Philip Schönthaler, KONSTANZ (D)

Geboren 1976 in Stuttgart, lebt in Konstanz. Studium der Kunst und Literaturwissenschaft in Vancouver und Brighton, 2010 Promotion an der Universität Konstanz. Seither freischaffend.

Der Autor wurde von Juror Hubert Winkels nach Klagenfurt eingeladen.

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Philipp Schönthaler: Foto: Kathrin SchoeneggPhilipp Schönthaler: Foto: Kathrin Schoenegg

Philip Schönthaler: Ein Lied in allen Dingen

vorgetragen bei den 37. Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Philip Schönthaler

Der Auftakt seiner Deutschlandtournee war ein Erfolg: Um 20 Uhr verlässt Niklas Metnev die 35 Quadratmeter große Stargarderobe im Backstagebereich und steigt die schmale Montagetreppe hinauf, die zum Deckentragwerk der SAP Arena in Mannheim führt, vor ihm der Bühnentechniker und Veranstaltungsassistent, direkt in Metnevs Rücken ich. Der Techniker und Assistent plaudern mit gesenkter Stimme, das Lochblech scheppert unter den Tritten von Metnevs Lederstiefeln. Ein Aluminiumsteg auf der Westseite der Halle verläuft in Längsrichtung parallel zu den Doppel-T-Stahlträgern der gewölbten Dachkonstruktion, im hinteren Hallendrittel öffnet sich der Montagesteg auf eine kleine Plattform. Wie zuvor bei der Generalprobe am späten Nachmittag steigt der 27-jährige in den Gurt, unmittelbar vor Veranstaltungsbeginn ist Metnev stets in sich gekehrt, wortkarg, nur seine Mundpartie und Lippen bewegt er stumm, grimassiert. Der Gurt wird ihn um Oberschenkel und Hüfte geschlungen durch die Luft tragen, ähnlich wie ein Klettergurt, nur dass die Trageschlaufe am Rücken in Höhe des Nackens angebracht ist, ein elastisches Brustband stützt zudem das Rückgrat, hält den nur minimal aus dem Lot nach vorne gekippten Körper aufrecht. Höchste Priorität kam bei der Anfertigung des Spezialgurts der maximalen Beweglichkeit von Nacken und Torso zu, die Stiefel, die in zwei Fußschlaufen stecken, erlauben es Metnev selbst in schwebendem Zustand eine solide Körperspannung aufzubauen, indem er die Fersen kraftvoll nach unten in die Schlaufen drückt – die Körperspannung ist die Voraussetzung für eine gute Performance. In Zusammenarbeit mit dem jungen Choreographen verfiel Metnev zudem darauf, nur das rechte Bein zur Gänze durchzustrecken, während er das linke leicht anhebt, in der Kniekehle um zehn Grad anwinkelt, die Fußspitze drückt sich, auch des gesteigerten Gefühls der inneren Balance halber, in die rechte Wade und resultiert erst so in der visuellen Wirkung der Schwerelosigkeit, die es zeitweise unmöglich macht zu unterscheiden, ob der Körper soeben im Auf- oder Absteigen begriffen ist – ein Schwebezustand, der faktisch zwar gegeben sein mag, optisch jedoch erst durch die technischen Kniffe erzeugt wird (ohne dass der am Seil hängende Körper lediglich an einen Getreidesack erinnert, der unter dem Eigengewicht in sich zusammengestaucht soeben zu Boden gelassen wird, eine Assoziation, die auf alle Fälle zu vermeiden sei, so der Choreograph bei der Probe am Nachmittag).
Als das Seil um 20.15 Uhr mit einem sanften Ruck anzieht – der Bühnentechniker hat das Startsignal von der Hallenregie erhalten, ein letztes Mal die Aufhängung und den Lauf des Sicherungsseils geprüft, schließlich Metnev zustimmend den erhobenen Daumen unter das Kinn gehalten –, verliert der 178 Zentimeter große und 84 Kilogramm schwere Körper des Virtuosen nur kurzzeitig die Balance. Seine Arme schnellen unter dem Gleichgewichtsverlust schreckhaft in die Höhe, als müssten sie in der Luft Halt suchen, dann baumelt Metnev einen daumenbreit über dem Alugitter der Plattform. Das Seil pendelt kaum unter der Last, ein elektronischer Steuermechanismus verhindert, dass der Körper unkontrolliert um die eigene Längsachse rotiert. Anschließend wird Metnev über den Rand des Trittgitters abgelassen, die 6128 Zuhörer sitzen 21 Meter unter ihm, bis auf die winzigen Rechtecke der grünen Notleuchten in völliger Finsternis. Mit dem Erlöschen des Lichts sind die Stimmen rasch verstummt, die letzten Besucher aus den vollverglasten Partylogen auf der Osttribüne getreten, die VIP-Gäste ertasten im Dunkeln ihre Plätze, eine rege Anspannung schwappt wellenartig in Richtung Bühne, von der jetzt dichter Nebel aus drei Maschinen strömt, nur das pumpende Zischen der Zerstäuber ist zu hören, man kann den trockenen Nebel, der in den Zuschauerraum quillt in den ersten Reihen allenfalls riechen, nicht sehen, langsam steigt der kondensierte Glykoldampf in den Raum und zur Decke der erst im Februar 2009 mit dem »Live Entertainment Award« in der Kategorie »Beste Arena« ausgezeichneten multifunktionalen Veranstaltungshalle auf.
Metnevs Kopf – mit den dunkeln, schulterlangen, zum charakteristischen Knoten am Hinterkopf hochgebundenen Haaren – ist zu diesem Zeitpunkt unter die Plattform abgesunken, der Techniker und Assistent blicken dem entschwindenden Virtuosen hinterher, wie dieser in die Finsternis der Halle mit einem Bruttovolumen von 403.000 Kubikmetern eintaucht. Zuletzt hat der Assistent Metnev nochmals eingeprägt, zu keinem Zeitpunkt nach unten zu schauen – noch als Teenager litt Metnev akut an Höhenangst. Er solle unbedingt einen erhöhten Punkt in der Halle fixieren. Über einen Infrarotsender ist Metnev mit der Hallenregie verbunden, vernimmt über einen Ohrstöpsel die Anweisungen des Toningenieurs: Fünf Sekunden, bis das Metronom einsetzten wird, verkündet der Toningenieur: Drei Sekunden, bis das Metronom einsetzen wird: Eine Sekunde, das Metronom setzt ein – der Countdown lässt Metnev genügend Zeit, sich zu konzentrieren, seinen Atem zu regulieren, zuletzt presst Metnev so viel Luft wie möglich in seine Lungen. Dann blenden die sechs 2,5 Kilowatt starken Robert Juliat »Aramsi« Verfolgerscheinwerfer aus drei unterschiedlichen Richtungen blitzartig auf, sie finden ihr Zielobjekt mühelos 15 Meter über Bodenniveau, die Lichtkegel bündeln sich auf dem schwebenden Körper. In dieser Höhe wirkt Metnev trotz seines stämmigen Körperbaus ungewohnt zierlich. Die Querflöte liegt an seiner Unterlippe, der Mund ist bis auf einen Lippenspalt geschlossen, sein Kopf zur Seite geneigt – als auch schon die erste Phrase von Paganinis Caprice Nr. 24 (arrangiert für Flöte) erklingt, Metnev setzt mit einem schwachen Zungenstoß an, einer offenen Embouchure, der ebenso klare wie biegsame Ton, für den der Flötist bekannt ist, schwebt flüssig wie aus dem Nichts heran, gewinnt an Intensität, die Musik füllt von einem Augenblick auf den anderen den gesamten Raum.
Während Metnev die erste Tonfolge spielt, ohne dass sich der Ort der Klangquelle im Zuschauerraum bestimmen ließe, die 60 in der Halle montierten Hochleistungslautsprecher sorgen für einen dezentralen Sound, herrscht unter den Zuschauern noch immer Aufregung, es dauert einige Momente, bis auch die letzten Augenpaare Metnev hoch oben unter der Decke erspäht haben, inzwischen schwebt er über den Rängen 212, seine Füße tauchen in erste dünne Nebelschwaden. Die Querflöte reflektiert das Licht der Scheinwerfer, sendet helle Blitze quer durch die Halle, während der schwarz ummantelte Seilzug, der für die Zuschauer weitgehend unsichtbar bleibt, Metnev auf einer parabelförmigen Bahn entlang der Deckenlaufschiene langsam in Richtung der Hauptbühne führt. Der Solist trägt ein tailliertes Jackett (eine Woche später ist in einer Randnotiz der Gala zu lesen, dass es sich um ein Modell von Dries Van Noten handelt), dazu Jeans, sowie seine signature-Accessoires – die gelbschwarzen Cowboystiefel, das bedruckte T-Shirt unter dem Jackett sowie ein Totenkopfring am kleinen Finger der linken Hand – die ihm nicht zuletzt international seinen Ruf als »Flötenrebell« eingetragen haben. Da Metnev nicht nur vertikal abgelassen, sondern zugleich horizontal in einem Bogen durch die Halle gleitet, wird der Levitationseffekt zusätzlich verstärkt. Metnev passiert die Hauptbühne, unter ihm sitzen die 40 Musiker des Orchesters reglos im Dunkeln, er streicht in einem spitzen Bogen in etwa drei Meter Höhe über die vorderen Reihen der Ostränge und landet dann breitbeinig, unter dem aufbrausenden Applaus des Publikums – der letzte Ton der Caprice ist noch nicht verklungen – in einer engen Kreisführung auf dem kurzen Laufsteg, der an die Hauptbühne anschließt. Der Gurt hat seine Jeans nach oben über die Knöchel gezogen, noch während seine Lungen nach Luft ringen löst ein herbeigeeilter Helfer den Tragemechanismus. Metnev zupft bei seiner Verbeugung die Hosenbeine nach unten, richtet sich wieder auf, die Arme wie zu einer Umarmung seitlich gespreizt, seine Augen suchen offensiv den Kontakt mit dem Publikum, er winkt, lacht, das Seil entschwindet lautlos unter das Hallendach.
Von der Flöte Aktuell-Journalistin am Folgetag nach den Empfindungen bei der spektakulären Landung befragt – gerüchteweise ist Metnevs Höhenangst als Teenager vorab an die Öffentlichkeit gedrungen –, wird Metnev mit abwinkender Handgeste erwidern, dass man sich bedingt durch den Gurt eher wie nach einem langen Galopp auf einem Pferderücken fühle, nur dass man bei diesem Ritt kein Pferd zwischen den Schenkeln habe: »Nun ja, danach hat man vor allem das dringliche Bedürfnis, sich erstmal kräftig den Schritt zu massieren, was sich in diesem Moment selbstredend verbietet.«
Metnev war erst am Vortag des Mannheimer Konzerts in Deutschland eingetroffen, seine Tournee hatte ihn unmittelbar zuvor durch Japan und Südamerika geführt, die Strapazen der Reise waren ihm noch anzumerken. Zudem hatten am ersten Tag der Aufführung zwischen Generalprobe und Soundcheck zwei Interviews (Focus und Klassikakzente) sowie eine live Radioeinspielung stattgefunden. Nach dem Konzert schüttelte Metnev einigen Gästen in der Künstlergarderobe die Hand, signierte ausgewählte Autogrammkarten, anschließend ließ er sich von seiner persönlichen Assistentin direkt auf sein Zimmer bringen. Normalerweise hätte er abends im Hotelzimmer nochmals geprobt, einige Paganini-Phrasen hatte er nicht zu seiner vollen Zufriedenheit gespielt. Der verschwitzten Abendgarderobe entledigt, hatte Metnev es sich auf seinen Tourneen angewöhnt, Stücke und Phrasen, die ihm während des Konzerts missfallen hatten, abends erneut zu üben. Schwächen und Unreinheiten waren dadurch nicht aus der Welt zu schaffen, unerlässlich war es jedoch stets die besten Klänge im Ohr zu haben, nicht die mangel- oder fehlerhaften, besonders am Ende eines Tags, bevor man die Querflöte in ihren Kasten bettete. Gern stand Metnev spät abends am Fenster seines Hotelzimmers, seine Haare gelöst, blickte hinaus, wo sein gespiegeltes Ebenbild in der Glasscheibe mit der erleuchteten Nachtlandschaft draußen verschmolz.
Am Abend des Mannheimer Konzerts ließ er sich jedoch nur erschöpft auf sein Bett fallen. Metnev streifte nicht einmal die Stiefel von seinen Füßen, angelte sich stattdessen ein Sprudelwasser aus der Minibar, schluckte seine Tranquilizer und schaltete den Fernseher ein, ohne ein Wort auf dem deutschen Kanal zu verstehen, was Metnev in diesem Moment jedoch keineswegs störte, im Gegenteil: Es war eine Erleichterung, allein dem Singsang der Stimmen zu lauschen, ohne dem Sinn einzelner Wörter oder Sätze folgen zu müssen. Um drei Uhr nachts erwachte er, auf dem Bildschirm räkelten sich Frauen, streckten wackelnde Pobacken in die Kamera, ließen eine manikürte Zeigefingerspitze zwischen o-förmigen Kusslippen verschwinden, bevor bunte Telefonnummern quer über den Bildschirm blinkten. Metnev entkleidete sich, löschte Fernseher und Licht, legte sich schlafen.
Am Vormittag des Folgetags musste Metnev bereits um elf Uhr in Begleitung eines Fernsehteams in der Aula eines Mannheimer Gymnasiums auftreten. Unter akustisch unzumutbaren Bedingungen spielt er Paganinis Caprice, bei der ihm während eines Laufs die Luft ausgeht und er zusätzlich Atem holen muss. Das war ihm bei diesem Stück – die Caprice hat er erstmals mit elf zu üben begonnen – schon seit Jahren nicht mehr passiert. Zudem spielt er das Rondo (Presto) aus Carl Philipp Emanuel Bachs Hamburger Sonata in G und eine eigene Crossover-Transkription, Smells like Teen spirit, die von den Schülern mit begeisterten Pfiffen aufgenommen wird.
Daraufhin hält er eine kurze Ansprache, in der er sich für die Bedeutung und Förderung der Musik für Kinder und Jugendliche ausspricht. Anschließend haben die Schüler 15 Minuten Zeit für Fragen. Obwohl Metnevs Laufbahn hinreichend bekannt ist, zielen die meisten Meldungen auf biografisches – immerhin beginnt der Sohn ukrainisch-portugiesischer Eltern mit fünf das Flötenspiel, sein Debüt gibt er mit zwölf unter Leitung von Zubin Mehta mit den New Yorker Philharmonikern; als dreizehnjähriger bekommt Metnev bereits ein professionelles Management und spielt 60 Konzerte im Jahr. Sein Studium absolviert er am Conservatoire de Paris. Nach seinem Zusammenbruch und der musikalischen Krise gerät der 21-jährige zeitweise in Vergessenheit; er studiert vier Semester Psychologie und Archäologie, und feiert erst drei Jahre später sein Comeback, mit neuem Management und Plattenlabel. Wiederholt nimmt Metnev nun Crossover-Titel in sein Repertoire auf, die Flöten-Transkriptionen der Pop- und Rocksongs schreibt er selbst.
Von den Schülern nach seinen eigenen Anfängen befragt, erzählt Metnev, dass er in eine Musikerfamilie hineingeboren wurde. »Bevor ich gesprochen habe, habe ich gesungen. Meine Mutter hatte mir zum Einschlafen etwas vorgesungen. Sie war aus dem Kinderzimmer getreten, als sie draußen im Flur vernahm, wie ich das eben gehörte Gutenachtlied wiederholte. Da war ich ungefähr ein Jahr alt. Freilich sang ich das Lied ohne Text, nur die Melodie.«
Auf die Frage, was er neben der Musik mit Deutschland verbinde, antwortet er mit eher spöttischem Lächeln: »Autobahn, Weißwurst, Bier.« Und, in einem Nachsatz, der im Unterschied zu den anderen keiner Übersetzung bedarf, Metnev spricht ihn mit starkem Akzent auf Deutsch, der Satz wird sofort mit großem Applaus begrüßt: »Hör’, es klagt die Flöte wieder.«
»Eine letzte Frage«, verkündet seine Assistentin, sie ist neben Metnev auf die Bühne getreten, sie hat die Zeit im Blick, nimmt zum Schluss die Meldung einer Schülerin in der ersten Reihe entgegen: Wie viel man üben müsse, um Soloflötist zu werden?
»Mehr«, erwidert Metnev: »Aber natürlich muss auch das Üben geübt werden. Letztlich sucht jeder Musiker jenen Moment, in dem er sein Instrument nicht mehr zu beherrschen sucht, sondern das Spiel von der Musik getragen wird: Die Musik spielt dich. Aber das passiert nur sehr selten.«

Wenige Stunden darauf steht der Flötist auf dem überfüllten Mannheimer Bahnhof. »Das kann was geben, wir kommen genau in den Feierabendverkehr«, seufzt die TV-Promoterin zum Gruß, sie streckt Metnev ihre Hand entgegen. Am Abend tritt Metnev in der Latenight-Show in Hamburg auf. Da der Vorverkauf zunächst schleppend angelaufen war, hat Metnevs Management für die Europakonzerte nationale Promoter engagiert. Drei Journalisten werden Metnev auf der Fahrt nach Hamburg begleiten, »Exklusivinterviews«, erklärt die Promoterin: »Wir können sie nacheinander dran nehmen, oder alle auf einmal.«
»Egal, Niklas muss erstmal etwas essen«, erklärt seine Assistentin. Metnev nickt, er trägt eine schwarze Pelzjacke mit aufgestelltem Kragen, den Flötenkoffer trägt er in einer Tasche um die Schulter, er gebe das Instrument niemals aus der Hand, so Metnev kürzlich gegenüber dem Lufthansa-Magazin: »Das mag ein Tick sein, aber mittlerweile betrachte ich die Flöte als ein weiteres Gliedmaß von mir.«
Im überfüllten Bordrestaurant, auf die Frage des Kellners, was Metnev essen wolle, erwidert seine Assistentin: »Wienerschnitzel mit Pommes, den Beilagensalat ohne Zwiebeln.«
»Mit den Möglichkeiten der Flöte spielen, anstatt sich durch die Möglichkeiten der Flöte bestimmen zu lassen«, erklärt er unterdessen der Redakteurin von Flöte Aktuell: »Die Flöte flötistisch rehabilitieren und zugleich solistisch auf einer Ebene mit den großen Pianisten und Geigern spielen.«
»Und ist es tatsächlich richtig, dass Sie verschiedene Tonarten als Farben wahrnehmen?«
»Ja«, erwidert seine Assistentin anstelle Metnevs, bevor dieser sich umwenden kann, um dem Bunte-Journalist zu antworten, der direkt in Metnevs Rücken sitzt, er hat nur noch einen Platz in der angrenzenden Sitzgruppe erhalten.
»D-Moll blau, G-Dur grün«, fügt die Assistentin hinzu.
»Sind Sie endgültig dabei, in die Popklassik zu wechseln?«, schaltet sich die Feuilleton-Journalistin ein: »Nach Ihrer unerwarteten Rückkehr vor wenigen Jahren sprechen einige Kritiker von einer neuen Gelassenheit und Reife, andere bemängeln hingegen eine Veräußerlichung Ihres Spiels, ein Verlust an Tiefe zugunsten von Effekthascherei; Crossover-Transpositionen wie Smells like Teen Spirit oder Master of Puppets scheinen dies zu bestätigen. Handelt es sich um einen Befreiungsschlag aus dem Klassikkorsett oder eine Vergeudung Ihres Talents?«
»Nein«, erwidert Metnev: »Die Erweiterung des seit jeher begrenzten Flötenrepertoires habe ich von Anfang an verfolgt. Wenn man sein zu Hause nicht verlässt, lernt man nichts Neues kennen. Kollegen werden bestätigen, dass ich mich technisch nach wie vor auf dem höchsten Niveau bewege. – Der große Flötist Aurèle Nicolet ist ein Fan von mir.«
»Sie trinken aber keinen Alkohol?«, die Stimme gehört dem Bunte-Journalist in Metnevs Rücken.
»Nein, vor Auftritten niemals. Der Alkohol geht direkt in die Finger«, antwortet Metnevs Assistentin an seiner Stelle.

Der ICE ist mit maximaler Reisegeschwindigkeit unterwegs, 240 km/h, die Fahrdauer Mannheim – Hamburg beträgt laut Fahrplan viereinhalb Stunden. Mit gierigen Bissen verschlingt Metnev sein Schnitzel, die Pommes greift er mit den Fingern, er ist tatsächlich hungrig, macht sich eher über das Essen her, als dass er es zu sich nimmt.
»Was hört man, wenn man Metnev hört? Stargeiger oder -pianisten kennt man viele, aber ein Starflötist, das hat es noch nicht gegeben?!«
Metnev leert seinen Teller, schluckt die letzten Bissen, wischt sich mit der Serviette über den Mund, schiebt den Teller zur Seite. Erst dann wendet er sich um:
»Das war tatsächlich höchste Zeit, seit dem Frühstück habe ich nichts gegessen.« Er lacht, bläht seine Backen auf, lässt die Luft zwischen den aufeinander gelegten Lippen entströmen. Seine Assistentin räumt seinen Teller ab.
»Dann lassen Sie mich anders fragen«, wiederholt die Feuilleton-Journalistin: »Wie ist es zu erklären, dass Ihr Flötenspiel eine derartige Begeisterung auslöst, die man sonst allenfalls von Pianisten oder Geigern kennt?«
»Genau, das würde mich auch interessieren«, schaltet sich der Journalist in Metnevs Rücken ein: »Warum macht man das Ganze, 200 Shows im Jahr. Ich will es so phrasieren: Was bewegt Metnev?«
»Die Musik. Von Nicolet habe ich gelernt, dass die Musik eine Sprache ist, in der ich mich ausdrücken kann. Im Orchester kann man sich verstecken, nicht mit einer Solokarriere. Da muss man mit dem Publikum direkt in Kontrakt treten können, mental und emotional. Ich sage es so: Wenn Du da vorne stehst, musst du eine packende Geschichte erzählen.«
»Ich will nochmal nachhaken, die Flöte … Kulturgeschichtlich ist der Ruf der Flöte wechselhaft. Erst die technischen Neuerungen der böhmschen Patentflöte von 1843 machen die Querflöte wieder attraktiv als modernes Orchesterinstrument, jedoch kaum als Soloinstrument.«
»Aber unabhängig von den Moden ist der Klang der Flöte von allen Klängen, die der Mensch mithilfe eines Instruments erzeugt, am reinsten«, unterbricht Metnev die Journalistin, er hat seine Ellenbogen auf den Tisch, das Kinn in den Handteller gestützt, er wirkt jetzt nachdenklich: »Die Flöte ist die natürlichste Erweiterung der Sprech- und Singstimme. Der Atem wird unmittelbar in Klang verwandelt, nichts stört die Einheit von Spieler und Ton: keine Mechanik, kein Rohrblatt, Schlegel oder Bogen. Darin liegt die Magie der Flöte. Der gute Flötist unterscheidet sich vom schlechten darin, dass er trotz der natürlichen Limitationen der Flöte so spielt, als seien ihre Möglichkeiten unbegrenzt.«
»Und es gibt kein Volk auf dieser Erde, das keine Flöten herstellen und darauf spielen würde«, ergänzt seine Assistentin: »Auf den Philippinen spielt man bekanntlich die Nasenflöte.«
»Richtig«, fährt Metnev fort: »Die Flöte ist universell. Über die Ursprünge der Musik können wir freilich nur rätseln. Aber Musikhistoriker vermuten, dass man sich unsere Urahnen in einer Höhle vorstellen muss. Der erste Musiker hält die Speiche eines Schwanenflügels, das Mark wurde herausgelöst und Grifflöcher in den Knochen gebohrt. Am Abend sitzt dieser erste Musiker im Dunkeln, nur das Feuer wirft einen Schein, er bläst in den Knochen. Atem wird zu Klang, der durch die rhythmische Tonfolge Zeit gestaltet: Eine neue Zeiterfahrung – die Musik ist geboren. Die Schwanenflügelflöte gehört zu den ältesten Instrumenten, die gefunden wurden, sie ist über 40.000 Jahre alt; unter anderem übrigens in Deutschland, auf der Schwäbischen Alb.«
Metnev bricht seine Gedanken abrupt ab, erhebt sich, »ich muss mal.«
Auf dem Weg zur Toilette begegnet Metnev dem Bunte-Journalisten, der ihn sogleich zur Seite nimmt, eine Frage noch, er habe gelesen, dass seine Querflöte aus reinem Gold sei?
»Ja«, erwidert Metnev, »14 Karat.«

Auf der Bordtoilette pinkelt Metnev, holt anschließend seine Flöte hervor. Kaum hat er sich mit einigen Tonleitern und Arpeggien warm gespielt, bremst der ICE plötzlich scharf. Metnev wird mit der blitzschnell zur Seite gedrehten Schulter gegen die Armaturen gedrückt, seine Flöte hält er fest, das Fahrwerk rattert, quietscht, vom Flur erschallen Flüche, dann steht der Zug mit einem letzten Ruck still. Metnev lauscht hinaus, das Milchglas verwehrt jede Sicht. Er betupft sein Gesicht mit Wasser und nimmt das Spiel wieder auf, ohne sich von der Durchsage des Lokführers, der die Passagiere informiert, dass eine Signalstörung vorliege und die Weiterfahrt sich auf unbestimmte Zeit verzögere, stören zu lassen. Auch als es kurzzeitig finster wird, das Deckenlicht flackert, dann vollständig ausfällt und es periodisch an die Türe klopft – einmal ist es seine Assistentin, die seinen Namen ruft – lässt Metnev sich nicht irritieren, nutzt den Zwischenfall um in Ruhe zu üben. Erst als er den Paganini zu seiner Zufriedenheit gespielt hat, verstaut er die Flöte, bindet seine Haare neu, kehrt zur Sitzgruppe zurück.
Von dem eindrücklichen Moment erfährt er erst zwei Tage später, als ihm seine Assistentin aus dem Zeitungsartikel mit dem Titel »Ein Lied in allen Dingen« vorliest, der davon berichtet, wie der ICE, der den Starflötisten befördert, aufgrund einer Signalstörung zwischen Göttingen und Hannover unerwartet zum Halten kommt, links und rechts nur Äcker und Wiesen, die Innenbeleuchtung ist kurzzeitig ausgefallen, als plötzlich diese Melodie von der Bordtoilette ertönt, schreibt die Journalistin: Das komplette Zugabteil verstummt, lauscht gebannt.
Auch abends in der Latenight-Show macht Metnev eine gute Figur. Auf die Frage, wie es sich anfühle, den Speedrekord im Flötenspielen aufgestellt zu haben, antwortet er: »Das schnelle Spielen hat mich im Grunde nie interessiert.«
Und, mit Blick in die Kamera: »Mich haben von Anfang an die langsamen Sätze fasziniert. Das Wesen der langsamen Sätze ist schwerer zu erfassen, weil sie tiefgründiger sind als die schnellen. Langsame Sätze müssen beredet sein, man muss sie ausfüllen können: mit eigenen Ideen, Farben, Nuancen.«
Nach der Werbepause spielt er Paganini. Beim Abschied, der nächste Gast wartet schon hinter den Kulissen, Metnev lacht, wedelt mit der erhobenen Flöte:
»Ein hohles Rohr, in dem Luft schwingt – das ist das ganze Geheimnis.«

Vom Sender lässt Sich Metnev direkt ins Hotel bringen. Die Stationen in den folgenden Tagen sind: Köln, Berlin, Ludwigshafen, München, Straubing, Dresden, Stuttgart, Leipzig und zum Schluss das Wiederholungskonzert in Mannheim. Nahezu alle Konzerte sind ausverkauft, die Resonanz positiv, obwohl Metnev die Erschöpfung von Tag zu Tag deutlicher anzusehen ist. Auf die Aufmunterungen seiner Assistentin, die ihn an seine eigenen Worte gemahnt, dass gute Musik nur aus einer guten Laune heraus entstehe, reagiert er nicht. Zu den Soundchecks in Dresden, Stuttgart, Leipzig und zuletzt Mannheim erscheint Metnev verspätet oder gar nicht.
Zum letzten Konzert am 23. in Mannheim steigt Metnev wie 19 Tage zuvor, diesmal jedoch mit einer Verspätung von 17 Minuten die schmale Montagetreppe hinauf unter das Dach der SAP Arena, vor ihm der Bühnentechniker und Veranstaltungsassistent, beide plaudern mit gesenkter Stimme, das Lochblech scheppert unter den Tritten von Metnevs Lederstiefeln. Als das Seil Metnev gegen 20.24 Uhr mit einem sanften Ruck anhebt, ihn unmittelbar darauf unter das Trittgitter absinken lässt, ist von unten, aus den Zuschauerrängen, kein Laut mehr zu vernehmen.
Als Simultanübersetzer bin ich Metnev auf der gesamten Tournee gefolgt, selbst bei der finalen Show in Mannheim, bei der es kaum nötig gewesen wäre, da keine Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Technikern und Metnev zu erwarten waren. Da der Simultanübersetzer seine Rolle stets dann am besten ausfüllt, wenn er als Person selbst nicht in Erscheinung tritt, berührte mich dies jedoch kaum. Nur anfangs habe ich Metnevs Sätze trotz allem in Gedanken still mitgesprochen. – Jetzt übertönt jedoch das unbeschreibliche Geräusch, hart und metallisch, Metnevs Stimme in meinem Ohr.