Nikola Anne Mehlhorn, HEIDGRABEN (D)

Geboren 1967 in Hannover, lebt in Heidgraben bei Hamburg. Aufgewachsen in Norddeutschland, Frankreich und Argentinien. Studium Musik, Kultur- und Medienmanagement. Literarische Veröffentlichungen seit 1995.

Die Autorin wurde von Juri Steiner nach Klagenfurt zu den TDDL 2013 eingeladen.

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Nikola Anne Mehlhorn, HEIDEGRABEN (D): Foto: Dörte Baasch-TeichmannNikola Anne Mehlhorn, HEIDEGRABEN (D): Foto: Dörte Baasch-Teichmann

Nikola Anne Mehlhorn: Requiem der Vierzigjährigen (Romanauszug)

vorgetragen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Nikola Anne Mehlhorn

INTROITUS oder Spaghetti horrori

Rupert war wirklich tot, die anderen nur partiell. Beispielsweise Karas Mann: Oliver war leblos, seitdem sie sich kannten.
Kara setzte Wasser in dem kleinen verkalkten Kocher auf und nahm einen Teebeutel aus der Packung. Heute stand auf dem Teebeuteletikett:
WER DAS LEBEN
GENIESSEN KANN,
BRAUCHT KEINE
REICHTÜMER.
Kara blickte sich in ihrer alten Mietwohnung um. Reichtümer gab es hier nicht, Reichtümer gab es in Karas ganzem Leben nicht, weder materielle noch intellektuelle noch emotionelle. Kara fragte sich, wie sie unter diesen Umständen das Leben genießen sollte.
Sie kauerte sich auf einen der hölzernen Küchenstühle, nahm die Teetasse in beide Hände und schaute aus dem Dachfenster. Auf der Fensterbank waren Unmengen von Spielzeugautos, ein angebissener Keks, Musikernoten. Am Hamburger Mittagshimmel fraßen sich ungesund geränderte Regenwolken wie Melanome langsam vom linken zum rechten Fensterrand.
Auf dem Küchentisch darunter lag ein Teebeuteletikett in der Hoffnung, dass Oliver es lesen würde. Wahrscheinlich hatte er es übersehen, er war der achtlosteste Mensch, den sie kannte:
VON NATUR SIND DIE MENSCHEN
EINANDER NAH, DOCH DURCH
GEWOHNHEITEN SIND SIE EINANDER FERN.

Kara legte ihre Arme um die angezogenen Beine. Sie hatte den ganzen Vormittag Regenwürmer für das Mittagessen gesammelt, ziemlich mühsame Sache in dieser kühlen Jahreszeit. Die Tiere warteten in einem Schraubglas auf der laminierten Küchenarbeitsplatte. Heute sollte es Spaghetti geben, „Spaghetti horrori Regenwurmi“, dachte Kara.
Seit Jahren suchte sie für ihren Mann das Schlechte, Bräunliche, Eklige zusammen. Die welksten Salatblätter, die Apfelschnitze mit braunen Stellen. Sie handelte äußerst vorsichtig, schnitt den Ekel in kleinste Stücke, mischte ihn unter anderes Essbares, tarnte ihn mit frischen Zutaten.
Kara trank einen Schluck Tee und begann brodelnd Dampfendes am Küchenherd vorzubereiten. Als die Spaghetti weich wurden, öffnete Kara das Glas mit den Würmern. Die Tiere krümmten sich steif, sobald sie sie in das heiße Wasser warf, verblassten, ähnelten Drahtstücken. Al dente. In einem zweiten Topf kochten die regenwurmlosen Spaghetti für ihren kleinen Sohn. Dort hinein gab sie Wurststückchen, in Olivers Topf Gemüsestreifen. Eine unauffällige Mischung für einen Vegetarier. Sie sah die Zähne des Pflanzenessers vor sich, die mit hastigen Bewegungen Regenwürmer zerkauten, den Kehlkopf, der sich bei jedem Bissen hinter den Tieren schloss, hob und senkte.
Olivers Frau presste die Lippen schmal, nickte leicht.
Zwölf Uhr. Sie sollte losfahren zum Kindergarten, Ade abholen. Kara trank den Tee in eiligen Schlucken aus, band die dunklen Locken vor dem Garderobenspiegel zum Zopf und zog ihre Cordjacke an.
Als sie das rostige Fahrrad mit Kindersitz bei dem Flachdachbau abstellte, sah sie Blaulicht: Polizeiautos, einen Krankenwagen, zahllose Menschen in Eile. Zunächst machte sie sich keine Sorgen. Als sie das Gesicht der Kitaleiterin erblickte, dann doch.

Die Miene der dicklichen Frau verzerrte sich fürchterlich, sobald sie Kara entdeckte:
„Frau Persson, es tut mir so … Sie waren nicht erreichbar.“
Anstatt ihr die Hand zu geben, wie sonst nach jedem Kindergartenvormittag, rief Frau Linda:
„Sanitäter, hier ist die Mutter!“
Kara verstand nicht, es war alles normal, ein normaler Tag. Sie hatte ihr Handy an, oder? Kara wollte das Display kontrollieren, wurde von einem kurzatmigen Polizisten unterbrochen:
„Frau Persson?“
„Ja“.
„Sie sind die Mutter von Ade Persson?“
Kara nickte.
„Ades Gruppe hatte heute einen Ausflug. Ihr Sohn ist nicht mit zurückgekehrt. Die Kindergartenleitung kann sich diesen Vorfall nicht erklären. Es tut mir leid.“
Ausflug? Das hatte Kara gar nicht im Kopf gehabt. War Ade richtig angezogen gewesen? Er war heute Morgen laut weinend in die Kita gegangen, weil er den Schmollfisch aus der Tierhandlung nicht haben durfte. Vorwurfsvolle Blicke zu Kara waren das Letzte, was sie von ihm gesehen hatte. Ein Aquarium würde hundert Euro kosten. Sie hatten zu wenig Geld. „Ein Haustier war nicht machbar…“, sagte sie laut.
Eine Sanitäterin kam und führte sie zum Krankenwagen. Ob sie ein Medikament zur Beruhigung haben wolle? Kara wehrte ab. Sie nahm auf der Krankentrage Platz.
Der kurzatmige Polizist kam wieder und fragte, wo ihr Sohn sich aufhalten könne. Großeltern? Geschwister? Freunde? Kara verneinte. Großeltern entfernt, keine Geschwister, Freunde, welche?
„Vielleicht in der Tierhandlung.“
„Adresse?“

„Tiersalon. Am Altonaer Bahnhof.“
Ob sie bitte ein Kleidungsstück ihres Sohnes und ein Passfoto oder Ähnliches bereithalten könne?
Karas Körper verhärtete sich, ihr Kopf ruckte unwillkürlich von einer Seite zur anderen. Das war lächerlich. Sie hörte: Personen-fahndung, Lichtbild, Identifikationsdaten, DNA-Profil.
Kara schluchzte kurz auf, Beruhigungsspritze ja. Stich in den linken Arm. Dann war alles weich.
Oliver kam spät zum Kindergarten. Der dünne, großnasige Mann sah Kara nicht an, redete gleich bestimmt und laut auf die Leiterin der Kita ein:
Wo sein Sohn sei, er mache sie fertig, Verletzung der Aufsichts- und Fürsorgepflicht et cetera pp. Frau Linda versuchte sich zu rechtfertigen, rief schließlich dazwischen:
„Ich hole den zuständigen Kommissar.“
Oliver murmelte hörbar: „Zuständig, das ist Amtssprache, das habe ich von früh bis spät; davon kommt mein Sohn nicht wieder.“
Kara dachte kurz: Dein Sohn! Oliver! Dann rutschten ihre Augäpfel wieder unter die Lider.
Ein Polizist mit borstigem blondem Haar kam um den Krankenwagen herum und hielt vor der offenen Hintertür:
„Hauptkommissar Tschoknik, Lasse Tschoknik“, er gab Oliver die Hand, dessen Frau nicht. Kara verschwommen die Erscheinung von Lasse und die von Oliver zu einem unförmigen Geist an der Krankentrage. Sie riss die Augen auf, kniff sie zu. Denn das, was sie gesehen hatte, erlaubte ihr nicht, hinzusehen. Da standen beide Väter ihres Kindes: Der leibliche links, der amtliche rechts. Beide unwissend, wer sie waren. Aber Kara und der Kommissar wissend, wer sie waren.

Sex mit Lasse hatte damals bei geöffneten Augen stattfinden können, mit Oliver nie. Kara war bald nach dieser Lasse-Affäre in der Ehe verschwunden. Wie viele Millionen andere Frauen. Niemand konnte sie mehr finden, auch sie sich selber nicht.
Heute, um den Bann zu brechen: 3102. Gespiegelt war das Jahr 2013 nicht mehr so gefährlich, hatte Kara gedacht. Nur auf diese Art hatte sie das Datum geschrieben, alle Zweitausendunddreizehnen aus ihrem Umfeld entfernt. Aber auch gespiegelt war es dieser Zahl gelungen, den Bann zu sprengen und das enorme Unheil, das der Dreizehn zugeschrieben wird, in Karas Leben zu bringen. Übersetzt für sie und andere Berufsmusiker: eine rapide Modulation nach Moll.
Oliver hatte Kara an diesem Katastrophentag aus dem Krankenwagen mit nach Hause genommen. Beide wollten keine Polizeipsychologin dabei haben. Von so etwas hielt Oliver generell nichts. Seine Seele gehörte ihm. Kara war sediert und beide mit Tabletten versehen, die sie im Fall der Fälle einnehmen sollten.
Nun war der Fall, Dienstagnachmittag, Kara hielt das Kindlose nicht aus. Sie waren informiert worden. Kara wusste, dass Polizisten mit Hunden das Waldgebiet durchkämmten, in dem ihr Sohn heute Vormittag unterwegs gewesen war. Sie wusste, dass sie auch den kleinen Tümpel in der Mitte des Wäldchens mit Stangen absuchten. Sie wusste, dass Hubschrauber zur Verstärkung angefordert worden waren. Sie wusste, dass vor ihrer Wohnung mehrere Polizeibeamte standen. Sie wusste – und fuhr sich durch ihre melierten Haare -, dass keine Chance mehr auf ein weiteres Kind bestand.
Kara wollte nicht weinen, sie suchte die Tabletten.

Oliver hatte eine appetitlose Mittagspause zu Hause verbracht, Post und Mailboxen gecheckt, nichts von einem eventuellen Täter darin, alles leer und kindlos. Dann war er wieder zur Arbeit gefahren.
Auf dem Herd standen die zwei Töpfe mit den Spaghetti, so wie heute Vormittag, nur ihr Sohn war verschwunden.
Kara sah sich in der kleinen Wohnküche um. Irgendwo mussten die Tabletten sein. Sie öffnete hektisch den hohen Kühlschrank, ihr fielen zwei Kinderjoghurts mit Piratenbildchen entgegen. Sie tastete in den Glasfächern, schichtete das Chaos auf der Fensterbank um; lief ins Schlafzimmer, suchte auf dem Nachttisch neben ihrem schmalen Bett, dann im Wohnzimmer bei Olivers Futonmatratze, im Duschbad, im schmalen Flur auf dem Hängeregal, schließlich in der Kinderecke zwischen Ades Spielsachen und Bett. Ihre Knie knickten weg, sie legte den Kopf auf Ades vergriffene Lieblingsgiraffe, wurde still. Unter dem gelbschwarzen Tier wuchs ein dunkler Fleck.
KYRIE oder Fern-von-wo
Oliver und Kara hatten sich Ende 1999 kennengelernt.
Die Monate vor dem Millenniumswechsel waren bizarr: Kara, damals Mitte Zwanzig, prall gefüllt mit Perspektiven und Ängsten. Die Welt zählte dringlich auf Karas Talent, Courage und Kunst. Niemand konnte es abwarten.
Zusätzlich litten fast alle Menschen unter Jahrtausendendkatarrh. Eindeutige Symptome waren Euphorie, Panik, auch Nervosität. Neues Jahrtausend, neues Glück. Im Takt der Tage wurde der Katarrh hefiger, synchron mit dem Nahen des historischen Ereignisses.

Reiseveranstalter und Eventagenturen fochten tumultartig aus, wie man den „Change“ originell erleben sollte: Zum Beispiel auf dem Caroline-Atoll im südpazifischen Kiribati, wo die Sonne als Erstes strahlen und den Reisenden das Gefühl geben würde, zu den Auserwählten zu gehören. Alternativ dazu bot sich das Millenniums-Hopping mit dem Überschallflugzeug Concorde an, versprach, Menschen am letzten Tag des Jahres rund um den Globus zu jetten, damit Silvesterfeiern auf diversen Kontinenten erlebt werden konnten. Und der Mega-Event natürlich: die Millennium Silvester Party im wiedervereinigten Berlin, mit Lasershows und zwei Millionen erwarteten Gästen.
Kara war noch unentschlossen, wie sie dieses außerordentliche Silvester feiern sollte. Sie war recht alleine und hatte damals mit dem Sammeln der Teebeuteletiketten begonnen. Die Sprüche erschienen ihr richtungsweisend, gerade für das neue Jahrtausend, dem sie mit einer gewissen Ambivalenz entgegenblickte. Zwei Sprüche von 1999 waren:
PHANTASIE IST WICHTIGER ALS WISSEN, DENN WISSEN IST BEGRENZT.
Und:
AUCH EINE REISE
VON 1000 MEILEN
BEGINNT MIT DEM ERSTEN SCHRITT.
Das große Thema in Deutschland vor der Jahrtausendwende war der Computer-Crash. Wissenschaft und Medien malten Endzeit-Szenarien, apokalyptische Überraschungen wurden erwartet. Diese Vermutungen ängstigten Kara wenig, da sie als Musikerin kaum mit moderner Technik zu tun hatte. Die Götterdämmerung Tschernobyls konnte eh nicht übertroffen werden. Bis Kara erfuhr, dass sich Computerchips auch in Telefonen, Kraftwerken, Kläranlagen, Verkehrsampeln und Bankautomaten befanden.

Sollten die Pessimisten recht behalten, würde das Jahrtausendfeuerwerk die Menschheit zurück in eine vorindustrielle Zeit bomben. Eine neue Wildnis! Einige blickten dem Ereignis mit stoischer Ruhe entgegen. Andere waren am Ende des 20. Jahrhunderts damit beschäftigt, Notvorräte an Trinkwasser, Knäckebrot und allem Denkbaren anzulegen, oder räumten ihre Bankkonten, um die Geldscheine in der Neujahrsnacht unter dem Bett zu deponieren.
Kara sammelte zwar einiges an Essbarem und Erspartem in ihrer Studentenbude zusammen. Ansonsten schlief sie gut und hatte sich ein Teebeuteletikett an die Wand über ihrer Matratze gepinnt:
WIR BRAUCHEN MUT,
UM ZU SEHEN WAS IST.
Die wenigen Grantler, die versuchten, den Millenniumsberauschten einzureden, dass sie mathematisch schlicht falsch dachten, der wahre Millenniumswechsel erst zu 2001 erfolgen würde, da die Zeitrechnung so gestaltet war, wurden ignoriert. Zeit ist ja das im menschlichen Bewusstsein verschieden erlebte Vergehen von Gegenwart zu Vergangenheit sowie von erwarteter Zukunft zu Gegenwart. Eine relative Angelegenheit folglich.
Zum Millenniumswechsel sollte auf fünf Kontinenten – in Sydney, Peking, Kapstadt, New York und Berlin – die 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven gespielt und weltumspannend übertragen werden. Für die Deutschen hätte das ein bewegendes Ereignis sein können. Ein deutscher Komponist, ein deutscher Dichter, Friedrich von Schillers „Ode an die Freude“ würde stellvertretend für ihr ganzes Land ertönen.

Reine Freude war jedoch nirgends festzustellen, eher die Jagd nach dem Event, das die Katarrhalischen antrieb. Dass das Herz der christlichen Kultur, Jesus Christus, zweitausend Jahre alt wurde, interessierte niemanden. Am Ende des 20. Jahrhunderts ein vergessenes Urbild; dem Spiel „Stille Post“ ähnlich, wo das Ende keinerlei Bezug mehr zum Anfang hat.
1999 machte Kara außerdem ihr Diplom an der Hamburger Musikhochschule. Ihr nächstes Ziel war ein Zertifikat im Privaten:
Karas Mann sollte musikalisch sein, speziell im Bett. Einen animalisch grunzenden und stöhnenden Mann könnte sie nicht aushalten. Gut riechen sollte er. Ein blonder, gutriechender Musiker, mit dem sie große Kompositionen interpretierte, die Konzertsäle der Welt beherrschte und ganz nebenbei drei Kinder groß zog.
Karas Oliver entpuppte sich aber als dunkelhaariger, duftloser Mann, der als Angestellter in der Hamburger Baubehörde arbeitete, und mit dem Kinderkriegen sollte es jahrelang nicht klappen.
Kara hatte Oliver bei einem Architektursymposium im November 1999 kennen gelernt, bei dem sie für die musikalische Umrahmung engagiert gewesen war. „Architektur ist gefrorene Musik. Arthur Schopenhauer!“, hatte der ehemalige Architekturstudent sie angesprochen.
Beide waren Künstler, sie erkannten sich gleich. Chaotik und schwarze Kleidung kennzeichneten sie als solche. Und offensichtlich wahrten beide die alte deutsche Tradition, nach der Larmoyanz als Zeichen für Tiefgründigkeit und Depression als Hinweis auf Genialität gewertet wurden. Ein urdeutsches Relikt, das auch in den derzeitigen Generationen überlebt zu haben schien.

Wenn der Studienabbrecher Oliver morgens zur Baubehörde fuhr, war der Arbeitsweg verstopft von Fleisch und Blech. Er fuhr durch Straßen voller geschlossener Träume, ein Geschäft neben dem anderen in Konkurs, Fehlkalkulationen kilometerweise – Verursacher dieser Wüste war die deutsche Wende, klar.
Den Sachbearbeiterjob würde er nur solange machen, bis sich die ästhetischen und klar durchstrukturierten Entwürfe seiner Baukunst gut verkauften. Dann würde er in Liechtenstein, Rom, bei der Kassler Documenta an Säulen lehnen und die Menschen von der Gültigkeit seines Wertesystems überzeugen. Architektur ist nach Leon Battista Alberti „Harmonie und Einklang aller Teile, die so erreicht wird, dass nichts weggenommen, zugefügt oder verändert werden könnte, ohne das Ganze zu zerstören.“
Oliver war mit Ende Dreißig schließlich jung genug.
Ein passendes Teebeuteletikett hatte Kara damals aufbewahrt:
UNSERE ÄUSSEREN UMSTÄNDE
SIND IN UNS SELBST BEGRÜNDET.
Kara war noch im Jahr des Kennenlernens in Olivers kleine Mietwohnung eingezogen und hatte die Wände mit Bildern aus ihrem Leben dekoriert: Kara im schwarzen Konzertkleid, Kara über die Tasten gebeugt, Kara im Scheinwerferlicht. Das waren die genau drei Konzerte, die sie als Pianistin gegeben hatte, bevor das große Loch gekommen war.
Das Loch war langsam gewachsen. Wie eines der Schwarzen Löcher im Universum fraß es täglich Himmelsmaterie, Gottvertrauen und Perspektiven.
Zunächst ein Primordiales Schwarzes Loch, wuchs es durch die Fütterung mit Bewerbungsschreiben: um Korrepetitorenstellen, Konzerte; labte sich weiter an Ablehnungsschreiben: ob Kara eine pädagogische Zusatzausbildung, Soloauftritte vorzuweisen habe?

Im nächsten Wachstumsschritt wurde es zu einem Stellaren Schwarzen Loch, genährt durch Vorwürfe von ihren Eltern: die Konsequenz ihres künstlerischen Studiums, finanzielle Unterstützung nein.
Nun, 2013, war aus dem großen Loch ein Supermassereiches Schwarzes Loch geworden: gigantisch, nicht zu ignorieren, nicht zu reparieren. Es hatte alle Perspektiven und Karas Courage geschluckt. Geblieben waren Heidenangst, Talent und einige Schüler an der Hamburger Musikschule. Frei war Kara dort, frei beruflich, an zwei Nachmittagen, was bedeutete, finanziell unter Sozialsatz befindlich.
Daneben fristete ihr Mann die Tage unverändert in seinem Behördenjob.
Kara und Oliver begannen nur allmählich zu ahnen, dass auch ihre Leben verformt, beschmutzt und beschädigt sein könnten. Und dass das ganze Ausmaß der Deformation eventuell erst ab der Lebensmitte sichtbar werden würde, wenn die Welt endgültig entzaubert wäre.
Das Millenniumssilvester hatten die neu Verliebten frierend aber selig auf dem Turm der Hamburger Hauptkirche Sankt Michaelis verbracht. Sie hörten den Millenniumswechsel nahen. Böllerschüsse wurden zahlreicher, die Atmosphäre heller. Um null Uhr war die nächtliche Dunkelheit endgültig in buntes, gleißendes Licht verwandelt und die beiden Verzauberten im oberen Himmelreiche unterwegs.
In den Tagen danach hatte sich die Erde wie gewohnt weitergedreht. Das historische Ereignis der Jahrtausendwende war ereignislos an ihr vorüber gegangen. Die Menschheit hatte glamourös gefeiert. Millenniums-Events waren weltweit per Satellit übertragen worden, Feuerwerk-Light-Shows, Mega-Discos, zwei Millionen Feiernde am Brandenburger Tor; die Übernachtungspreise in den Weltstädten hatten sich versechsfacht.

Und: die Apokalypse war im Jahr 2000 nicht über die Welt gekommen, der große Computer-Crash inexistent. Uhren tickten, Technik funktionierte, das hochdigitalisierte Leben der Menschen lief auch mit drei Nullen im Datum weiter.
Das kürzlich zitierte Caroline-Atoll war umbenannt worden, trug nun offiziell den Namen Millennium Island. Die Millenniumsinsel liegt 1.107 Kilometer südlich des Äquators, 849 Kilometer nördlich und ein wenig westlich von Papeete, Tahiti. Von den Nachbarinseln Flint und Vostok im Westen ist sie jeweils 230 Kilometer entfernt. Das glich etwa der Distanz, die bald zwischen Kara und Oliver bestand.