dich wie einen fetten Feldhasen mit kupierten
Ohren aussehen. Irgendwie schwerfällig. Kaum ein Hindernis, das du nicht umreißt. Dir hinterher zu räumen ist langweilig. Im Schritt und im Trab, wenn sich Vorder- und Hinterläufe auf gleiche Weise heben und senken, gefällst du mir besser. Plötzlich weiß ich, was dir fehlt.
„Warte, ich hol kurz was!“
Bald darauf bin ich zurück.
Ich, der Schmied.
Mutters Küchenschürze schlackert mir um die Beine. Mit dem Kartoffelstampfer in der Linken und einem 3000er Edding in der Rechten nähere ich mich breitbeinig dem Tier, das es zu beschlagen gilt.
Bereitwillig lässt du dir Handflächen und Fußsohlen mit wasserfesten, nach Lösungsmittel stinkenden Hufeisen verzieren.. Zur Sicherheit wird jeder neue Pferdeschuh mit kurzen, präzisen Kartoffelstampfer-Hammerschlägen doppelt und dreifach festgeklopft. Der schweigsame, schmerbäuchige Schmied, dieser ungehobelte Klotz von einem Mann, der
Menschen meidet und die Gesellschaft der Tiere vorzieht, ist’s zufrieden. Nach Feierabend wird er ins Wirtshaus marschieren, wo ihm die dralle, brünette Bedienung wie jeden Abend sein Herrengedeck serviert.
Im Frühjahr wäre noch Zeit für eine Prügelei in der Schankstube, einen Ausritt oder eine kurze tierärztliche Untersuchung deiner kleinen, milchweiß glänzenden Füllenzähne gewesen. Aber leider ist es Herbst, und bei Sonnenuntergang musst du zu Hause sein.
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So lautete das Gebot deiner Eltern und ein solches, aus den luftigen Höhen der langbeinigen Alleswisser hinabgesandtes Gebot wurde nicht angezweifelt. Erst recht nicht von mir, die ich all meine Mitmenschen beim Wort nahm und fest überzeugt war, dass mich meine eifrig betriebene
Wortfuchserei zur Wahrheit führen würde. Wahrscheinlich konnte ich es deshalb nicht ertragen, wenn JasminCelineJustine sich mit einem
knappen „Ich muss auf’s Klo“ aus dem Spielzimmer verabschiedete, heimlich die Schuhe anzog und grußlos nach Hause verschwand, während ich Ewigkeiten auf dem Teppich saß und vergeblich ihre Rückkehr erwartete. Nachdem das wiederholt geschehen war, machte ich es mir zur Gewohnheit, die Geräusche, die sie beim Gang zum Klo machte, zu belauschen. Sobald mir daran etwas verdächtig vorkam,
schlich ich zur Treppe und spähte durch das Geländer nach unten.
Eines Tages war es dann soweit. Schon den ganzen Nachmittag hatte eine gewisse Missstimmung zwischen uns beiden geherrscht.
Halbherzig und lustlos waren verschiedene Spiele angefangen und abgebrochen worden, wobei ich einige ihrer Vorschläge rigoros abgelehnt hatte. Schließlich kam der Moment des vorgetäuschten Klogangs!
Meiner Vorahnung folgend näherte ich mich, geduckt wie ein Kater auf der Pirsch, dem Treppengeländer.
Da hockte sie! Die Verräterin! Klaubte ihr Schuhwerk aus dem bunten Haufen vor der Garderobe und begann, sich die Schnürsenkel zuzubinden.
In meinen Schläfen pumpte und pochte es, als hätte sich mein Herz durch die Halsschlagader bis in meinen Kopf gequetscht..
Drei, vier waghalsige Treppensprünge, und schon stand ich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor JasminCelineJustines zum Gehen verschnürten Füssen. Wütend, zornig, die Kieferknochen so hart, dass sich die Worte nur zischend durch Zähne und Lippen pressen ließen, fuhr ich sie an:
„Willste wieder abhauen?“
Keine Antwort. Stattdessen feindseliges Schweigen.
Mit geschlitzten Augen, die linke Oberlippenhälfte verächtlich Richtung Nase gezogen, spie ich ihr ein letztes „Feige Sau!“ ins Gesicht, bevor ich auf dem Absatz kehrtmachte und triumphierend zurück ins Spielzimmer marschierte. Mich würde keiner bescheißen, mich nicht!
Aber so vernarrt in „die Wahrheit“, dass ich unsere Freundschaft dieser Lügen wegen aufgegeben hätte, war ich dann doch nicht. Meine Wut und mein Ärger auf sie verwandelten sich, sobald sie das Haus verlassen hatte, schnell in Trauer und ich verbachte den Rest des Nachmittags voller
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Sehnsucht nach der Freundin, deren Verrat mich zwar fassungslos und verzweifelt machte, mir jedoch zugleich offenbarte, wie sehr ich an ihr hing. Kein Streit vermochte die merkwürdige, unerklärliche Anziehungskraft abzuschwächen, die wir aufeinander ausübten und die sich von
unseren Gegensätzen zu nähren schien. Wie zwei Hälften eines Klettverschlusses hafteten wir aneinander und zogen Hand in Hand
durchs Dorf, vorbei an ahnungslosen Nachbarn, die uns noch für Mädchen hielten, wo wir uns längst in Pferde, Hunde oder Fabelwesen verwandelt hatten.
Oder Kätzchen.
Sechs Kätzchen, ein ganzer Wurf, Fellknäuel um Fellknäuel an der Scheunenwand zerschmettert, nur das Siebte nicht.
Der Bauer macht das nicht zum ersten Mal. Er hat Übung. Das sieht man genau. Mein Blick folgt seiner schwieligen Pranke in den Katzenkorb. Dicke Finger zwicken ein Nackenfell, ziehen und zerren dran.In der Luft strampelt was. Jetzt holt er aus. Nicht weit, nur weit genug.
Der vom Misten, Ernten, Hieven und Halten gestählte Arm schleudert das maunzende Wurfgeschoss auf einer pfeilschnellen Geraden gegen die ziegel- und katzenblutrote Wand. Im Korb kneifen die Todgeweihten ihre klebrigen Äuglein zusammen, als könnten sie’s nicht mitansehen.
Die Angst ist blind und getigert, flauschig und kurzschwänzig, schwarz und weiß. Der Körper des ersten vierbeinigen Geschosses prallt von der Wandfläche zurück in den Raum, hüpft über den Betonboden wie ein flacher Kiesel über den Dorfweiher. Dann liegt er still.
Manchmal, wenn sich die Bauernstiefel aus schwarzem, abwaschbaren Gummi nicht sicher sind, wenn’s unterm Pelz verdächtig zuckt, dann fackelt der Absatz nicht lange. Ein einzelnes, wütendes Aufstampfen genügt. Das Schädelchen, dies überreife Früchtchen, knackt und platzt und quillt in die Rillen des Profils. Der Ablauf von Greifen, Werfen und Treten erfordert Konzentration. Mein Dazukommen bleibt unbemerkt. Ich warte auf den nächsten Wurf und während der Gestiefelte hingeht, nachsieht, nachtritt, greife ich zu und rette dich, wie einst die Pharaonentochter den Moses aus dem Körbchen. Natürlich kann ich dich, die du anderthalb Jahre älter, größer und schwerer bist als ich, nicht den ganzen Weg von Sulpach bis nach Hause tragen. „Katzen können von Geburt an laufen“, sagst
du und ich glaube dir.
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Wir machen uns auf den Heimweg. Du bist ein zutrauliches Katzentier und folgst mir bis ins obere Stockbett. Jetzt liegst du da, eng zusammengerollt, ein dichtes Paket aus Gliedern, den Kopf in meinen Schoß gebettet und willst gestreichelt werden. Meine Hände gleiten über Baumwolle und Jeans. Ich kann deine Muskeln, Gelenke und Rippen durch den Stoff fühlen.
Deine Beschaffenheit interessiert mich, ich mache meine Entdeckungen:
Jede weiche Stelle wird irgendwann hart. Man muss nur fest genug drücken. Dass nichts, was fleischig und flauschig ist so bleibt, weiß ich bereits und muss an die aufgebahrte Alte denken, die ich, an der Hand meiner weinenden Mutter, in ihrer gepolsterten Kiste liegen sah. Tot. Alles
Fleisch aufgebraucht. Unter der dünnen, gelblichen Haut schimmerte es knochenhart, als hätte man knittrige Seidentücher über ihr Skelett gebreitet. Die Gebeine drängen Jahr um Jahr weiter an die Oberfläche. Pausbacken verschwinden, Ellbögen werden spitz. Aus wachsen wird
erwachsen wird alt und schließlich, kurz bevor Rippen und scharfkantige Kiefer die letzte Hautschicht durchbrechen, stirbt man. Ja.
Aber du nicht. Du noch lange nicht. Inzwischen sind meine Hände auf deinem Gesicht angekommen, aus dem in regelmäßigen
Abständen Miau- und Schnurrlaute zu mir aufsteigen. Die Haut da ist ganz zart. Vorsichtig fahre ich die Konturen ab: Überall Rundungen. Zwei Wangenkugeln, die sich beim Lächeln wie Polster unter Augenschlitze schieben und Wimpern auffangen. Ein Nasenknubbel. Der Wulst, auf dem
deine Brauen liegen. Zum Haaransatz hin wird es feucht, ein bisschen schwitzig. Ich kann dich riechen. Es ist die vertraute Mischung aus kaltem Rauch und Schweiß, die eigentlich mehr stinkt als riecht.
Ich bin zu sehr bei der Sache. Die Sanftheit deiner nackten Kätzchenhaut entzündet ein Jucken in meinen Fingerspitzen. Vom Reiben und Wischen werde ich wund. Unsre Hautmäntel, streichelnd zerschlissen, liegen Fleisch auf Fleisch. Plötzlich, tief eingetunkt in deine Züge, von tausend Poren angesaugt, spüre ich, wie sich die Rillenlandschaften meiner Handflächen einebnen. Feingezeichnete Fingerlinien verschmelzen. Ich bin nicht länger identifizierbar anhand meiner Abdrücke. Und immer wieder dein fiepsiges Katzenstimmchen, dein süßes Miau, das durch mein Muschelohr in den Hals fließt und weiterströmt, abwärts die Seiten entlang, bis tief hinein in die
Hüfte. Ein Klang wie streifende Federkiele. Gerubbel und Getaste, das mich wie Feuer- und Katzenzungen, mal flammend, mal schokoladig-schmelzend ableckt, das ziept und zieht und mir ein unerträglich drängendes Pipi-Gefühl zwischen die Beine pflanzt. Sehnsucht nach einer Kante, einer Härte, überfällt mich. Auf der Suche nach Widerstand verspanne ich die Nackenmuskeln, beuge und biege Kopf und Schläfe zur Schulter, bis alle Sehnen zum Zerreißen straff sind. Mit Händen, die gern Fäuste wären, knete ich deine Bäckchen
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wie Teig, zwicke, grabsche, drücke und wünsche, ich könnte das verfluchte Weichmacher-Elixir aus deiner Haut pressen. Das Gemaunze wird lauter. Jetzt protestierst du. Hör auf dich zu wehren! Du bist mein Kätzchen! „Meins, meins, meins“, kreische ich und reiße an deinen Locken. Wo sind die Bauernstiefel, mit denen ich dich aus dem Bett treten und deiner Schmiegsamkeit ein Ende bereiten kann?
Runter auf den Teppich will ich dich stoßen. Will eine raue Zunge werden, die dich mit gieriger Sorgfalt von den Fasern schleckt. Es darf nichts übrig bleiben. Nicht das Geringste. Zuletzt gelingt es mir dann doch, die Hände unter den Hintern zu sperren, wo sie, unschädlich und platt gemacht, festsitzen. Die Hitze ist vorüber, der Hochofen wieder Hochbett. Beinahe
wären wir verschmolzen. Doch jetzt bist du du und ich ich. Kein Kätzchen, kein Schmelz und keine Bauernstiefel weit und breit. Nur ein paar rote Flecken auf deinen Wangen.
Rot ...
Eine Farbe, die meine Gedanken zu signalroten Punkten aufbrechen lässt, zu einem Rundlauf, dessen Kreislinie von deinen Wangen direkt zu den kardinalroten Tulpen auf meinen Kinderzeichnungen führt. Mein Vater, ein Mathematiker, kritzelte Gleichungen zur Berechnung von Durchschnittstemperatur und Wärmemenge auf den Rand einer Tulpenzeichnung und erklärte mir, dass die blutroten Blüten erst ab einer bestimmten „Wärmesumme“ wachsen …
Galt das auch für dich?
War vielleicht die Straßenlaterne, deren Licht des Nachts dein Bett bestrahlte, dafür verantwortlich, dass dein Körper früher reifte und dich neuerdings so oft zum Erröten brachte? Meine kneifenden Finger und unsere Kätzchenspiele waren jedenfalls längst Vergangenheit.
Hände, die Hitze in dein Gesicht trieben, gab es aber nach wie vor, und einer jener Nachmittage, an denen ich dich die Farbe wechseln sah, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ungeduldig von einem Bein auf’s andere tretend, sehe ich mich vor dem beigefarbenen
Mehrfamilienhaus stehen. Ich presse den quadratischen, schmutzigweißen Klingelknopf, drinnen schrillt es.
Ich werfe mich gegen die surrende Tür und nutze den Hausgang für ein paar letzte rauchfreie Atemzüge.
Es kostet mich Überwindung, mich selbst über die Schwelle zu schubsen und ins Brackwasser deiner Wohnung einzutauchen. Am liebsten würde ich die Luft anhalten, Mund, Nase und Augen fest verschließen, dich bei der Hand nehmen und ins Freie flüchten. Ich tue nichts von alledem.
Stattdessen lasse ich mich hereinwinken und taste mich durch den Schattensumpf des fensterlosen Vorraums bis ins Wohnzimmer. Zwielichtige, im Morast des Halbdunkels versunkene Gegenstände schielen mir nach. Ich halte mich kerzengerade. Nur keine Furcht
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zeigen! Überall lauert und kauert was. Böswilliges verschleiert sich blau. Hinter der angelehnten Schlafzimmertür schnarcht es bedrohlich.
Ich bin dir nachgefolgt. Schnurstracks auf das bunte Irrlicht zu.
Dein Bruder, halb versunken in den ockerfarbenen Sofamassen, zielt mit der Fernbedienung auf den Bildschirm. Ich erkenne den Hinterhalt und bleibe stehen, meide die plüschigen Sitzflächen.
Ich verstehe nicht die Zutraulichkeit, mit der du dich den Polstern näherst, die sich, kaum, dass du dich gesetzt hast, an dir festsaugen. Misstrauisch schiebe ich ein winziges Stück Pobacke auf den Rand einer Lehne. Die plüschigen Couch-Tentakel jagen mir kleine Gänsehautschauer über
Rücken und Unterarme. Auf der Suche nach Ablenkung wende ich mein Gesicht der Glotze zu: Geheimnisvolle Schriftzeichen, ich lese den Namen „Paula Abdul“ und darunter „opposites attract“.
„Abdul“ ... das klingt nach Tausendundeine Nacht. Fliegende Teppiche, darauf Scheherazade, Sindbad, Aladin und König Salomon mit Alibaba und vierzig, nach Gold, Weihrauch und Myrrhe duftenden Räubern sausen an meinem inneren Auge vorüber. Bevor ich ihnen nachwinken kann,
wechselt das Fernsehbild. Eine dunkelhaarige junge Frau mit leuchtendroten Lippen taucht auf. Sie singt, lächelt und zwinkert keck in die Kamera. Wann immer sie den Kopf auch nur eine Winzigkeit zur Seite neigt,
streifen riesige, funkelnde Ohrringe ihre nackten Schultern.
Offenbar animiert meine Anwesenheit deinen Bruder zum Sprechen. Er stellt die übliche Frage nach der Schule. Ich kann seine Stimme nicht ausstehen und antworte, ohne den Blick vom TV abzuwenden.
Die Sängerin mit den gigantischen Ohrhängern hat inzwischen Gesellschaft bekommen. Ein brauner Zeichentrickkater macht ihr singend und tanzend den Hof. Ein langer Bruderarm schießt aus dem Plüsch. Für Sekunden schwebt die Fernbedienung über ungekämmten Locken, dann klopft das harte Plastik rhythmisch gegen deine Stirn. Dass ich keine
schulischen Probleme hätte, sei ja klar ... „Aber die hier“, sagt er und klopft weiter, „die ist ne hohle Nuss!“
Paula trägt jetzt ein kurzes, trägerloses Kleid. Der Kater berührt ihre Schulter mit dem Zeigefinger und verbrennt sich dabei. Sein rot angeschwollener Finger pulsiert im Takt. Der Kater pustet panisch.
Die Bruderstimme fragt mich, ob ich wisse, dass du die Klasse wiederholen musst. Mit erstaunten Augenbrauen wende ich mich um. Nein, das wusste ich nicht. Vor der Backsteinmauer eines Hinterhofs stehen zwei ausgebaute Autositze. Der Kater wirft Paula, die ihr Kleid gegen eine glänzende Lederjacke und hautenge Jeans getauscht hat, auf die
Sitze und hält ihre Arme fest. Sein Gesicht kommt ihrem ganz nah.
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Du sitzt still, den Blick starr auf den überquellenden Aschenbecher gerichtet. „Ja ..., jetzt kriegt sie die Gosch nicht auf ...“ Michael, Daniel, Raffael oder wie auch immer dein Bruder heißen mag, zieht ärgerlich die Brauen zusammen. Er steckt sich eine Zigarette unter das dünne
Oberlippenbärtchen und verlangt nach Feuer. Inzwischen stößt ein silberner Ghettoblaster gelbe, blaue und pinkfarbene Noten aus. Das
ungleiche Paar tanzt zwischen Fabrikschornsteinen. Der Katzenschwanz fährt unter den Saum des Minikleids und lässt es hochfliegen ...
MichaelDanielRaffael rutscht in deine Sofahälfte und legt den Arm um dich. Er parkt die Zigarette im Aschenbecher, zwinkert mir zu und zieht am Ausschnitt deines T-Shirts. Gierig schielt er in den Kragen. „So ... hier wächst ja schon was“, lacht er und zwickt dir in die Brustwarzen.
Der Katzenschwanz schlängelt auf Paulas Dekolleté zu. Sie bemerkt es und bestraft den Vorstoß mit einem zurückweisenden Klapps.
Du bestrafst niemanden. Rührst dich kaum. „Immerhin zwei gute Eigenschaften, he?“, grölt der Bruder, während seine Hände weitergrabschen und deine Wangen sich krebsrot färben.
Mir wird schlecht. Mein Körper protestiert gegen das flache Atmen in dieser Luft, die zähflüssig zu werden scheint. Das Brudergeschwätz überzieht den Raum mit öligen Schmierspuren. Ich muss an Tankerunglück und verendende Seevögel denken, die in schwarzer Schlacke strampeln.
Sexy Paula und ihr sonnenbebrillter Katerfreund haben längst das Weite gesucht. Mir reicht’s. Ich springe auf, ziehe dich aus dem Ocker und scheuche dich durch die Zimmer ins Freie. Später werde ich die Nase über meinem T-Shirt rümpfen und hoffen, dass die Mischung aus Scham und
Rauch, die von meinen Schultern aufsteigt, beim Waschen rausgeht.