Inger-Maria Mahlke

Geboren 1977 in Hamburg, in Lübeck aufgewachsen, lebt in Berlin. Studium der Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin, Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien.

Inger-Maria Mahlke wurde vom Juryvorsitzenden Burkhard Spinnen für die TDDL 2012 vorgeschlagen.

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© Inger-Maria Mahlke
vorgetragen bei den 36.Tagen der deutschsprachigen Literatur

Die Decke knistert, winzige Funken in den blauen Falten, du legst sie zusammen, Saum auf Saum. Faltest sie zu einem Rechteck, so lang wie dein Körper in Seitenlage, Knie an die Brust gezogen, ein Kissen auf dem Gesicht. Von den Nähten her haben sich die hellen Flecken ausgebreitet, das Kunstleder hat sich in Placken abgelöst, dort, wo die Sofalehne in die Sitzfläche übergeht. Wattiges Fließ kommt hervor, Krümel verfangen sich darin. Bedeckst sie mit dem Rechteck, streichst mit beiden Händen die Haare nach hinten, hattest sie noch waschen wollen, bindest sie zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Lucas ist weg, siehst in den Flur, seine Tür steht offen, ziehst sie immer zu, wenn er nicht da ist. Lucas ist ordentlich.
Er räumt auf, jeden Abend, bevor er sich schlafen legt. Ist zu den Gemüsehändlern gegangen, hat nach Obstkisten gefragt, die Kisten unter den Armen nach Hause getragen, seine Schenkel weiß zerschrammt. Hat „Die ???“ gehört, immer wieder die gleiche CD, der Player auf Repeat, hat sein Spielzeug sortiert, langsam und sorgfältig. Eine Kiste für Autos, eine fürs Playmobil, für die Legosteine, für Flugzeuge und Hubschrauber, mit Filzstift hat er sie beschriftet, die für die kleinteiligen Sachen vorher mit Plastiktüten ausgelegt, damit nichts herausfällt. Die Wäsche stopft er unzusammengelegt in die Kommode, aber die Hosen zu den Hosen, die Pullover zu den Pullovern, jede Socke hat ein Gegenstück, er weigert sich, mit unterschiedlichen in die Schule zu gehen. Seine Arbeitsblätter stapelt er auf dem Schreibtisch nach Fächern geordnet. Du gehst nur in das Zimmer, um morgens den Schlafgeruch auszulüften, freust dich über jedes benutzte Wasserglas, jedes zusammengeknüllte Taschentuch auf dem Boden. Er vergisst nie etwas. Weder den Elternabend noch das Weihnachtsbasteln, heftet die Einladungen mit Tesafilm an die Wand über seinem Bett, bringt sie dir am jeweiligen Tag, wenn du nicht hingehst, wird er schweigsam.
Irgendwann bist du morgens am Fenster stehen geblieben, weiß und neblig war es draußen. Hast die Kisten aus dem Regal gezogen, „Was hast Du gemacht, Mama?“ hat er gerufen, als er aus der Schule kam. Hast sie umgedreht. Zufrieden den harten Tönen gelauscht, mit denen die Legosteine, die Körperteile der Plastikmonster, „Bei-jon-nickels“, sagt er, bemüht jeden einzelnen Vokal richtig zu erwischen, das Playmobil auf den Fußboden prasselten. Die Autos schepperten blechern, die Großen klangen dumpf. Bist mit den Füßen durch das Spielzeug geschlurft, wie früher als Kind durch Herbstlaub, hast die Haufen ineinander gezogen, miteinander vermischt, zum Schluss eine Schicht Bilderbücher darauf verteilt.

Gehst in die Küche, hebst den Stuhl auf, stellst ihn wieder hin, hast ihn umfallen hören, ohne zu atmen gewartet, ob Lucas weint oder schlimmer, still ist. Der Kaffee ist alle, findest ein Tütchen Cappuccinopulver, stellst den Wasserkocher an.
Früher hast du hinten gearbeitet. Hast am liebsten hinten gearbeitet, gut versteckt von der Wand aus Plexiglaskästen. Dort riecht man dich nicht, haben die anderen gesagt. Dort roch alles weich und süß, mochtest die Wärme, hast die Öfen bestückt, achtgegeben auf die grünen Ziffern in den Displays, sie haben rückwärts gezählt, bis nur noch Nullen übrig waren, die anfingen zu blinken. Dann musstest du schnell sein, Hände in die Handschuhe, Klappe auf, Fettbläschen zerplatzten auf den gebräunten Croissants, Laugenbrötchen, Apfeltaschen, sie sind zusammengesunken, ein wenig nur, hast sie mit beiden Händen waagerecht gehalten, in die Schienen des Abkühlregals geschoben. Eine neue Bahn Backpapier mit bleichen, eiskristallbesetzten Teiginseln auf ein Blech gezogen, die Zeiten wusstest du auswendig. Wusstest, wie lange welches Gebäck braucht, um auszukühlen, wie du die Bleche halten musstest, damit beim Schütten in die Kästen nichts runterfiel. Bist immer schneller geworden, hast geschwitzt, deinen Körper zu allen Seiten gleichzeitig gereckt, immer rechtzeitig, immer in Bewegung.
Die anderen wollten nicht nach hinten, hatten Angst um ihr Make-up, vor Dampf, Schweiß, aufgequollenen Händen, geröteter Haut. Wenn du Frühschicht hattest, hast du beim Aufbauen geholfen, die gespülten Gebäckzangen an die Ketten neben den Kästen gehängt. Die Tabletts, die Papiersets in die Displays gestapelt. Die Kühlregale kontrolliert, die Haltbarkeitsdaten, hast an den Joghurts mit Früchten vom Vortag gerochen, bis die ersten Kunden kamen.
Reyhan hatte vorne gearbeitet, war rauchen gegangen, als der Regen nachließ, „Mach die Kasse“, hat sie gerufen, und die Tür hinter sich zugezogen.
Die Hocker vor dem Schaufenster waren alle besetzt, sie saßen mit den Rücken zu dir, auf den Schultern dunkle, feuchte Streifen, Tropfen liefen aus ihren Haaren. Eine der Frauen hat sich den Hals abgetupft, mit einer Serviette, das dünne Papier ist gerissen, sie hat nach den Fetzen getastet, sie in hellen Würsten von der Haut gerieben. Die Scheiben waren beschlagen, dahinter bunte Flecke, ohne Umrisse, Linien, Grenzen, nur Farben, die vorbeieilten.
Als die Frau zur Kasse kam, klebten noch immer helle Dreiecke an ihrem Hals, direkt unter der kinnlangen, blonden Haarkante.
„Da hängt noch Papier“, hast du gesagt, die Warennummer eingetippt.
„Hallo Manuela.“ Ihren Nacken hat sie abgetastet, „siehst besser aus, als letztes Mal.“
Hanne heißt sie, hattest sie nicht erkannt, hast die Münzen genommen, die sie dir hinhielt. „Ich arbeite hier“, gesagt.
„Was macht der Kleine?“
Hast das Wechselgeld abgezählt, ihr habt früher zusammen in der Pflege gearbeitet, sie war eine der Älteren, Geologin eigentlich, hatte sie immer betont. „Gut“, einundsiebzig Cent bekam sie zurück, „und Du?“
„Ich wische immer noch Ärsche“, Hanne hat gelächelt, „nicht für fünf Euro die Stunde und dankbar musst du auch noch sein.“ Hat auf ihre Oberlippe gedeutet, „Ich bin öfter hier, Haarentfernung, nebenan.“
Abends warst du meist die Letzte, geht ruhig, hast du zu den anderen gesagt, das Licht im Verkaufsraum war bereits ausgeschaltet. Hast die Bleche in den Spüler gestellt, die Kästen ausgewischt, still war es, nur das gleichmäßige Brummen der Maschine. Hast den weißen Schaum in jeden Winkel der Öfen gesprüht, den Boden gefegt, während er einwirkte, hellbraune Kronen bekam. Den schnellen Kreisen zugesehen, mit denen Hand und Schwamm eingebranntes Fett lösten, Tropfen liefen aus deinen Achseln, kitzelten über die Rippenbögen, versickerten im Stoff des T-Shirts.
Bevor du heimgegangen bist, hast du dich auf die Stufe vor der Ladentür gesetzt, eine geraucht, das heruntergelassene Gitter im Rücken, unter deiner Jacke kühlte der Schweiß aus. Hast die Arme gehoben, um sie gleich wieder fallen zu lassen, ein Schwall Luft stieg aus dem Jackenkragen auf, der roch wie deine Mutter.
Hast dir die Achselhöhlen mit dem Waschlappen ausgerieben als Lucas klein war, hast gerieben, gerochen, mehr Seife, mehr Wasser, der Fußboden vor dem Waschbecken, deine Socken nass, hast gerieben bis die Haut rot war. Hast dich abgetrocknet, die Arme über dem Kopf verschränkt, die Achselhöhlen brannten, sobald du sie runternahmst. Hast auch nie Kinder mit nach Hause gebracht.
„Wir sehen uns“, hat Hanne zum Abschied gesagt.

Das saubere Geschirr liegt hoch gestapelt auf dem Abtropfgitter, du räumst es in den Schrank, den richtigen, alles braucht seinen Ort. Hast gewartet, gestern Nacht, bist du sicher warst, dass Lucas schläft, den Hahn nur halb aufgedreht, die Tellerstapel, Gläsertürme abgebaut, acht gegeben, das sie nicht aneinanderstießen. Schüttest das Cappuccinopulver in die Tasse, gießt kochendes Wasser drüber, Klumpen kreiseln zwischen hellem Schaum auf der Oberfläche, brechen auf, braunes Pulver kommt hervor. Die Cornflakespackung steht auf dem Küchentisch, Milch ist alle, schiebst die Hand in die Cellophantüte, hast Lucas oft dabei zugesehen. Er isst erst die, die zwischen den Fingern hervorsehen, dann Stück für Stück das Häuflein von der Handfläche, zuletzt sammelt er die klebengebliebenen mit den Lippen ab.
Hattest einen Stein im Bauch, hellgrau und flach und gleichmäßig abgerundet. So schwer, dass dein Magen durchhing, dich nach unten zog, als du den Schritt von der Bahnsteigkante in den U-Bahnwagen gemacht hast. „Schau es dir einfach an“, hatte Hanne gesagt. Du hast nach einer der grauen Gummischlaufen gegriffen, deine Hand hineingeschoben, dich gegen den Stein gestemmt.
Der Aufenthaltsraum war eingerichtet wie die Umkleidekabine eines Fitnessstudios, eines teuren, mit Spa im Namen. Weiße Reihen abschließbarer Schränke, schwarze, kunstlederbezogene Bänke. An einer Wand standen Sessel, ein Glastisch mit Aschenbecher, auf dem Bord neben der Tür Pappspender mit Kosmetiktüchern, „Hygienehandschuhe“ stand grün auf einer Packung, Talkumpuder.
„Ich will nicht, dass sie mich ansehen“, hast du gesagt.
Bevor du los bist, hast du auf dem Sofa gelegen, nicht gewusst, wie du dich vorbereiten sollst, hast schließlich deine Beine rasiert, den Schaum betrachtet, der mit dunklen Haaren durchsetzt von deinem Knöchel zum Ausguss lief. Ich will nichts tun, wofür ich mich rasieren muss, hast du gedacht, weiter hautfarbene Streifen ins Weiße gezogen.
Hast lange gebraucht, um den Anzug über die Oberschenkel zu kriegen. „Sie sehen dich nicht an“, Hanne hat auf der Bank gesessen und auf dich gewartet, „für die bist du was anderes.“ Von innen war er wie Stoff, außen aus schwarzem, glänzendem Gummi, an einen Taucheranzug musstest du denken. Die Falten haben aneinander geklebt, geknirscht, wenn du gezerrt hast. Die Maske hatte einen Reißverschluss am Hinterkopf, den hat Hanne geschlossen, achtgebend, dass deine Haare nicht in den Zähnen hängenblieben. Die Maske hatte vier Löcher, zwei für die Augen, ein größeres für den Mund und eines hinten, durch das sie deinen Pferdeschwanz gezogen hat.
Bist als Vampir zum Fasching gegangen, als Prinzessin natürlich, hattest ein Laken über dem Kopf und warst Gespenst. Im Jahr darauf hatte dein Vater Wattebäusche auf das Laken geklebt, eine Schneeflocke, sieht man doch. warst beleidigt, wenn sie fragten.
Hast dich im Spiegel betrachtet, sahst aus, als würdest du in den Krieg ziehen, ein gefährliches Tier mit Schweif.
Der Raum war kleiner als Lucas‘ Zimmer, ohne Fenster, die Wände gepolstert, mit dunklem Kunstleder überzogen, schalldicht, wie Hanne dir später erklärt hat. Bist im Türrahmen stehen geblieben, warm war es, als wärst du hinten bei den Öfen, nach Desinfektionsmittel hat es gerochen und nach Zitrone. Der Boden sah aus, als wäre er aus Gummi, dunkelgrau und abwaschbar.
Es waren zwei, sie haben nebeneinander gekniet, die Oberkörper nach vorn gebeugt, Stirn Richtung Boden. Hattest Angst vor ihnen, vor den kleinen Höckerketten ihrer Wirbelsäulen unter der hellen Haut, den gestauten Falten in ihren Nacken, den akkurat geschnittenen Haarkanten darüber. Weich sahen sie aus, riesige neugeborene Tierjunge, die auf Zitzen warteten.
Bist bei der Tür stehen geblieben. Einer der Männer ist auf Hanne zu, im Vollbart des anderen, steckte ein Ball. Pinkfarben und aus Plastik, zwischen kreisrund gespannten Lippen, mit Lederriemen am Hinterkopf verschnallt. Am Kunstleder der Wände sammelte sich Feuchtigkeit, seine Oberschenkel fingen an zu zittern, ein silbriger Streifen winziger Tropfen auf Höhe deiner Schultern.
Da erst hast du gemerkt, dass die Decke verspiegelt war, hast einen Moment gebraucht, um dich zu finden. Groß sahst du aus, standest breitbeinig da, mit verschränkten Armen vor der Tür, wie ein Wächter. Dein Schweif hat gewippt, wenn du den Kopf gedreht hast. Schwarz und glänzend, wie eines von Lucas‘ Plastikmonstern.
Hanne hat den Bärtigen gerufen, hast tief Luft eingesogen, den gärenden Obstgeruch schweißfeuchten Leders, der andere kam zurück. Zitrone und Desinfektionsmittel überlagert vom Gleitcremeparfum, von Urin-Ammoniak, schalem erwärmten Latex. Ist immer weiter gekrochen, hat nicht angehalten, nicht den Oberkörper nach vorn gebeugt. Tropfen liefen aus dem silbrigen Streifen hinab. Ist auf dich zu, wolltest ihn wegschieben, deine Hand auf seinen Kopf legen und ihn wegschieben, seine Haare schweißnass. Mochtest sie nicht anfassen, hast die Hand wieder runtergenommen, die Fingerspitzen in deine Achseln geschoben.
An dein Bein hat er sich gedrängt, wolltest es wegziehen, vor seiner Haut, seiner Körperwärme. Hast nur den Druck gefühlt, keine Feuchtigkeit, sanft und vorsichtig auf deinem Oberschenkel, als hätte er Angst, du würdest nach ihm treten. Seine Wange oberhalb deines Knies, seine Arme um deine Wade geschlungen.
Eine Weile standet ihr so bei der Tür, schließlich hat Hanne in eine Ecke gedeutet, glänzende Schweißschlieren blieben auf dem Anzug zurück. Du bist ihm gefolgt, in der Ecke stand ein Stepper, kanntest ihn aus dem Teleshoppingkanal, Po und Oberschenkel. Ein Jutebeutel hat an dem Gerät gelehnt, gefüllt mit Kieseln, er hat ihn aufgehoben, die Steine in die schuhförmigen Trittflächen geschüttet. Zwei sind danebengefallen, über den Gummibelag gesprungen, hast sie aufgesammelt, die scharfen Kanten befühlt, ehe du sie zu den anderen gelegt hast. Wenn er den Stepper hinabgetreten hat, ertönte ein schleifendes Geräusch, nicht unangenehm, es klang eher wie ein Keuchen.
„Ihr versteht euch ja ganz gut“, hat Hanne gesagt. Deine Ohren haben geschmerzt, vom Leder der Maske fest an deinen Kopf gepresst.
Auf dem Weg zum U-Bahn-Ausgang hast du gemerkt, du lächeltest. Die Treppe war voller Menschen, sie kamen dir entgegen, ein Wall sich eilig beugender Knie. Hast ihnen ins Gesicht gesehen, als wäre dein Körper, Hals, Schultern, Brustbein, plötzlich aus einem anderen Material, dicht genug, um ihren Blicken standzuhalten. Um sie vor dir herzuschieben wie eine Bugwelle, durch sie hindurchzupflügen.

Du löst die Cornflakes mit den Schneidezähnen, sammelst sie mit den Lippen ab, deine Handfläche schmeckt metallisch, weißt nicht, wann du sie das letzte Mal gewaschen hast. Die Cornflakes kleben auf deiner Zunge, am Gaumen, lässt Wasser in ein Glas laufen, spülst deinen Mund aus.
Hattest eingekauft, den Tisch gedeckt, die Plastikfolien von den Verpackungen, Salami, Schinken, Käse gezogen, Milch in sein Glas gegossen. Lucas hat erst die Handflächen, dann die Fußsohlen von innen gegen den Türrahmen gestemmt, sich hochgeschoben, Stück für Stück, bis zum Querbalken, und hat nichts gesagt. Hast dich schließlich hingesetzt.
„Ich war im Backshop“, seine Hände haben gequietscht, als er am Rahmen runtergerutscht ist, „du warst nicht bei der Arbeit.“
„Ich bin wieder in der Pflege“, hast das Butterpaket geöffnet, vorsichtig, damit das Papier nicht reißt.
„Wo?“ Neben seinem Stuhl ist er stehen geblieben, hat den Teller von sich weggeschoben.
„Schmerzpatienten“, du hast ein Brötchen genommen, es aufgeschnitten, „wird besser bezahlt.“
„Wenn Du zu viel verdienst, kriegen wir Ärger vom Amt.“
„Wir sind abgemeldet“, hast du gesagt, ihm die Brötchenhälften hingehalten.
Das Paket hast du auf seinen Schreibtisch gestellt, rosa Luftballons auf dem Papier, blau war aus, die Verkäuferin hat sich entschuldigt, während sie die Schleife band. Am nächsten Morgen lag das Papier im Mülleimer, der Karton blieb ungeöffnet, vier Tage lang, bist nachsehen gegangen, wenn er in der Schule war.

Wischt den vom Speichel verflüssigten Zucker an der Hose ab, bist sicher, dass Lucas nichts vergessen hat, nicht eilig zurückkommt, um seinen Sportbeutel zu holen. Musst nur noch das Cappuccinotütchen zerknüllen und in den Müll werfen, in den fast leeren Eimer, den Rest hast du gestern Nacht runtergebracht. Spülst die Tasse, stellst sie neben das Wasserglas aufs Abtropfgitter.
Am Anfang hast du alles falsch gemacht. Bist wütend geworden, hast geschrien, gezittert, der Rand der Augenlöcher hat Tränen gestaut. Sie liefen über das Leder, hast sie erst wieder gefühlt, wenn sie salzig deinen Mund erreichten. Der Rest hat sich unter den Rändern gesammelt, auf den Wangenknochen verteilt. Ist ausgekühlt, wenn du das Gesicht so stark verzogen hast, dass sich die Maske von der Haut löste. Kalt und hart, hat Hanne dir erklärt, darfst gern laut werden, aber kontrolliert.
Er ist dein Fester geworden. Er hatte keinen Namen, du gabst ihm viele. Mochtest ihn erst nicht anfassen, hast dich geschüttelt, sobald du die feinen blonden Haare auf der bloßen Handfläche gespürt hast, wenn du sie versuchsweise den Cellulitedellen, den roten, entzündeten Punkten nähertest. „Mach was draus“, hat Hanne gesagt, als du es ihr erzählt hast, „nen Fetisch oder ne Belohnung oder so. Nimm Handschuhe“, hat sie hinzugesetzt.
Auf dem Weg nach draußen hast du an der Rezeption deinen Umschlag abgeholt, weiß und ohne Sichtfenster, ihn ungeöffnet in die Jackentasche gesteckt. Bist vorbeigegangen an dem Messingschild einer Anwaltskanzlei, dem Milchglas einer Hautarztpraxis, fühltest dich erleichtert, wie als Kind nach dem Impfen.
Er tat dir leid. Hast deine Handschuhhand in die Haare über seiner Stirn geschoben, sie standen in vier braunen Strichen zwischen deinen Fingern hervor, hast die Finger zusammengeballt, hast gezogen. Wolltest die Haare zurückstreichen, sie gehörten nach hinten, in langen Strähnen über die Stelle an seinem Hinterkopf gekämmt, hättest nur die Hand ausstrecken müssen, um sie zu berühren, hättest deine Gummifinger hineinbohren sollen, ihn hässlich nennen. Aber du wolltest die Haare zurückstreichen, die Haut verdecken.
Wolltest ihn wiegen. Ihn messen, eine Liste anlegen, den dreieckigen Narbenwulst neben seinem rechten Hüftknochen vermerken, die grauen Haare auf seiner Brust.
Wenn die Zeit um war, sein Körper erschöpft, gerötet, klein gemacht, so dass er dir hockend nicht einmal zu den Knien reichte, bist du gegangen. Wolltest seinen Kopf an deine Brust, dein Maskenkinn auf seine Haare legen, die Arme um seinen Oberkörper schlingen, sachte mit ihm vor und zurückschaukeln. Hast dich umgedreht, die Tür hinter dir geschlossen, beim ersten Mal hast du gezögert, überlegt, ob du „Tschüss“ sagen sollst. Bist verschwunden, in den Umkleideraum, in deine Jeans, Pullover, Turnschuhe. Warst das schwarz glänzende Wesen, das in fensterlos gedämmter Wärme haust, das Schmerztier, das nur in seinem Kopf lebt und manchmal in der Kammer. Du warst zufrieden.
Bist am Backshop vorbeigegangen, hast nicht die Straßenseite gewechselt, Luftschlangen hingen im Schaufenster. Sie haben einen Brief geschickt, fristlos gekündigt. Reyhan hat an der Kasse gesessen, neben den Kästen stand ein Tisch, für die Pfannkuchen, nach Füllungen sortiert. Extraschichten. Es war Fasching.

Du gehst ins Wohnzimmer, legst dich flach auf den Boden, rutscht auf dem Bauch unter das Sofa, hast die Tasche mit dem Fuß dorthin geschoben. Hast dich in verschiedene Ecken des Zimmers gekniet, den Oberkörper aufgerichtet, bis du meintest, so groß wie Lucas zu sein, hast überprüft, ob sie zu sehen ist. Schiebst die Zehen unter den Henkel, ziehst sie hervor. Obenauf liegt dein Anzug, 200 Euro wollte Hanne für ihn haben, darunter die Maske, Stiefel, deine Bürste, zwei Haargummis um den Stiel gewickelt, der Fettstift für die Reißverschlüsse, die Feuchtigkeit macht das Metall der Zähne rau. In der Seitentasche weiße Umschläge.
Hattest lange im Flur gesessen, Rücken an die Wand gelehnt, Beine im Schneidersitz. Vor dir auf den Dielen stand das Telefon, hast den Hörer abgenommen, dem Freizeichen zugehört. Wieder aufgelegt. Hanne hatte angerufen, „Brauchst heute nicht kommen“, hatte sie gesagt. An der Decke schwangen staubummantelte Spinnweben in der Heizungsluft. „Ich sag Bescheid, wenn ich einen Neuen für dich habe.“
Jetzt wolltest du ihm wehtun. Nicht kalt und kontrolliert, wolltest schreien und zittern, auf seinen Händen stampfen, an seinen Haaren reißen, bis die Stelle faustgroß war, seine Oberschenkel weich und gummiartig unter deinen Hacken. Zu spät.
Bist zum Sofa gelaufen, als du Lucas‘ Schlüssel im Schloss gehört hast, die Knie an die Brust gezogen, Kissen auf dein Gesicht. Nicht atmen, hast gewartet, bis er in die Küche ging.
Die Augen geschlossen, stehst vor seiner Tür, schwarz und glänzend. Gehst vorbei an seiner Frau, seinen gymnasialen Kindern, bist sicher, dass er welche hat. Packst seine Krawatte, drückst ihn hinab, bis er kniet.
Die Beine eines Küchenstuhls sind über die Dielen geschrammt, Lucas hat etwas in die Spüle gestellt, kurz das Wasser aufgedreht.
Auf dem Weg ins Bad ist er an der offenen Wohnzimmertür stehen geblieben. Hast seine Schritte gehört, er kam näher, hast dich erschreckt, als die Decke sich weich auf dich legte. Hoffst, dass er dein Zucken nicht bemerkt hat.

Holst zwei Pullover, ein paar Sockenballen, Unterwäsche, Jeans. Deine Zahnbürste aus dem Bad, umwickelst die Borsten mit Klopapier, eine Handvoll Tampons, Creme, die Zahnpasta lässt du auf dem Waschbeckenrand. Sammelst alles auf dem Sofa. Lucas‘ Tür steht offen, auf seinem Schreibtisch liegt eine Zeitung, er hat sie als Unterlage benutzt, irgendetwas Viereckiges grün angemalt. Betrachtest die ordentliche Reihe Legos auf der Fensterbank, zu kleinen Fahrzeugen zusammengebaut, viele nur halbfertig, die meisten haben Flügel. Nimmst eins in die Hand, könntest es einpacken, ein gelber Stein fällt ab, versuchst ihn wieder anzubauen, durch den Druck löst sich der nächste. Tust es wieder zu den anderen, siehst dich um, willst nichts nehmen, was er gern hat, willst nicht, dass er traurig wird.
Verstaust die Sachen in der Tasche, Anzug, Stiefel, Maske schiebst du wieder unter das Sofa, matte Lichtreflexe auf dem Latex.
Öffnest die Umschläge, die meisten sind zugeklebt, teilst die Scheine auf, als würdest du Karten geben, legst sie abwechselnd auf einen von zwei Haufen. Ein Fünfziger bleibt übrig, stehst eine Weile da, hältst ihn in der Hand, schließlich tust du ihn auf Lucas‘ Stapel. Den anderen verteilst du, ein paar Scheine in jede Hosentasche, in dein Portemonnaie, den Rest steckst du in die Seitentasche. Knüllst die leeren Umschläge zusammen, wirfst sie in den Eimer. Deinen Wohnungsschlüssel legst du zu den Geldscheinen auf den Küchentisch.