Hugo Ramnek, Zürich (A + CH)

Geboren 1960 in Klagenfurt. Seit 1989 lebt Hugo Ramnek als Schriftsteller, Gymnasiallehrer, Schauspieler und Theaterpädagoge in Zürich.

Hugo Ramnek wurde von Hildegard Elisabeth Keller vorgeschlagen.

DOWNLOAD TEXT: PDF

Hugo Ramnek: Kettenkarussell
vorgetragen bei den 36.Tagen der deutschsprachigen Literatur
© Hugo Ramnek

Der erste Wagen ist auf der Wiese! Seit der kleine Albino ihm die Worte zugerufen hat, gibt die Kellerechse keine Ruhe mehr. Ein Fort wächst heran außerhalb des Mäuerchens, das einst Stadtwall war. Er will nur mehr eines: hinaus und auf die Wiese, wo sich Marktstände und Festzelte und Spaßbahnen ausbreiten, wo Lastwagen und Traktoren, Fahrende und Tagelöhner, Wirte und Vereine mit Zelten und Buden und der allgegenwärtige Marktmeister einen Traum aus Kulissen aufbauen, nüchtern und ohne Hast. Wie vor einem Wunder stehen die Kleinstädter
und staunen, was tagsüber und doch wie über Nacht hinzugekommen ist.
Drei Tage vor Festbeginn rollt die Tierschau an. Die Echse fiebert. Das halbe Städtchen schaut zu, wie die Wiesenstadt ihr Urwaldreservat bekommt. Auch vom Dorf, auf der anderen Seite der Wiese, strömen Menschen herbei. Auf dem Weg zur Tierschau begegnet er der Mutter des Albinos. Während sie sein Zimmer macht, singt sie slowenische Lieder. Das Kellertier hinterlässt nachts Spuren. Hat die Aufräumerin etwas gesehen? Die Eltern dürfen nichts ahnen von der Echse im Haus. Er grüßt und wird rot. Zwei Mädchen aus seiner Klasse stehen kichernd bei einem
Wärter, eine Schlange windet sich um den Arm mit dem eintätowierten Bikinigirl. Er ruft ihnen zu, für sie ist er Luft. Die Wildnis ist im Käfig und schläfrig. Neben ihm taucht der Albino auf und raunt ihm die Worte zu, welche der Ausrufer während der Festtage durch das Megaphon plärren wird: Das älteste Krokodil der Welt. Auf der anderen Seite steht ein Mädchen aus dem Dorf. Er kennt sie vom Sehen. Durch die Gitter schaut sie ihn an und lächelt. Ihr rechter Vorderzahn ist schief über den linken
geschoben, nur ein wenig. Die Kellerechse zittert. Er lächelt. Die Kellerechse züngelt. Er bleibt stumm, schaut weg. Inmitten der Wildtierdünste streift ihn ein seltsam vertrauter Geruch, und bevor er herausfinden kann, wo der herkommt, wird er ruppig zur Seite geschoben, ein Arbeiter führt ein filziges Dromedar mit schlaffem Höcker vorbei, gefolgt von einem Haufen kreischender Kinder. Sie ist fort, vor ihm das Krokodil. Es liegt da in seiner langen, feistschlangigen Schuppigkeit und regt sich nicht. Keiner der Wiesengänger hat je gesehen, dass es sich rührte. Versteinert liegt es im Käfig und hat sogar den Tod überlebt.

Wiesenmarktsamstag
Am Samstag ist das Feuerwerk. Alle stehen dicht gedrängt in der Allee, dem Grenzstreifen zwischen Städtchen und Wiesenstadt. Er ist allein hingegangen; sein bester Freund hat seit Kurzem eine Freundin.
Wie die erste Rakete am Himmel explodiert, lehnt das Mädchen vor ihm den Kopf an seine Brust. Stets von Neuem schießen Granaten in die Höhe, zerplatzen in der Luft mit scharfem Knallen und schweben als Allfarbenfall hernieder. Sie senkt ihren Hinterkopf auf seine Brust, schaut in das bunte Schwirren über ihr und hebt ihn wieder, sobald die Erleuchtung vorbei ist. Auch er lehnt sich an jemanden hinter ihm, ganz leicht nur, er spürt den männlichen Körper deutlich undeutlich, er wittert den Geruch. Während ein Blindgänger kläglich im Nachthimmel verzischt, kriegt er einen Schlag
von hinten gegen die Kniekehle und knickt fast ein. Neben ihm steht der Albinobub. Schon pfeifen neue Raketen in die Höhe und zersprengen sich elegant und rottönend. Die Haare des Mädchens entflammen, sie lehnt sich zurück, er beugt sich über ihr gerötetes Gesicht, der schiefe Schneidezahn, die tiefen Augen, sie! Sie schauen einander an, einen Augenblick nur, er spürt ein hauchfeines Luftwirbelchen zwischen ihrem und seinem Gesicht, eine Atemberührung, die Echse streckt sich, er
sieht ein Rot, in das er sinken möchte, und schon verblassen die fallenden Farben über der Wiese, ihr Gesicht verlöscht, der Kopf hebt sich wieder weg und nur der fremdvertraute Geruch von hinten bleibt in der Lichtlosigkeit übrig. Und wie die ganze Batterie von Schlussraketen knatternd in die Luft gejagt wird, legt sie ihren Kopf an seine Brust und lässt ihn dort ruhen, bis der Farbenhagel vorbei ist. Sie schaut in den Himmel und er in ihr Gesicht. Wieder spürt er das Luftzittern von
Mund zu Mund. Nachdem der letzte Lichttropfen verglüht ist, kippt der Grenzberg in die Dunkelheit zurück, und es wird für einen Augenblick totenstill und stockfinster in der Doppelstadt. Sein Herz pocht gegen ihr Haar und sein Kopf senkt sich wie von selber. Er ahnt ihren Atem, riecht ihr Haar. Er wird nach vorne gedrückt. Das Kellertier so nah bei ihr. Der Geruch von hinten. Die Wangen siedend heiß. Näher. Weg. Nein. Ja. Sie. Die Echse. Ja. Nein. Ja. Nicht rühren. Nicht – da tritt ihm jemand gegen die Ferse, das Klatschen setzt ein, wieder ist da dieser Geruch, und sein Aua
mündet in ein vieltausendzüngiges Reden, welches nun aufgesaugt wird vom Traumstadtbrausen, das drei Tage lang anhalten wird; fortgezogen, weggetrieben von ihr, steckt er schon mittendrin, und frisst und säuft mit Bekannten und Unbekannten und lacht in den Zelten und fährt auf den Bahnen und wird rauschig von den Geräuschen und Gerüchen und all dem Verechsten und wittert durch die Zuckerwatte und das Sauerkraut und die Gokartabgase und durch die Wiesenfeuchtigkeit hindurch Haaratem, auf allen Bahnen und in allen Zelten, eine Ahnung bloß, eine Luftmarke, vom Kellertier erschnuppert. All die Wiesenweile lang liegt es stumm da, das Krokodil. Als er am Gitter vorbei geht, ragen Augenwülste aus dem Sumpf, wo Stadt, Dorf, Wiese einmal waren. Er wird von einem eisigen Luftzug in der Lärmhitze gestreift und die Festechse weicht zurück vor dem Käfigschweigen. Da lauert er, der Untote, der König der Wiesenstadt.
Und regiert das Treiben.

Wiesenmarktsonntag
Sie lehnt am Geländer vor den großen Schaukeln. Der Platzregen ist vorbei. Die Sonne leuchtet zwischen zwei Wolkenbänken hindurch und taucht die Wiesenstadt in scharfklares Licht. Hinter ihr schwingt sich ein Paar auf der Schaukel ein. Ihr Gesicht ist gerötet und leuchtet in der Sonne. Einen Fuß hat sie aufgestellt, das vordere Bein angewinkelt, die Hände in den Jackentaschen. Aus ihrem Gesicht kommt ein Strahlen. Um sie ist der Rummel der Wiese, sie selbst bewegt sich nicht. Er steht eine Festzeltlänge entfernt. Wartet sie? Er weiß: Sie ist vom Dorf, auf der
anderen Seite der Wiese. Dort wohnen die verbohrten Slowener, wie sie im Städtchen sagen. Manchmal wendet sie den Kopf zur Seite, nur ein wenig, dann geht ein kurzes Zittern durch die braunen Locken mit dem roten Schimmer. Sonst rührt sie sich nicht. Hinter ihr schaukelt sich das Paar in die Höhe. Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet, hin zum Grenzberg. Er hält sie fest. Sie hält ihn fest. Es ist still, mitten im Festgetriebe ist es so still. Das Kellerreptil ist hellwach, und doch – es regt sich nicht. Sie ist aus dem Dorf, er aus dem Städtchen, die Wiese liegt dazwischen. Ihre Wangen
sind rot, fast fiebrig. Die Sonne ist in ihrem Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde hängt das Paar verkehrt in der Luft, ein Überschlag, wie eingefroren. Dann kippt die Schaukel nach vorne. In seinem Kopf schwingt ein Wort, er kennt es aus dem Lied der Aufräumerin: Sončice. Oder Sončece? Wie Sonne im Deutschen? Im Städtchen wollen sie nicht, dass ihre Kinder die andere Sprache lernen. Für ihn ist sie nur Klang, manchmal bleibt ein Wort hängen. Sončice, murmelt er, für ihn ist sie Sončice.
Da ist er wieder, der Geruch. Er kriegt einen Schubs. Im Taumeln hört er ein Klatschen gegen die Zeltplane und zugleich seinen Namen. Er sieht den
Albinobuben beim Eingang und erst dann seine Schulfreunde. Sie ziehen ihn weg ins Zelt. Er wirft einen Blick zurück. Winkt sie? Das Paar hinter ihr steigt aus der Schaukel. Später streift er über den Rummelplatz und sucht sie. Beim Festsitzer dreht er wieder um. Der hockt beim Eingangszelt vor seinem Krügl, alle drei Wiesentage lang, verloren in seine Hopfen- und Malz-Meditation. Vor dem Kettenkarussell bleibt er stehen, das von der Ferne ausschaut wie ein Riesenpilz, dessen Hut die Stände,
Hütten und Buden überragt. Die Haube ist bebildert: ein Kranz von Landschaften mit Bergen, Stränden, Seen, Grachten samt Windmühlen. Der Stamm des Zauberpilzes ist ebenfalls bemalt: Engel, jünglingshaft und fast nackt, verbunden durch Blumengirlanden, vor einem Blau, aus dem, da und dort, Puttenköpfchen lugen. Sie alle kreiseln sich wieder und wieder in einen rasenden Himmel hinein, gemeinsam mit den Passagieren, die alles hinter sich und unter sich lassen und außer sich geraten wie das ganze Städtchen, das sich drei Tage lang auf der Stelle dreht, ein
Derwisch im weiten Festgewand. Jetzt aber steht es, das Ringelspiel. Er bemerkt neben sich den Albino. Der Weißhaarige ist ein Wiesenmarktkind, behaupten sie im Städtchen. Sein Vater hat in derselben Nacht noch eines gezeugt, vorher, mit einer von unten, die wohnt gleich hinter der
Grenze. Sie schauen hinauf zu den Angeketteten. Das passiert, wenn man sich nicht beherrschen kann, hat Mutter gesagt – mit diesem Blick. Da entdeckt er sie. Ihre Beine machen Zeitlupenschritte in der Luft. Die Kellerechse zwickt, kratzt und beißt. Ein Klingeln, ähnlich einer Schulglocke, ertönt. Dann geht ein Ruck durch ihren, durch seinen, durch den Echsenkörper. Sie verschwindet zum ersten Mal hinter dem
Karussellstamm und kommt wieder hervor. Ihre Wangen sind gerötet, das sieht er, bevor sie erneut fortkreist. Und zurückkreist mit ausgestreckten Beinen. Und wiederkommt mit geblähtem Rock. Und sich wegdreht und herdreht mit fliegenden Haaren. Und schneller da ist und schneller fort. Und immer weitere Kreise zieht. Und zu einem braunrot wehenden Wischen und zu einer blaubauschigen Rockglocke wird. Und mit ihm schwebt über Wiese und Städtchen und Dorf, Drehschenkel, Schoßsog und Schwindelreptil, rundherum im Ringelspiel, im Ringelwindspiel, im großen Wiesenwindringelspiel. Plötzlich liegt er am Boden. Der Albino schaut ihn verwundert an. Er steht sogleich auf. Ein Besoffener muss ihn angerempelt haben. Und da kommt sie schon wieder, aber weniger schnell. Ihre Gestalt verwischt nicht mehr. Dem Windrock geht die Luft aus. Die Haare flattern nicht länger. Jetzt sitzt sie wieder vor ihm. Ihre Wangen sind
röter als zuvor. Ein wenig schwingt sie noch nach. Sie dreht ihren Kopf, blickt ihn an. Er errötet, schaut zu Boden. Das Kellertier zittert. Wie er wieder hinschaut, windet sie sich aus dem Sitz, ihr Rock schiebt sich nach oben. Sie steigt die drei Stufen des Podests hinunter. Unschlüssig steht sie auf dem Wiesengrund. Sie geht. Da wittert er hinter sich, einen Hauch im Nacken, den vertrauten Geruch. Er blickt ihr hinterher, er geht ihr nicht nach. Noch immer spürt er den Atem, doch er dreht sich nicht um.
Er schaut ihr nach, bis er sie unter den Menschen verloren hat, und als er sich umblickt, ist da niemand, nur weiter hinten der Watschenmann, der wieder eine abbekommt.

Wiesenmarktmontag
Er steuert den roten Wagen mit der Nummer 3. Aus den Lautsprechern tönt I can’t get no satisfaction. Er fährt mit vollem Karacho gegen die anderen Wagen und schreit und jauchzt und lacht beim Zusammenprall und beim Rückstoß. Der Autodromkrieger ist auf der Jagd mit seinem Kellertier, ein gnadenloser Verfolger im Wagen mit der Gummiwurst drumherum, vorangepeitscht vom Gitarrenriff seiner Autodromhymne, süchtig nach dem nächsten Zusammenstoß. Die Augenblicke, ehe
er frontal mit einem Wagen zusammenkracht, in dem zwei Mädchen sitzen, ihr Kreischen, ihre weit geöffneten Augen, das Beben der Killerechse beim
Zusammenprall, das Quietschen der Mädchen, nach vorne geworfen, er und sie, nach hinten geworfen, sie und er, das Sägen des Gitarrenriffs und sein Brüllen Heyheyhey, that’s what I say. Seligkeit. Und erst jetzt beim Rückstoß schaltet er: Das Mädchen am Steuer des grünen Zehners, das ist sie! Und schon erwischt ihn einer von hinten und es schleudert ihn nach vorn und er haut sich ein Knie am Lenkrad an und es treibt ihm Tränen in die Augen und trötend ertönt die Pausenhupe und er rollt mit seinem Wagen an den Rand und aus dem Lautsprechergekröse hört er:
Rasch aussteigen! und kurz darauf: Flott einsteigen! und er kriecht aus dem roten Dreier und humpelt zum Zuschauerband. Alle Jetons verbraucht, und sie bleibt im Grünen sitzen. Das Hupsignal quäkt von Neuem grell auf, die Wagen setzen sich surrend in Bewegung, er schaut dem Zehner nach. Durch das Gewirr der funkenstiebenden Elektrostangen sieht er den Albinobuben, der wie hypnotisiert in das Fahrgewimmel starrt. Kriegt der gar kein Wiesenmarktgeld? Sein Vater arbeitet nicht. Ruiniert in einer Nacht, sagen sie im Städtchen. Und beim zweiten Mal hat seine
Lendenkraft nur mehr für das Bleichgesicht gereicht. Auf einmal ein heftiger Schlag von hinten. Einen Moment lang setzt alles aus in
seinem Kopf. Er kippt in den abgestellten Dreier, der unbesetzt geblieben ist. Der Schläger stolpert und fällt auf ihn drauf. Sie liegen aufeinander im roten Wagen, vier Arme, vier Beine, betäubt von der Nähe des anderen, ein hilfloses Kriechtier am Rande der vibrierenden Plattform. Da ist der alte vertraute Geruch, den er nie beschreiben könnte, weil er dem seinen so ähnelt. Es ist Milan, der damals in die zweite Volksschulklasse gekommen war, ein Jahr älter als die anderen und viel größer. Er stammte von unten, einem Ort hinter dem Grenzberg. Deutsch konnte er nur schlecht. Seine Mutter war mit ihm heraufgezogen zu ihrem neuen Mann, einem Slowenen von heroben. Sie übernahmen ein Geschäft gegenüber seinem Elternhaus. Jetzt nisten sich die Slowener noch im Ort ein, sagte man
im Städtchen. Milan hatte einen schweren, stapfenden Gang, ein schüchternes, fast mädchenhaftes Lächeln und zusammengewachsene Augenbrauen. Er war stark. Sie hatten denselben Schulweg. Nie gingen sie zusammen hin, aber immer gemeinsam zurück. Er war der Letzte, der die Hefte weggepackt, die Patschen ausgezogen und die Schuhe zugeschnürt hatte; Milan wartete. Zu Hause besuchten sie einander nicht. Er hörte Milans Stimme und die fremdvertrauten Laute der Nachbarssprache, wenn
er im Garten war. Auf dem Heimweg erzählte er, Milan hörte zu. Doch der konnte auch anders sein. Er schubste den Jüngeren auf dem Gehsteig herum, füßelte ihn, gab ihm Püffe und Kopfnüsse. Und auch er konnte anders sein. Dann kniff und kratzte und biss er Milan mit Worten. Einmal nahm dieser seinen Holzzockel und knallte ihn so fest auf seinen Oberarm, dass das Muster der Zockelsohle in der Haut blieb für Tage. Stolz trug er die Tätowierung, ihm war, als hätte er ein Geschenk bekommen. In der Klasse schützte der Ältere ihn, den Schnellzüngler und
Wortstichler, der die anderen oft bis zur Weißglut reizte. Und wenn sich wer über Milan und sein Deutsch lustig machte, war er es, der ihm übers Maul fuhr. Nach der Volksschule verloren sie sich aus den Augen. Er pendelte ins Gymnasium der Landeshauptstadt, Milan ging zurück über die Grenze. Sie begegneten sich wieder vor den Sommerferien. Er saß im Frühzug mit den anderen Gymnasiasten, wie immer im letzten Waggon. Er machte Licht. Eine verschlafene Stimme sagte: Licht aus! Er lachte nur und sang: I can’t get no ... satisfaction. Der andere fluchte auf Slowenisch, stand auf und drehte das Licht wieder ab. Er sang Oh no no no und drehte das Licht wieder auf. No satisfaction. Und da erkannten sie einander. Milan
lächelte sein Mädchenlächeln, er lächelte zurück und sagte, indem er sich zu den Mitschülern umdrehte: Freilich braucht der kein Licht, der kann eh nicht gescheit lesen! Milan blieb sitzen, das Lächeln erloschen, er sagte kein Wort. Eine Station vor den Gymnasiasten stieg er aus.
Jetzt liegt Milan auf ihm. Er keucht: Dein Rücken hat gelacht. Er hört Rieken und chat. Einen Moment lang ist er ganz bei ihm, mit ihm, gegen ihn. Da streift der grüne Zehner den Wagen und es ist ihm, als habe Sončice Milan! gerufen, und schon trötet die Hupe und da ist der Autodrombesitzer und schreit auf sie ein und sie wursteln
sich aus dem Wagen und stehen einen Moment benommen neben der Fahrbahn, bis das Quäken wieder ertönt, und er rennt los über die Plattform zwischen den herumkurvenden Wagen hindurch am Zehner vorbei und Milan setzt ihm über den Rummelplatz nach zwischen den Festzelten hindurch neben den Riesenschaukeln vorbei und unter den fliegenden Ringelspielsitzen hindurch die Gokartbahn entlang
bis zum Watschenmann und weiterweiter um den Festsitzer herum und zurück bis zur Krapfenhütte, in die er stürmt und schreit: Der will mich hauen! und bleibt in der hintersten Ecke stehen. Ja, er weiß, schlagen möchte ihn Milan, zu ihm durch möchte er, gleich wird er ihn packen, hinten kann er nicht raus, da sieht er, wie sich drei Männer Milan entgegenstellen, auf ihn einreden, ihre Arme um ihn legen, deutsch reden und slowenisch, ihn aber nicht durchlassen, und Milan sieht ihn an quer durch
das Zelt, das Zugabteil, er bäumt sich auf, aber sie halten den Wütenden fest, er steht hinten bei den Ölpfannen, teigbleich, und sagt nichts, und sie reden Milan nieder, der windet sich noch, schon schwächer, jemand drückt ein Glas in seine Hand, das er auf einen Sitz austrinkt, da ist eine Schwere, die Milan niederpresst, oder sind es die anderen, die ihn auf die Bank drücken, sie geben ihm das nächste Glas in die Hand,
das er wieder in einem Zug leert, und er lässt den Kopf auf den Tisch sinken. Wenn Milan wieder aufblickt, das weiß er, wird er gerade noch seinen Rücken am Eingang sehen, und es wird Milan nun völlig egal sein, schwer wie ein Stein wird er sein und sitzen bleiben wird er bis zum Schluss und sie werden ihn nicht aus der Krapfenhütte herausbringen.
Ihn aber treibt es hinaus hinter die Wagen der Schausteller, welche die Mauer der Wiesenstadt bilden; dort schlagen die Ausgetretenen ihr Wasser ab, und nachdem sie ihr Hosentürl zugemacht haben, überfällt sie urplötzlich eine Traurigkeit, sie schauen zu den Sternen hinauf, sie spüren die Feuchtigkeit aus der Wiese und vom nahen Bach, sie hören den Geräuschbrei wie mit Watte in den Ohren und sehen den
Nachschein des Lichtergewirrs hinter sich mit verschleierten Augen, und sie ahnen die dunkle Massigkeit des Grenzberges in der Nähe, und sie fühlen sich so seltsam auf der Welt, alles nur Kulisse, selbst das Sternendach. Es fröstelt sie und es zieht sie zurück, sie begrüßen den Lärm und das Licht wie einen alten Freund, sie sind weit
weg gewesen, ausgetreten draußen im All, und jetzt sind sie wieder im Bierschiff unter Ihresgleichen und mit lautem Hallo setzen sie sich an den schwankenden Tisch. Er ist allein. Die Kellerechse dämmert vor sich hin, ein leises Pochen unter der Haut. Es treibt ihn fort aus der Traumstadt, doch er will nicht heim. Er bleibt hängen beim Festsitzer. Als das Personal mit dem Wegräumen beginnt, hockt er immer noch dort,
zusammen mit den anderen Aussitzern des Wiesenmarktmontags, die trotzig´anfeiern gegen das Zusammenklappen der Tische und Bänke, gegen das Abbauen der Marktstände, gegen das Schließen der Schießbuden, gegen die letzte Zugabe der Kapelle, gegen das Abdrehen der Musik, gegen die Schlussrunde des Riesenrads, gegen das Lichterlöschen bei den Bahnen, gegen das Vertrocknen der Schnapsbude,
gegen den Abbruch der Wiesenstadt. Irgendwann ist endgültig Schluss, und sie wanken zurück ins Städtchen. Schließlich ist selbst der Festsitzer verschwunden. Nur das Krokodil und die Gittertiere bleiben auf der Wiese.
In der Allee dreht er noch einmal um und geht zurück in die Kulissenstadt. Da ist noch einer, er torkelt aus der dunklen Krapfenhütte mit schweren, stapfenden Schritten. Er schaut dem Schattenrücken hinterher. Hat sie im Autodrom Milan gerufen? Bis zum Morgengrauen verharrt er vor dem Ringelspiel, das seine leeren Sitze sanft schaukelnd an den Ketten hängen lässt. Es dreht sich in die andere Richtung, Berge, Meere, Seen und Grachten samt Windmühlen sowie Engel mit Blumengirlanden
kreisen mit, und auch Milan, er und Sončice drehen sich in die andere Richtung, und er hält sich hinten bei Milan fest und Sončice bei ihm, und sie drehen sich schneller und schneller, und die Pilzhaube hebt sich weg vom Stamm und steigt auf aus der Wiesenstadt, und Milan, er und Sončice schrauben sich mit in die Höhe und streben doch weg vom Karussellschirm und lösen ihre Bügel und Ketten und fliehen mit aller Kraft in die Nacht hinaus über den Grenzberg hinweg und hinauf in das schwärzere Dunkel, und Milan, er und Sončice schweben im Sogwind nach oben und
gleiten auf Luftkissenrodeln die vereiste Milchstraße hinauf und blicken der
blitzenden Finsternis entgegen, bis sie oben in dem Gewölbe ankommen und festfrieren als Dreigestirn im Bild des Karussells, gleich neben dem großen Autodromwagen und der verkehrten Schaukel und der kleinen Echse und dem alten Krokodil, mit Milan als größtem, ihm als mittlerem und Sončice als hellstem Stern. Er geht erst, als im Morgenlicht der erste Münzenklauber auftaucht. Er sieht nicht mehr, wie der Albino beim verlassenen Ringelspiel eine blitzende neue Schillingmünze findet. Der strahlt über das ganze Gesicht, wirft sie mit der einen
Hand in die Luft, fängt sie mit der anderen auf und sagt: Sončece.