Katja Petrowskaja, BERLIN (D)

Geboren 1970 in Kiew, lebt in Berlin. Katja Petrowskaja studierte Literaturwissenschaften in Tartu (Estland) und promovierte 1998 in Moskau.

Die Autorin wurde von Hildegard Elisabeth Keller zu den TDDL 2013 eingeladen.

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Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

vorgetragen bei den 37. Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Katja Petrowskaja

Lasse der Herrgott Dich so viel wissen, wie ich nicht weiß, sagte Babuschka immer wieder. Sie wiederholte den Satz leicht beleidigt, aber auch stolz. Ihr Enkel Marik, mein Vater, war ungewöhnlich belesen. Bis zu seinem neunten Lebensjahr hatte er bereits Hunderte von Büchern verschlungen und stellte den Erwachsenen, wie er dachte, ganz einfache, elementare Fragen. Babuschka wusste meistens keine Antwort. Auch den Ausspruch von Sokrates, Ich weiß, dass ich nichts weiß, kannte sie nicht. Vielleicht wollte sie mit ihrem Satz sich selbst trösten oder ihren klugen Enkel zurechtweisen, denn Babuschka beharrte auf ihrer Devise, die nach einem antiken Aphorismus klang, Lasse der Herrgott Dich so viel wissen, wie ich nicht weiß.

Außer diesem Spruch sind von meiner Urgroßmutter, der Babuschka meines Vaters, nur noch zwei Dinge geblieben: eine Photographie und eine Geschichte.

Als die Familie im August 1941 vor der deutschen Armee aus Kiew floh und mein Großvater Semjon an die Front musste, blieb Babuschka allein zu Hause in der Engelsstraße, einer Straße, die steil auf den Prachtboulevard Krestschatik hinab führte.

Babuschka wurde nicht mitgenommen. Sie konnte sich kaum noch bewegen, und während des ganzen Kriegssommers hatte sie es nicht geschafft, die Treppe hinunter und auf die Straße zu gehen. Sie mitzunehmen, war ausgeschlossen gewesen, sie hätte den Weg nicht durchgehalten.

Die Evakuierung erinnerte an einen Datscha-Ausflug, und Babuschka wurde mit dem Gedanken zurückgelassen, dass sich Alle wiedertreffen würden, wenn der Sommer vorüber wäre. Der Juli forderte den Wechsel, und alle diese Menschen auf der Straße hatten Koffer und Bündel, wie immer im Sommer, nur die Eile und dass es zu viele auf einmal waren, verrieten, dass das Geschehen trotz der passenden Jahreszeit und der üblichen Habseligkeiten nichts, aber auch gar nichts mit einem Datscha-Ausflug zu tun hatte.

Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau.
Wie‚ vielleicht!? fragte ich empört. Du weißt nicht, wie sie hieß?
Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater. Ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter.

Vielleicht Esther ist in Kiew geblieben. Sie bewegte sich in der plötzlich leer gewordenen Wohnung mit Mühe, das Essen brachten die Nachbarn. Wir dachten, fügte mein Vater hinzu, wir kämen bald zurück, aber wir sind erst nach sieben Jahren zurückgekommen.

Anfangs änderte sich in der Stadt nichts Grundlegendes. Es waren einfach die Deutschen gekommen. Als auch Babuschka der Aufruf Alle Juden der Stadt Kiew müssen sich pünktlich einfinden u.s.w. erreicht hatte, begann sie sofort, sich bereit zu machen. Die Nachbarn versuchten, es ihr auszureden. Gehen Sie nicht! Sie können doch gar nicht laufen!

Die Kontrolle war lückenlos. Die Hausmeister kämmten die Adressen durch, die Listen der Einwohner. Damit auf Russisch Alle und auf Deutsch Sämtliche gehen, wurden Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser und Altersheime durchsucht. Das Erscheinen wurde von deutschen und ukrainischen Patrouillen kontrolliert. Aber im Haus Nummer 11 in der Engelsstraße war der Hausmeister bereit, diese Alte nicht zu melden, sie außer Acht zu lassen, nicht etwa, um sie vor dem Tod zu retten, nein, an den Tod dachte man gar nicht, oder besser gesagt, man dachte nicht bis zum Tod, man dachte das Geschehen nicht wirklich zu Ende, man hinkte den Ereignissen hinterher. Überlegen Sie einfach selbst: Wozu soll eine Greisin sich auf einen Weg begeben, selbst wenn es ins gelobte Land ginge, wenn sie nicht laufen kann. Gehen Sie nicht, sagten die Nachbarn. Sie blieb stur.

Das Stadtzentrum brannte seit ein paar Tagen. Die Explosionen, welche die Stadt in Schrecken versetzten, hörten nicht auf. Häuser gingen in die Luft, mit einer fatalen Regelmäßigkeit. Zuerst das überfüllte Gebäude der Okkupationsverwaltung, dann ein Kino während einer Vorführung, ein Soldaten-Klub und ein Munitionslager. Es nahm kein Ende. Die Häuser wurden von der sich zurückziehenden sowjetischen Armee vermint und per Funk gesprengt. Nur ein paar Tage und der Krestschatik lag in Trümmern. Im ganzen Zentrum loderte Feuer. Die Deutschen, die sich erst fast friedlich in der Stadt niedergelassen hatten, wurden zuerst ratlos, dann gerieten sie in Panik und verfielen in Raserei angesichts dieser damals noch unbekannten Art des Partisanenkriegs. Es schien, dass der Aufruf an Alle und Sämtliche eine logische Folge war, eine Vergeltungsaktion gegen die angeblich Schuldigen, als ob sie nicht von vornherein schuldig gewesen wären und längst verurteilt, als ob dieser Aufruf spontan erlassen worden sei, als ob nicht alles in einer längst festgelegten Reihenfolge in die Tat umgesetzt werden sollte. Aber davon und auch von dem, was in der Stadt los war, nicht einmal einen halben Kilometer von ihrem Haus entfernt, wusste Vielleicht Esther anscheinend nichts.

Selbst die Bäckerei an der Ecke Engelsstraße und Meringowskaja war, wie die Nachbarn ihr berichteten, immer geöffnet. Nur drei Stufen tiefer. Die Explosionen nicht gehört? Den Brandgeruch nicht gespürt? Das Feuer nicht gesehen?

Wenn Alle, dann Alle, sagte sie sich. Als ob es eine Ehrensache wäre. Und sie ging hinunter. Alles andere stand still. Wie genau sie hinunter ging, verschweigt uns die Geschichte. Obwohl, nein. Die Nachbarn müssen ihr geholfen haben, wie sonst? Auf der Kreuzung unten machten die Straßen ihre Biegungen, rundeten sich in der Ferne, und man spürte, dass die Erde sich doch dreht. Auf der Straße war sie dann allein.

Außer einer Patrouille war in diesem Moment niemand zu erblicken. Vielleicht waren Alle schon weg. Zwei flachsblonde, stramme, beinahe elegante Männer flanierten gemächlich und pflichtbewusst auf der Kreuzung. Hin und her. Es war hell und öde, wie in einem Traum. Esther ging zur ihnen und sah: Es war eine deutsche Patrouille.

Wie viele ukrainische Polizisten am ersten Tag der Operation in den Straßen Kiews unterwegs waren, um das Erscheinen Aller zu kontrollieren, hat niemand berechnet. Auch die Historiker wissen es nicht genau. Es gab viele Ukrainer, aber vermutlich oder sogar bestimmt näherte sich Babuschka lieber den Deutschen als den Ukrainern, denen sie misstraute. Aber hatte sie eine Wahl?

Sie ging zu ihnen, aber wie lange dauerte dieses ging? Hier folge jeder seinem eigenen Atem.

Ihr ging entwickelte sich wie ein episches Geschehen, nicht nur weil Vielleicht Esther sich wie die Schildkröte aus den Aporien von Zenon bewegte, Schritt für Schritt - langsam, aber sicher -, sie war so langsam, dass niemand sie einholen konnte, und je langsamer sie ging, desto unmöglicher war es, sie einzuholen, sie anzuhalten, sie zurückzubringen und erst recht, sie zu überholen. Nicht einmal der schnellfüßige Achilles hätte das gekonnt.

Sie ging ein paar Meter die Engelsstraße hinunter, eine Straße, die früher Lutheranskaja hieß und heute wieder so heißt, ja, nach Martin Luther, eine Straße, an der die schönsten Bäume wuchsen, wo sich seit einem Jahrhundert deutsche Geschäftsleute niedergelassen hatten und wo, eine ganz oben und die andere an der Ecke Bankowaja, schon im vorletzten Jahrhundert zwei deutsche Kirchen gebaut worden waren, von denen eine direkt hinter meiner ersten Schule stand. Vierzig Jahre nach Babuschkas Gang lief ich jeden Tag an diesen deutschen Kirchen vorbei.

Zuerst hieß sie Lutheranskaja, dann Engelsstraße – Straße von Engels oder Straße der Engel. Alle, die nicht wussten, in welchem Reich diese Straße lag, konnten denken, sie sei tatsächlich den Engeln gewidmet. Es passte zu dieser Straße, die so unmöglich steil war, so abschüssig, dass sie jeden Hinabsteigenden beflügelte. Ich war ein sowjetisches Kind, kannte Friedrich Engels und erdete meinen Schritt.

Vielleicht spiegelte sich in Vielleicht Esthers verzögertem Gang ein sprachlicher Irrtum wider. Für die alten Kiewer Juden war Jiddisch immer noch eine Muttersprache, egal ob sie religiös waren und die Traditionen achteten oder ob sie ihren Kindern hinterherstürzten, geradewegs vorwärts in die helle sowjetische Zukunft. Viele jüdische Alte waren stolz auf ihr Deutsch, und als die Deutschen kamen, dachten sie möglicherweise, trotz all dem was da schon erzählt wurde, was durch die Luft flog und nicht mehr als Lüge bezeichnet werden konnte, dass sie, gerade sie, die nächsten Verwandten der Okkupationstruppen seien, ausgestattet mit dem besonderen Recht derer, für die das Wort alles ist. Den Gerüchten und Berichten, die aus Polen und aus der zum großen Teil schon besetzten Ukraine nach Kiew drangen, wurde einfach nicht geglaubt. Und wie hätte man solchen Gerüchten auch glauben können?

Den Alten – und nicht nur ihnen – war das Jahr 1918 noch in Erinnerung, als nach den militärischen Wirren und dem ständigen Drehen des Machtkarussells die Deutschen in die Stadt einmarschiert waren und dafür gesorgt hatten, dass eine gewisse Ordnung herrschte. Und nun schien mit den Deutschen plötzlich wieder so eine Ordnung einzuziehen. All diese exakten Anweisungen: Alle Juden der Stadt Kiew und ihrer Umgebung müssen sich am Montag den 29. September 1941 um 8 Uhr morgens an der Ecke Melnikova und Dokhturovska Straße (an den Friedhöfen) einfinden. Deutlich, klar und verständlich: Alle, 8 Uhr und die genaue Adresse. Und weder die Friedhöfe noch das abwertende Wort Żyd auf den russischen Plakaten haben sie beunruhigt. Vielleicht war es die leichte Schattierung der polnischen und der west-ukrainischen Sprache, in der man für Juden kein anderes Wort hat als Żyd, das im Russischen so kränkend klingt. Es stand da noch etwas über Erschießung. Bei Zuwiderhandlung – Erschießung. Bei Entwendung von Gegenständen durch Juden – Erschießung. Also nur, wenn man sich nicht an die Regeln hielt.

In der Zeit, in der Babuschka ging, hätten Schlachten ausbrechen können, und Homer hätte begonnen, die Schiffe aufzuzählen.

Eine der ersten Geschichten, die meine Mutter mir vorgelesen hat und die sie mir danach, wer weiß warum, noch mehrmals nacherzählte, als ob in diesen Wiederholungen eine belehrende Kraft stecke, war die Geschichte von Achilles und seiner Ferse. Als seine Mutter ihn im Fluss der Unsterblichkeit badete und ihn dabei an der Ferse festhielt, sprach meine Mutter mit schmeichelnder Stimme, als ob die Geschichte schon zu Ende sei; sie hielt ihn an der Ferse, sagte sie, ich weiß nicht mehr, war es die linke oder die rechte - aber vielleicht hat sie das auch gar nicht erwähnt, und ich bin es, die sich damit beschäftigt, ob es die linke war oder die rechte, obwohl es überhaupt keine Rolle spielt.

Der Fluss war kalt, der Säugling schrie nicht, es war im Schattenreich und Alle glichen den Schatten, sogar der dicke Säugling sah aus, als wäre er ausgeschnitten aus Papier. Sie badete ihn im Fluss, erzählte meine Mutter, damit er unsterblich wurde, aber die Ferse hatte sie vergessen. Ich erinnere mich daran, wie mich an dieser Stelle die Angst jedes Mal so packte, dass meine Seele in die Fersen rutschte, wie man auf Russisch sagt, wenn man von Furcht ergriffen wird, vielleicht ist es sicherer für die Seele, wenn sie sich in die Fersen zurückzieht und dort bleibt, bis die Gefahr vorbei ist. In diesem Moment konnte ich mich nicht mehr bewegen und kaum noch atmen, ich wusste, dass die Ferse, die Achilles‘ Mutter hielt, etwas Unabwendbares verkörperte, etwas Verhängnisvolles. Ich dachte auch an den bösen Zauberer aus dem Märchen, Кощей Бессмертный, Koschej der Unsterbliche, der zwar sterblich war, aber sein Tod hockte in der Nadelspitze, die Nadel im Ei, das Ei in der Ente, die Ente wohnte auf der Eiche und die Eiche wuchs auf einer Insel, von der niemand wusste, wo sie ist. Und hier – eine nackte Ferse! Ich sah den Schatten meiner Mutter an der Wand, der wie eine Gestalt auf einer Terrakotta-Amphore aussah, ich dachte an die Mutter von Achilles, an den schwarzen Styx und an das dämmrige Schattenreich, dann an unseren breiten Fluss, den ich jeden Tag auf dem Weg zur Schule überquerte, an unser Schattenreich und wieder an meine Mutter, die die Geschichte vom schnellfüßigen Achilles unvorstellbar lang erzählte, episch und abschweifend, sie erzählte von Troja, von der Freundschaft mit Patroklos und vom Zorn. Sie stieß das Wort Zorn mehrmals aus, und zornig erzählte sie weiter, wie Achilles wegen seiner Freundschaft mit Patroklos starb, direkt in die Ferse von einem Pfeil getroffen, den Paris schoss und Apollon leitete. Ich verstand nicht, warum Apollon, Patron und Beschützer der Musen, diesen Pfeil an den Ort geleitet hat, wo in diesem Moment auch meine verängstigte Seele verweilte.

Und so wurde die Geschichte von Achilles zu meiner eigenen Blöße, zu meinem Schwachpunkt, denn meine Mutter hat mich in dieser Geschichte gebadet, im Fluss der Unsterblichkeit, als ob ich so den Schutz der Unsterblichen hätte erhalten können, aber meine Ferse hat sie vergessen, meine Ferse, wo meine Seele sich, geplagt von Angst und in Vorahnung eines Verhängnisses, zusammenrollte, und ich begriff, dass jeder eine Blöße haben muss, die Ferse, die Seele, der Tod, - der einzige Beweis der Unsterblichkeit, eigentlich.

Eigentlich waren die Transportmittel entscheidend. Wer konnte, floh aus Kiew. Als Semjon schrie, dass die Familie in 10 Minuten unten stehen solle, dort wo der Lastwagen wartete, stand der Fikus schon auf der Ladefläche. Der Nachbar hatte ihn, verwirrt von dem Durcheinander, da hingestellt, bereit zur Evakuierung. Auf der Ladefläche waren schon zwei Familien, Säcke, Koffer, Bündel, und eben der Fikus im Kübel, das Symbol von Heim und Herd. Für eine weitere Familie war kein Platz. Mit einem Ruck nahm Semjon den Fikus herunter und schob die Koffer auseinander, um Platz für seine Frau und seine beiden Söhne zu schaffen. So blieb der Fikus am Straßenrand der abschüssigen Luteranskaja uliza stehen.

Ich sehe die Blätter dieses Fikus, die nun, im Jahre 1941, im Takt der Weltereignisse nicken. Diesem Fikus verdanke ich mein Leben. Indirekt. Mein Vater – direkt.

Ich lese, was mein Vater über seine Evakuierung geschrieben hat. Alles stimmt, nur fehlt der Fikus, von dem er mir früher erzählt hatte. Alles ist heil und am richtigen Platz: ein verstörter kurzsichtiger Junge – mein zukünftiger Papa -, sein entschlossener Vater in der neuen Uniform, der Lastwagen, die Nachbarn, die Koffer, die Bündel, das Durcheinander, die Hast. Alles ist da. Nur der Fikus im Kübel fehlt. Als ich den Verlust feststelle, verliere ich den Boden unter den Füßen. Hebel und Fixpunkt meiner Geschichte sind weg.

Dabei sehe ich den Fikus deutlich vor mir: allein und verlassen vor dem Elternhaus meines Vaters. Seine Blätter zittern im Takt der einmarschierenden Wehrmacht. Wenn ich dieses Getrampel höre, zu dem man Schostakowitsch pfeifen könnte, begreife ich, dass mein Vater nur deshalb überlebt hat, weil der Fikus vom Lastwagen geräumt wurde. Natürlich musste man den Fikus wegräumen. Es wäre absurd gewesen, wenn statt des Jungen der Fikus evakuiert worden wäre. Aber in der Logik der damaligen Ereignisse hätte auch dies normal sein können. Allein die Vermutung, dass dieser kleine Junge durch eine zufällige, sei es sogar eine fiktive Verkettung von Umständen – stellen Sie sich das einmal vor – in Kiew hätte bleiben müssen, stellt meine Existenz in Frage, nimmt mir die Möglichkeit meiner Geschichte. Man verliert eine einzige Karte, und schon kann man nicht mehr weiterspielen.

Die Stammesbrüder dieses Jungen, die, die in der Stadt geblieben waren, obwohl, Stammesbrüder ist ein neutraler Begriff, lassen Sie uns Juden sagen, es ist einfacher, einfacher in dem Sinne, dass man es besser versteht, als ob man es besser verstehen könnte, aber es ist leider oder fatalerweise wirklich verständlicher, post factum natürlich, erst post factum, wenn man weiß, was danach passiert ist, aber wirklich gerechtfertigt wird das, was passiert ist, dadurch trotzdem nicht, also, die, die geblieben waren, wurden in Babij Jar zusammengetrieben, oder, wie meine Mutter schreibt, in BJ, als ob alle wüssten, was BJ bedeutet oder als ob sie diesen Ort wirklich, und ich meine wirklich, nicht beim vollen Namen nennen kann. Und dort wurden sie erschossen. Aber das wissen Sie bestimmt. Kiew ist von hier genauso weit entfernt wie Paris.
Und jetzt weiß ich, wozu ich meinen Fikus brauche.

Papa, du hast den Fikus vergessen.
Welchen Fikus? Ich erinnere mich an keinen Fikus. Koffer, Bündel, Säcke, Kisten. Aber ein Fikus?
Papa, aber du hast mir doch von dem Fikus erzählt, der vom Lastwagen wieder heruntergenommen wurde.
Was für ein Fikus? Ich erinnere mich nicht daran. Vielleicht habe ich das vergessen.

Ich war auf den Fikus fixiert, ich war fikussiert. Ich verstand nicht, wie man so etwas vergessen kann. Ich verstand nicht, was jemandem passiert sein musste, um so etwas zu vergessen.

Der Fikus scheint mir die Hauptfigur, ja, wenn nicht der Weltgeschichte, dann meiner Familiengeschichte zu sein. In meiner Fassung hat der Fikus das Leben meines Vaters gerettet. Doch wenn selbst mein Vater sich nicht mehr an den Fikus erinnern kann, dann hat es ihn vielleicht tatsächlich nicht gegeben. Als er mir von der Evakuierung erzählt hat, habe ich in meinem Bild möglicherweise die fehlenden Details in die Lücken des Straßenraums eingefügt.
Gab es den Fikus, oder ist er eine Fiktion? Wurde die Fiktion aus dem Fikus geboren – oder umgekehrt? Vielleicht werde ich nie feststellen, ob der Fikus, der meinen Vater gerettet hat, überhaupt irgendwann existierte.

Ich rufe meinen Vater an, und er tröstet mich.

Sogar wenn er nicht existiert hat, sagen solche Fehlleistungen manchmal mehr aus als eine penibel geführte Bestandsaufnahme. Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht.

So wurde mein fiktiver Fikus als literarischer Gegenstand rehabilitiert.
Noch keine Woche ist vergangen, als mein Vater zu mir sagt: Ich glaube, ich erinnere mich an einen Fikus. Vielleicht. Oder habe ich den Fikus jetzt von dir?

Wenn mein Großvater diesen fragwürdigen Fikus nicht von der Ladefläche heruntergenommen hätte, hätte der neunjährige Junge, der später mein Vater wurde, keinen Platz in der Arche des Lastwagens bekommen, wäre er nicht auf die Liste der Überlebenden geraten, würde ich nicht existieren. Da es keinen Fikus gegeben hat, es uns aber gibt, bedeutet dies, dass es ihn doch gegeben hat, oder auf jeden Fall muss es ihn gegeben haben, denn wenn es ihn nicht gegeben hätte, gäbe es kein uns, wir hätten uns nicht retten können, ich sage wir und meine meinen Vater, denn wenn mein Vater nicht gerettet worden wäre, wie hätte er sich sonst an den Fikus erinnern können, und wie hätte er zuvor diesen Fikus vergessen können? Es hat sich also herausgestellt oder es könnte sich herausstellen, dass wir unser Leben einer Fiktion verdanken.

Cherr Offizehr, begann Babuschka mit ihrem unverkennbaren Anhauch, überzeugt davon, sie spreche Deutsch: Zeyn Zi so fayn, sagen Sie mir, was zoll ick denn machen? Ikh hob di plakatn gezen mit instruktzies far yidn, aber ich kann nicht so gut laufen, ikh kann loyfn azoy schnel.

Sie wurde auf der Stelle erschossen, mit nachlässiger Routine, ohne dass das Gespräch unterbrochen wurde, ohne sich ganz umzudrehen, ganz nebenbei. Oder nein, nein. Vielleicht fragte sie: Seien Sie so nett, Cherr Offizehr, sagen Sie bitte, wie kommt man nach Babij Jar? Das konnte doch wirklich lästig sein. Wer mag das schon, auf dumme Fragen antworten zu müssen?

Ich beobachte diese Szene wie Gott aus dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Vielleicht schreibt man so Romane. Oder auch Märchen. Ich sitze oben, ich sehe alles! Manchmal fasse ich mir ein Herz und komme näher heran und stelle mich hinter den Rücken des Offiziers, um das Gespräch zu belauschen. Warum stehen sie mit dem Rücken zu mir? Ich gehe um sie herum und sehe nur ihre Rücken. So sehr ich mich bemühe, ihre Gesichter zu sehen, in ihre Gesichter zu schauen – von Babuschka und von dem Offizier – wie sehr ich mich auch strecke, um sie anzuschauen und alle Muskeln meines Gedächtnisses, meiner Phantasie und meiner Intuition anspanne – es geht nicht. Ich sehe die Gesichter nicht. Verstehe nicht, und die Historiker schweigen.

Woher kenne ich diese Geschichte in ihren Einzelheiten? Wo habe ich ihr gelauscht? Wer flüstert uns Geschichten ein, für die es keine Zeugen gibt, und wozu? Ist es wichtig, dass diese Alte die Babuschka meines Vaters ist? Und was, wenn sie nie seine Lieblingsoma war?

Für diese Geschichte aber fanden sich tatsächlich Zeugen. 1948 kehrte die Familie nach Kiew zurück - sieben Jahre nach ihrer Datscha-artigen Evakuierung, nach Aufenthalten in Rostow, Aschchabad und mehreren Jahren in Barnaul im Altai-Gebiet. Das Haus auf der Engelsstraße war zerstört wie auch das gesamte Viertel. Vom Haus war nur eine Schachtel, ein Gerippe geblieben. Auf dem Balkon des fünften Stocks stand ein Bett, aber es führte kein Weg mehr zu ihm. Das Innere des Hauses war komplett weg, ebenso die Treppe. Auf einem deutschen Luftbild vom November 1941 kann man dieses Bett sehen, auf dem sich mein neunjähriger Vater noch im ersten Kriegssommer gesonnt hatte.

In Romanen treffen Opfer und Henker häufig in luftleeren Räumen aufeinander, als ob sie die einzigen Menschen auf der Welt wären, dazu verdammt, die ihnen zugeschriebenen Rollen zu erfüllen. Als Vielleicht Esther einsam gegen die Zeit lief, gab es in unserer Geschichte eine ganze Menge unsichtbarer Zeugen: Passanten, Verkäuferinnen in der Bäckerei drei Treppenstufen tiefer und Nachbarn hinter den Vorhängen dieser dicht bewohnten Straße, eine nirgendwo erwähnte, gesichtslose, anonyme Masse für die großen Flüchtlingszüge, Ermordungen und anderen Massenszenen der Kriegs- und Friedenszeiten. Sie sind die letzten Erzähler. Wohin sind sie alle umgezogen?

Mein Großvater Semjon suchte lange nach jemandem, der etwas über Babuschka wusste. Es war der Hausmeister des nicht mehr existierenden Hauses, der ihm alles erzählte. Es scheint mir, dass an diesem 29. September 1941 jemand am Fenster gestanden hat. Vielleicht.