Cornelia Travnicek; Traismauer (A)

Geboren 1987 St. Pölten, lebt in Traismauer. Für ihre literarischen Veröffentlichungen erhielt sie verschiedene Arbeits- und Aufenthaltsstipendien.

Cornelia Travnicek wurde von Juror Hubert Winkels vorgeschlagen.

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Cornelia Travnicek: Junge Hunde
(Romanauszug)
gelesen bei den 36.Tagen der deutschsprachigen Literatur
© Cornelia Travnicek

Vor zwei Wochen ist Baghira gestorben. Ich glaubte immer, Tiere würden sich zum Sterben verkriechen. Baghira inszenierte ihren Tod im Wohnzimmer unseres Hauses, auf dem einzigen teuren Teppich. Als ich das Zimmer betrat, das vollgestellt war mit Umzugskartons, auf dem Sofa thronte eine riesige schwarz-weiße Stoffkuh mit grotesk dünnen Gliedmaßen und sah in meine Richtung, drängte es mich, die Hundeleiche in den Teppich einzuwickeln und sie in dieser Teppichrolle im Garten zu vergraben. Mich hinderte daran nur, dass der Teppich ziemlich groß und schwer ist, es also sehr mühsam gewesen wäre, ihn um das Haus herum oder gar hinab in den Keller, durch den Keller hindurch und über die hinteren Stufen wieder hinauf in den Garten zu schleppen. Zudem hätte die Grube dafür über menschengroß sein müssen, denn in den Teppich könnte man die Leiche eines Erwachsenen einwickeln. Vielleicht würden die Nachbarn ja sogar glauben, dass ich genau das tue, eine Leiche im Garten verscharren, meinen Vater zum Beispiel, gleich unter dem Baum mit den kleinen, harten Äpfeln.
Eine Beagle-Leiche ist ein schwieriger Fall. Sie ist zu groß für einen Schuhkarton, zu klein für die Verpackung eines Fernsehers, und ob die für eine Mirkowelle die richtige Größe für einen Beagle hätte, konnte ich nicht entscheiden. Eine Bananenkiste könnte sich eignen, hat aber oben und unten eine Öffnung.
Schließlich entschloss ich mich gegen einen Karton, weil jeder Karton das auszuhebende Loch vergrößert hätte, und steckte Baghira in einen alten Bettbezug, den ich zuknöpfte und fest um die Hündin wickelte, zu einem Bündel mit türkiser Seersucker-Textur.
Dieses Bündel trug ich an mich gepresst in den Garten und ging dort damit hin und her so als würde ich ein Kind in den Schlaf wiegen wollen, ich drückte meine Hündin gegen meinen Bauch, meine Brust und legte mir ihren Kopf über die Schulter, ich wippte beim Gehen leicht auf und ab und hörte mich selbst „Scccchhhhhschhh, scccchhhhhschhh“ machen. So ging ich vom Apfelbaum zum Zwetschgenbaum, vom alten Gemüsebeet zur Sonnenbank und überlegte, wo ich sie begraben sollte, die Muskeln in meinen Armen brannten längst, ich gab weiterhin beruhigende Geräusche von mir und weinte dabei seltsam heiße Tränen in die Seersucker-Bettwäsche.

Es gab die Sommer zwischen fünfzehn und siebzehn, in denen Wüstensand von einem müden Wind durch das Dorf getrieben zu werden schien. Das Gras war staubig, die Blätter an den Bäumen waren staubig, alle Fenster und Türen, und wir. Wir hatten den Staub in den Haaren, den Augenwinkeln, zwischen den Zähnen, er sammelte sich im Schweiß in unseren Achselhöhlen und verrieb sich dort zu kleinen dunklen Krümeln. Margarethe hielt damals die Augenlider die ganze Zeit über auf Halbmast, wie Marilyn Monroe, behauptete Alex, wie ein Kamel im Sandsturm, meinte ich. Kamele haben wundervolle Wimpern. Wenn ich heute sage: Margarethe, weißt du noch, als wir sechzehn waren …, dann lacht sie und sagt von einem Glucksen begleitet: Waren wir ein dreckiger Haufen!, und ich stelle sie mir vor, wie sie damals als Einzige die Karottenjeans trug, hoch geschnitten, bis über den Bauchnabel, und Turnschuhe, straight aus den 80ern, die musste ihr jemand aus ihrer Familie vererbt haben. Ihre in groben Locken wachsenden blonden Haare hingen in Strähnen aus dem geflochtenen Zopf, und ein paar wirre Wirbel fielen ihr in die Stirn. Das waren die Sommer zwischen zwei Hochwassern, zwischen den Dammbrüchen mit vierzehn und achtzehn.
Wenn ich eine kleine Tochter hätte, würde ich ihr oft Märchen erzählen, die sich in dieser Zeit ereigneten, ich würde beginnen mit: Es war einmal eine Prinzessin und ihr bester Freund, ein Königssohn aus fernen Landen, der von einem freundlichen Paar aufgezogen wurde, und ich würde nicht mehr aufhören können: Eines schönen Tages luden die Prinzessin und ihr bester Freund alle ihre Freunde in das kleine Häuschen ein, in dem der Königssohn wohnte. Seine Zieheltern waren verreist, und er gedachte seinen Freunden mit einem Sommerfest eine Freude zu bereiten. Und ich würde ihr erzählen, wie sich die Dorfjugend und ein paar Bekannte aus den umliegenden Ortschaften am Biervorrat im Keller vergriffen und an den Likörflaschen, die die Mutter von Ernst, meinem besten Freund, fein säuberlich aufgereiht in der Hausbar aufbewahrte; wie manche gar so weit gingen, die Marmeladengläser eines nach dem anderen zu öffnen, mit den Fingern darin herumrührten und von allen einmal probierten, und wir dann später beschlossen, man müsse nun zu einem See fahren, um nackt zu baden. Da ergriff der Kühnste von allen die Türklinke und rief aus, dass er den Wagen vorfahren werde, und niemand dachte sich etwas dabei, obwohl er, Kühnheit hin, Kühnheit her, keine Lenkberechtigung hatte. Als der Wagen vorfuhr, wurde allen klar, dass das Gefährt gar klein geraten war und nicht die ganze lustige Gesellschaft aufnehmen konnte, so stiegen nur die Prinzessin, ihr bester Freund und drei weitere ein. Sie nahmen auf der Rückbank Platz, wobei ihnen die Glieder ein wenig durcheinanderkamen, sodass es großes Geschrei und Gelächter gab. Ein unscheinbares Mädchen namens Margarethe stieg auf der Beifahrerseite ein, und schon brauste das Gefährt in die Nacht davon. Was machen sieben angetrunkene Jugendliche in einer Micra Mouse?
Ernst behauptete später immer, das Unglück schon kommen gesehen zu haben, ich behaupte, er konnte zu dem Zeitpunkt nichts mehr sehen, denn für Ernst gibt es den Zustand der gemütlichen Trunkenheit nicht, er ist von null auf komasaufen in drei Bier, und bremst er sich vorher ein, so hat er innerhalb von zwanzig Minuten einen Kater. Das Unglück kam in Form eines jungen Rehs, das vom Straßengraben auf die Straße sprang und der Micra Mouse genau in das rechte vordere Scheinwerferauge. Nachdem das Gefährt zum Halt gekommen war, schien es der fröhlichen Gesellschaft mit einem Mal so seltsam still auf der nächtlichen Straße. Es war kein Haus weit und breit, kein anderer Wagen. Dem Kühnen zitterten die Lippen. Der Königssohn hob an zu sprechen und befahl, dass man aussteigen solle, um nach dem Tier zu sehen. Beim Verlassen des Wagens gab es kein Geschrei und kein Gelächter. Dann stand man schweigend im Kreis um das Reh. Ein Plan musste gemacht werden. Ernst wiederholte später immer wieder, dass alles meine Idee gewesen sei. Margarethe hatte das Auto nach Hause fahren sollen, sie war die Einzige, die nichts getrunken hatte. Ich weiß noch, dass ich mehr als einmal Angst hatte, im Straßengraben zu landen, auch wenn das bei Margarethes Tempo keine schwerwiegenden Folgen für uns Insassen gehabt hätte. Der Wagen starb regelmäßig ab, und ein paar Mal heulte der Motor auf, als wäre er persönlich beleidigt. Dass ich, wie Ernst versicherte, auch vorgeschlagen hatte, danach zu dritt mit zwei Motorrollern an die Unfallstelle zurückzukehren, dort das Reh mit Wäscheleinen auf den einen Roller zu binden, damit bis zum Teich zu fahren, dort mithilfe der Wäscheleine ein paar große Steine an den Beinen des Rehs zu befestigen, dann das Tretboot von der Anlegestelle zu klauen, wozu Alex das Vorhängeschloss mit einer Haarnadel knacken musste, wir kurz diskutierten, warum er überhaupt eine Haarnadel einstecken hatte, zu zweit mit dem Tretboot hinauszufahren und das Reh in der Mitte des Sees zu versenken - all das glaube ich nicht. Wer es allerdings vorgeschlagen hatte, weiß ich auch nicht mehr. Ich schiebe das auf eine mit leicht panischer Schwarmintelligenz getroffene Gemeinschaftsentscheidung. Und wenn sie nicht gestorben sind, und das Reh aus unerfindlichen Gründen nicht wieder aufgetaucht ist, dann leben sie noch heute glücklich und zufrieden. Schwimmen waren wir allerdings nie wieder in diesem See.
Die zweite Hälfte dieses Märchens, in der die Prinzessin und der Königssohn wieder nach Hause kommen und den Unfallfahrer dabei erwischen, wie er den Gras-Vorrat der Ziehmutter des Königssohns aufraucht, das würde ich wohl vor meiner Tochter verschweigen. Auch, dass Ernst den kaputten Scheinwerfer am nächsten Tag fein säuberlich geputzt hatte und seinen Eltern bei deren Heimkehr erklärte, es wäre wohl jemand mit einer Bierkiste im Vorbeigehen drangestoßen, was ihm zwar eine Rüge für den übermäßigen Alkoholkonsum eintrug, von den Eltern aber als Kollateralschaden verbucht wurde, würde ich höchstens auf Nachfrage erzählen. Es gibt von allen Märchen Versionen für Kinder und für Erwachsene.

Nach langem Hin- und Herwandern legte ich das Hundebündel unter dem Kirschbaum ab, der schon so dicht mit Efeu überwachsen war, dass es aussah, als hätte der Efeu den Baum im Inneren längst aufgelöst und würde nur noch zum Schein die Baumform wahren, und holte den Spaten aus dem Gartenhaus. Ich musste jedes Mal mit beiden Händen ausholen und das Spatenblatt mit Schwung in die Erde stechen, mich dann zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Fuß daraufstellen, bei manchen Stichen sogar noch ein wenig darauf herumhüpfen. Schweiß war auf einmal überall in meinem Gesicht, sammelte sich in den Augenbrauen und auf der Oberlippe, die Handinnenflächen hatten rote Druckstellen, in der losen Haut zwischen Daumen und Zeigefinger bildete sich schnell eine Blase, die ebenso schnell aufbrach. Ich stach, stieg, hüpfte, hebelte und begann wieder von vorne, der Boden war hart und voller kleiner, zäher Wurzeln, der Sommer war trocken gewesen. Ich musste dabei die ganze Zeit an die Umzugskartons im Haus denken, an meinen Vater, der jetzt schon auf dem Weg ins Altersheim war, auf der Rückbank des Autos meines kleinen Bruders saß, mit zwei Koffern voll Krempel und viel zu wenig Kleidung. Jedes Mal, wenn ich an Baghira dachte, kamen mir die Tränen und vermischten sich mit dem Schweiß.
Ich warf den Spaten zur Seite und legte die tote Hündin versuchsweise in das Loch. Länge und Breite passten, es war nur noch nicht tief genug. Ich wollte keinen Hügel aufwerfen müssen. Was würden auch potentielle Käufer denken, wenn sie bei der Führung durch den Garten an diesem frischen Grabhügel vorbeikämen.

Ein paar Tage nach der Heimkehr von deren Urlaubsreise waren meine Eltern und ich bei Ernsts Eltern eingeladen gewesen, zu Kaffee und Kuchen. Ich fand das seltsam, denn bisher war nur selten eine förmliche Einladung an meine Eltern und mich ausgesprochen worden, und wenn dann nur zu besonderen Anlässen, zu denen auch noch weitere Gäste erwartet wurden. Das tote Reh trieb in meinem Kopf von allen Stricken befreit, mit aufgeblähtem Bauch, über eine ruhige Wasseroberfläche. Wenn ich den Kopf bewegte, so trieb es hin und her. Sein Genick war sichtbar gebrochen, der Hals überdehnt, das Fell an den Ohren mit geronnenem Blut verklebt, die Augen milchweiß. Meine Mutter fragte mich drei Mal, warum ich so blass sei, ob es mir gut gehe, und ich redete mich auf allgemeines Unwohlsein heraus, täuschte Bauchschmerzen vor, ging aber trotzdem hinter meinen Eltern her, den ganzen Weg bis zum Haus der Eltern von Ernst. Ein Spaziergang würde mir gut tun und die Übelkeit vertreiben, hatte meine Mutter gesagt. Ich hatte Ernst eine SMS geschrieben, panisch, mit vielen Ausrufe- und Fragezeichen, er wusste jedoch auch nichts Genaueres, nur welcher Kuchen gerade noch gebacken wurde.
Die Adoptivmutter von Ernst erwartete uns bereits in der Tür. Sie roch nach Butter und Vanille und trug eine alte Küchenschürze mit Spitze, mein Blick blieb bei der Begrüßung die ganze Zeit über an dieser Spitze hängen. Ihre Schürze war makellos sauber, als hätte sie zuerst gebacken und danach erst die Schürze umgebunden. Ich war der Meinung, eine Frau wie sie müsste andere Dinge zu tun haben, als Kuchen zu backen, doch das Haus roch andauernd nach Butter und Vanille, außer zu Sommerbeginn, wenn das Obst reif wurde, dann hing der Marmeladengeruch wie Tiefnebel in allen Zimmern. Wenn ich Ernst besuchte, war ich ständig hungrig. Diesmal war ich nicht hungrig, mir war übel, und der Buttergeruch verschlimmerte diesen Zustand noch. Ernsts Mutter drückte mich an ihren Busen, sie hielt mich lange fest, und ich konnte ihre Wärme fühlen, als hätte sie sich am Backofen aufgeheizt. Meine Eltern fasste sie an den Händen, und auch bei ihnen übertrug sich die Wärme. Sie lächelten, und wir gingen hinein, durch das Esszimmer in den Wintergarten, wo Ernst bereits in einem Korbsessel saß und auf zwei Kannen starrte, die sich in der Glasplatte des Tisches spiegelten.
Seine schmalen Augen zu noch schmaleren Schlitzen zusammengepresst, wie eine zufriedene Katze, lehnte er an den Sesselpolstern. Neben ihm, in einem zweiten Korbsessel, saß eine riesige schwarz-weiße Stoffkuh mit grotesk dünnen Gliedmaßen. Der Anblick des Tieres schmerzte mich in der Herzgegend. Ich musste an das Wochenende kurz vor Ferienbeginn denken: Der feine Staub auf dem asphaltierten Rummelplatz, der hellorange Himmel, die beiden Lostrommeln vor dem Stand mit den Kuscheltieren. Ich hatte in den Reihen voller Spielzeugen aus Schaumstoff und Plüsch die Kuh entdeckt, ein Hauptgewinn. Genau diese Kuh wollte ich. Ich sehe mich noch wie heute, wie ich übermütig Ernst dazu gebracht hatte, für fünf Euro Lose aus der einen Trommel zu ziehen, ich selbst zog ebenfalls für fünf Euro Lose aus der anderen. Wir hielten uns die Lose gegenseitig unter die Nase, konnten den Zufall nicht glauben, wenn wir beide unsere Lose zusammenlegten, hatten wir gewonnen. Wir diskutierten, ob es denn nun wirklich diese Kuh sein sollte, der Standbesitzer und seine Frau schüttelten den Kopf, im Gleichtakt mit uns, sie konnten das Glück nicht fassen: was für eine Seltenheit. In diesem Moment trat ein Mann an uns heran, der mitgehört haben musste. Er sagte, sein Sohn wolle unbedingt die Sponge-Bob-Figur, ebenfalls einer der Hauptgewinne, und er wäre bereit, uns die vier dafür notwendigen Lose abzukaufen, fünfzig Euro würde er uns geben, ein Gewinn von vierzig Euro. Ich sah auf das bunte Papier in meiner Hand, dachte, dass er mit fünfzig Euro den Sponge Bob in jedem Spielzeuggeschäft kaufen könnte, und sagte: Nein. Ich sagte, dass es mir leid tue, aber wir würden uns diese Kuh wünschen, wirklich. Der Mann verschwand, wir tauschten die Lose gegen die Kuh, die wir auf dem Motorroller mit nach Hause balancierten. Ich nahm sie mit in mein Zimmer, sie saß dort in einer Ecke. Und jedes Mal, wenn ich sie betrachtete, musste ich an den Mann denken, nicht der fünfzig Euro wegen, sondern wegen des kleinen Jungen. Ich wusste mit einem Mal genau, wie es hätte ablaufen sollen: Mein Blick fällt auf das Kind. Ernst und ich sehen uns an. Ich gebe dem Jungen die Lose. Er strahlt. Der Mann will mir das Geld überreichen, ich lehne es ab. Sponge Bob ist so groß, dass seine Füße fast am Boden schleifen, als der Junge ihn davon trägt. Der Vater bedankt sich bei uns. Wir sind glücklich. Die Luft ist kühl und warm zugleich, der Abend wie weich gezeichnet. Kurz darauf hatte ich Ernst das Stofftier vorbeigebracht und gemeint, in meinem Zimmer wäre zu wenig Platz dafür.
Ich sah wieder Ernst an. Die Haut seines Gesichtes war im ersten Herbstlicht honigfarben, und kein einziger Muskel zuckte, als er höflich meine Eltern und mich begrüßte. Ich warf ihm verschwörerische Blicke zu, er reagierte nicht, schenkte sich Kaffee aus der einen Kanne ein und bot meiner Mutter Grünen Tee aus der anderen an. Der Kuchen wurde gebracht und angeschnitten, Stücke auf allen Tellern verteilt. Und dann saßen wir da, wir fünf, so als wäre das hier die Verlobungsfeier einer arrangierten Ehe zwischen Ernst und mir, und kurz fühlte sich das wahrscheinlich an, ich erwartete, man würde mir eröffnen, ich müsste Ernst nach der Matura heiraten und viele kleine halb-chinesische Babys mit ihm bekommen, HaCiBas. Ernst schwieg, ahnte nichts von meinen Befürchtungen, seine Mutter und meine Eltern plauderten, sie erklärte, in meine Richtung gewandt, dass der Vater von Ernst noch unterwegs sei, jedoch jeden Moment nach Hause kommen müsse. Nachdem Höflichkeiten über den Kuchen und Neuigkeiten ausgetauscht worden waren, saßen wir vor leeren Tellern und warteten auf Ernsts Vater. Ich bildete mir ein, meine Eltern einander Blicke zuwerfen zu sehen, ich bildete mir ein, dass Ernsts Mutter andauernd auf die Uhr sah und auf einen Wagen horchte, Ernst schien abwesend. Mit einem Mal traf es mich: Ein Polizeiauto würde vorfahren, die Männer würden ins Haus stürmen, sich nicht vorstellen, sondern nur an ihre Mützen tippen und mich und Ernst mitnehmen, nach draußen zum Auto, sie würden den Kofferraum öffnen und dort würde das halb verweste Reh liegen. Alle würden schweigen, uns anstarren und auf eine Erklärung warten.
Und auf einmal fuhr wirklich ein Auto vor, Ernsts Mutter sprang auf, das Geschirr klirrte leise, sie sagte nur: Das sind sie …, und ich dachte auch: Das sind sie …, und erhob mich ebenfalls. Alle folgten ihr nach draußen, wo das Auto von Ernsts Vater in der Einfahrt parkte. Ernsts Vater hatte eine Hand am Autodach abgelegt, er schien seine Miene nur mit Mühe unter Kontrolle zu halten, ich suchte darin Ärger und fand keinen, trat näher. Genau in dem Moment, als ich mich schon streckte, um besser in den Wagen sehen zu können, öffnete Ernsts Vater die Tür zum Rücksitz und griff in das Wageninnere. Er hob einen Hund heraus und noch einen. Da saß nun ein Pärchen ausgewachsener Beagle, und die beiden blickten uns an, mich und Ernst. Unsere Eltern warteten unsere Reaktion ab, es war, als hätten sie laut „TATA!“ gerufen. Meine Mutter schaute mich an, als wäre ich sieben und die Hunde zwei rosa Ponys. Mein Vater hatte ein Gesicht wie ein Leben lang Zuckerwatte. Das Reh in meinem Kopf versank im Wasser. Ich ging in die Knie und streckte die Hand aus.
Als wir wieder im Wintergarten saßen und den Hunden durch die offene Terrassentür beim Spielen zusahen, ich meiner Baghira, Ernst seinem Balu, konnte ich endlich ein zweites Stück Kuchen essen, dieses schmeckte nun nicht nach Styropor. Unsere Eltern erklärten uns, wir seien jetzt alt genug, um ernsthaft Verantwortung für ein anderes Lebewesen zu übernehmen. Ich hatte mir das letzte Mal einen Hund zum Geburtstag gewünscht, da war ich zwölf und dabei auch eher an einen Welpen gedacht. Ich fütterte die elterliche Erziehungsmaßnahme unter dem Tisch mit Kuchen. Sie leckte mir die fettigen Finger. Ich befühlte ihre langen, weichen Ohren. Sie legte mir den Kopf auf den Schoß. Ich beschloss Verantwortung zu übernehmen.

Nachdem ich die Erde festgeklopft hatte, war fast kein Hügel mehr vorhanden. Nur eine kahle Stelle, die das Herbstlaub schnell wieder verdecken würde. Ich würde zum Haus von Ernsts Eltern gehen müssen und Balu erzählen, was passiert war. Die beiden Hunde hatten sich jeden Tag ihres Lebens gesehen. Balu würde mir seinen Kopf auf den Schoß legen, wie Baghira schon am ersten Tag, er würde mich ansehen, scheinbar verlegen zwinkern, und er würde nicht verstehen. Es würde im Haus immer noch nach Butter und Vanille riechen. Nur Ernst wäre nicht da, weil er ja nach China musste, auf der Suche nach seiner Herkunft, zu einer anderen Art von Wurzelbehandlung. In der Zwischenzeit kämen mein kleiner Bruder und seine Freundin wieder zurück, und die Rückbank des Autos wäre leer. Ich klopfte noch ein paar Mal mit dem Spaten auf die Erde, reine Schönheitskorrektur.