Benjamin Maack, HAMBURG (D)

Geboren 1978 in Winsen an der Luhe, lebt in Hamburg. Er veröffentlichte Kurzgeschichten und Gedichte in diversen Anthologien.

Der Autor wurde von Hubert Winkels nach Klagenfurt zu den TDDL 2013 eingeladen

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Benjamin Maack: Foto: Benne OchsBenjamin Maack: Foto: Benne Ochs

Benjamin Maack: "Wie man einen Käfer richtig fängt" von Joachim Kaltenbach

vorgetragen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Benjamin Maack

"Wie man einen Käfer richtig fängt" von Joachim Kaltenbach
1. Ein Forscher ist kein Trophäensammler. Bevor ein neues Objekt
gesammelt wird, muss man das letzte freilassen.
2. Ein Forscher ist kein Unmensch. Das Forschungsobjekt darf nicht
länger behalten werden, als es geht. Nie so lange, dass sie sterben.
Aber, wenn es dir aus Versehen passiert, soll man nicht traurig sein.
3. Ein Forscher muss Ordnung halten. Bevor ein neues Objekt
kommt, muss das Käferglas gut gesäubert und vorbereitet werden.
Hierzu musst du etwas frische Erde, Gras, Laub und ein Stöckchen
zum Klettern in das Glas tun.
4. Ein Forscher hat immer die Nase am Boden. Bevor ein Objekt ins
Labor gebracht wird, muss sein Verhalten in der freien Natur
beobachtet werden, um zu sehen, was es will. Erst danach kann es
mit nach Hause genommen werden.
Der schwarze Rücken schimmert blau unter der Schreibtischlampe.
Der Käfer ist ein seltenes Exemplar. Blau ist selten, so steht es in
"Die Kerfe des Waldes" von Prof. Dr. Gottfried Amann. Joachim dreht
das Käferglas, nimmt mit seinem Geodreieck Maß an Fühlern,
Halsschild, Deckflügeln des Tieres, blättert in dem Buch mit den
Insektenzeichnungen, schüttelt das Glas vorsichtig, bis der Käfer
vom Stöckchen fällt, betrachtet die Unterseite. Sämtliche Details
schreibt er in die linealgezogenen Tabellen seines Notizbuchs.
"Na, was machst du, Jo?"
In der Tür steht seine Mutter.

"Warum?"
"Interessiert mich einfach."
"Warum?"
"Weil ich mich gefragt habe, ob du Lust hast, mit mir ins Kino zu
gehen."
"Warum?"
"Weil ich gerne mal wieder einen Film sehen würde. Weil ich Lust auf
Popcorn habe. Weil ich es schön fände, wenn wir was zusammen
unternehmen würden."
"Warum?"
"Weil ich deine Mutter bin. Und jetzt steh auf, sonst gibt es einen von
den dicken, fetten Schmatzern, die du so gern magst."
"Warum?"
"Komm schon, Jo. Mach das nicht mit mir."
"Warum?"
"Bitte mach das nicht."
"Warum?"
Er sieht seine Mutter an. Sie legt ihren Kopf schräg, ihr Handrücken
berührt ihre Stirn als würde sie ihre Körpertemperatur überprüfen, vor
ihm steht das Glas mit dem Käfer. Es ist ein seltenes Exemplar, das
hat er in Prof. Dr. Gottfried Amanns Bestimmungsbuch nachlesen
können. Blaue Deckflügel. Das ist sehr selten. Joachim weiß, wem er
den Käfer gerne zeigen würde.
"Ich...", sagt sie.
"Warum?"
"Hallo?", sagt sie, "ist da irgendwer?"
"Warum?"
"Bitte", sagt sie.
"Warum?"

Im Fenster brennt Licht. Die rosafarbene Lampe mit dem
Wolkenmuster macht ein warmes Rechteck daraus. Kathrin zieht
ihren Schlafanzug unter der Bettdecke an. Ihre Mutter kommt rein,
setzt sich auf die Bettkante und gibt ihr einen Kuss. Dann schließen
beide die Augen und senken ihren Kopf. Dann legt Kathrin sich hin,
die Mutter macht das Licht aus und das Rechteck wird schwarz.
Es ist wichtig, dass man irgendwo in der Mitte sitzt. Es ist wichtig,
dass man nicht auf einen Stammplatz besteht. Es ist wichtig, dass
die Lehrerin einen nicht lobt. Auf dem Pausenhof und in den Gängen
darf man nicht zu schnell gehen. Aber auch nicht zu langsam. Geh
normal, aber geh. Es ist wichtig, niemandem direkt in die Augen zu
sehen. Ein Forscher muss sich unauffällig verhalten und beobachten.
Er muss wissen, dass er nur für eine kleine Gruppe von Spezialisten
arbeitet. Die wenigsten verstehen, was man macht. Deshalb darfst
du deine Erkenntnisse nicht teilen.
Freitagabends sieht Joachim mit seinem Vater den Freitagsfilm an.
Der Freitag ist ein guter Schultag. Niemand will übers Wochenende
eine Strafarbeit aufhaben.
Aber manchmal macht man Dinge, die man selbst nicht richtig
versteht. Manchmal folgt man dem Mädchen durch die Gänge des
Schulgebäudes. Man bittet darum, auch zu dürfen, wenn das
Mädchen sich im Unterricht meldet und kurz hinaus will und dann
folgt man ihr. Und die Lehrerin fragt nicht, warum man seinen
Schulranzen mitnimmt, weil man herausragende Arbeit leistet auf
dieser Akademie. Und im Ranzen macht das Glas ein leises
Geräusch. Und man denkt gar nicht richtig darüber nach, wohin

Kathrin wollen könnte. Und dann geht sie auf die Toilette. Natürlich.
Und wenn sie rauskommt, zeigt man nicht, was man ihr eigentlich
zeigen wollte. Man zeigt ihr das Glas nicht, man zeigt ihr nicht die
blauen Flügel. Man macht etwas anderes. Man vergewissert sich,
dass der Raum leer ist. Und dann geht man hinein und untersucht
Alles. Man betrachtet die Tropfen im Waschbecken, die feuchten
Papiertücher im Mülleimer. Man schaut in den Zellen nach Spuren,
hört in einer noch das Geräusch des Wasserkastens und findet in
einem dieser kleinen Mülleimer, die nur auf den Toiletten der
Mädchen sind, ein verquollenes Wattestäbchen mit roten Flecken
und einem grünen Band daran. Es ist noch warm. Und dann steckst
du es ein, steckst es in das Käferglas, in dem der seltene Käfer ist,
den du Kathrin zeigen wolltest. Und das Glas kommt zurück in
deinen Ranzen und du gehst hinaus auf den Flur. Aber aus
irgendeinem Grund scheint das Ding in deinem Ranzen zu summen.
Es summt so laut in deinem Ranzen, dass du nicht zurück in den
Unterricht kannst. Die Stunde ist sowieso halb rum, Zeit, die du leicht
auf dem Nachhauseweg vertrödeln kannst. Aber draußen merkst du,
dass du so nicht nach Hause kannst, weil die Leute auf der Straße
dich komisch ansehen, weil sie wissen, dass der Käfer in dem Glas
in deinem Ranzen das rote Ding mit seinen Fühlern betastet, seine
Füße hineinkrallt, es mit seinen Mundwerkzeugen bearbeitet. Weil es
summt. Weil es so laut summt, dass du es nicht mit nach Hause
nehmen darfst. Es ist ein Summen, das Adern in dir platzen lassen
kann und dann blutest du irgendwo in dir und irgendwas hört einfach
auf, dir zu gehorchen. Es summt so laut, dass du es in den Wald
bringen und dort verstecken musst. Es summt so bedrohlich, dass
die Tasche fast vibrieren. Als könnte das Ding jede Sekunde kurz
innehalten, seine Kräfte sammeln und dann mit einer gewaltigen

Welle von Irgendwas die ganze Siedlung in ein Niemandsland hilflos
zuckender Körper verwandeln.
Joachim durchquert den Garten der Eltern. Es ist wichtig, dass man
nicht zu schnell geht. Es ist wichtig, dass man nicht zu langsam geht.
Geh normal, aber geh. Er klettert über den Zaun und durch das Loch
in den Dornenbüschen.
Jetzt will er rennen. Tief hinein in seinen Wald.
Jetzt muss er tief hinein in seinen Wald.
Er will sich auf die Knie fallen lassen und ein Loch graben.
Er muss den Schulranzen vorsichtig auf den Waldboden stellen und
kniet sich daneben.
Er will ein Loch in den Boden wühlen, will die kalte, schwarze Erde
zwischen seinen Beinen hindurchschleudern.
Vorsichtig befreit er den Boden von seiner Laubschicht.
Er will seine Hände in die Erde graben, dass die Steine seine Haut
zerkratzen, die Wurzeln an seinen Händen zerren, die Erde sich in
schwarzen Sicheln unter seine Fingernägel drückt.
Mit dem Finger zeichnet er ein Rechteck in den Waldboden.
Hand für Hand muss die Erde aus dem Rechteck. Er nimmt sein
Geodreieck aus dem Ranzen und bearbeitet damit den Boden.
Das Loch muss tief sein. Das Loch muss sehr sehr tief sein.
Hauptsache tief.
Er nimmt sein Geodreieck, um die Ränder ganz gerade zu machen,
schabt Erde aus den Ecken, entfernt Erde vom Grund, bis der Boden
ganz eben ist, bis alles ganz gerade ist.
Es ist ganz schwarz. Ein ganz schwarzes Rechteck. So schwarz,
dass man gar nicht sehen kann, wie tief es ist.

Er muss das Käferglas retten. Alles in das Loch hineinschütten, die
Gräser, das Stöckchen, die Erde, den Käfer. Das schreckliche rote
Ding. Er will das Glas hineinwerfen und wegrennen.
Er muss das Glas hineinlegen, Hand für Hand die Erde in das Loch.
Sie klimpert auf dem Glas. Und das Klimpern klingt wie die
panischen Bewegungen eines sehr seltenen, sehr schönen Käfers,
der mit einer Todesmaschine begraben wird.
Joachim wirft
Joachim legt das Laub zurück auf die Stelle, glättet den Boden, bis er
alle Spuren verwischt hat. Dann rollt er sich zusammen. Er versucht
nachzudenken, er muss jetzt ganz genau nachdenken. Das ist
wichtig. Das ist jetzt vielleicht so wichtig wie noch nie.
Als er aufwacht, wird es schon dunkel.
Immer beim Freitagsfilm gibt es einen Moment, in dem sein Vater
sich aufsetzt und den Ton ausschaltet. Er schaut dann sehr ernst
und sagt etwas, das mit "Jo, ..." anfängt. Bei einem Actionfilm sagt
er: "Jo, das muss dir klar sein, hier müsste der Film ehrlicherweise
enden. Aus der Nummer kann er nicht rauskommen. Alles was ab
jetzt passiert, ist völlig unrealistisch. Der ist tot. Es ist vollkommen
unlogisch, dass der das überlebt. Eigentlich müsste der Film jetzt
vorbei sein. Wenn einem sowas passiert, gibt es keine Rettung.
Wenn einem sowas passiert, ist man tot."
"Wo bist du gewesen, Jo? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.
Wie bist du denn so dreckig geworden?", fragt seine Mutter und
nimmt ihn in den Arm.
"Wo bist du gewesen, Jo? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.
Wie bist du denn so dreckig geworden?"

"Ist alles okay mit dir?"
"Ist alles okay mit dir?"
"Was ist denn mit deinen Händen passiert?"
"Was ist denn mit deinen Händen passiert?"
"Und was wird das jetzt?"
"Und was wird das jetzt?"
"Bist du für so einen Quatsch nicht ein bisschen zu alt, Jo?"
"Bist du für so einen Quatsch nicht ein bisschen zu alt, Jo?"
"Komm einfach mit ins Bad. Ich lass dir eine heiße Wanne einlaufen.
Das Essen haben wir dir im Ofen warmgehalten."
"Komm einfach mit ins Bad. Ich lass dir eine heiße Wanne einlaufen.
Das Essen haben wir dir im Ofen warmgehalten."
"Komm einfach mit, okay."
"Komm einfach mit, okay."
"Gut, dann wiederhole ich ab jetzt auch einfach immer, was du
sagst."
"Gut, dann wiederhole ich ab jetzt auch einfach immer, was du
sagst."
"Gut, dann wiederhole ich ab jetzt auch einfach immer, was du
sagst."
"Gut, dann..."
Vor einigen Wochen hat seine Mutter Joachim ein Buch geschenkt,
"Die Superlative der Insektenwelt". Diese Frau, dachte er, hat
offenbar gar nichts verstanden.
Einmal sucht er im Internet nach einem Film mit Riesenbockkäfern.
Es sollen die größten Käfer der Welt sein, größer als die Hand eines
Erwachsenen. Das hat er in "Die Superlative der Insektenwelt"

gelesen und kann es mit "Die Kerfe des Waldes" nicht falsifizieren,
weil sich Prof. Dr. Gottfried Amanns Buch auf die einheimische
Insektenwelt beschränkt. Er findet nur ein Video mit dem Titel
"Oryctes nasicornis fucking". In dem Video kämpfen zwei Hornkäfer
in einer durchsichtigen Plastikschale. Der eine versucht, zu
entkommen, der andere hält ihn fest, während sich hinten etwas aus
seinem Körper windet. Es sieht aus, wie eine schokoladenbraune
Zunge. Und die schwarzen Beine und die dicken rotbraunen Flügel
der Käfer klacken und quietschen auf dem Plastik. Die Käfer zischen
in der Schale. Es ist ein schrecklicher Kampf. Und die Zunge bewegt
sich. Als würde sie versuchen, Joachim etwas zu sagen.
Joachim kann nicht schlafen. Das Summen wird nicht im Wald
bleiben. Es wird heute Nacht seinen Weg aus dem Wald finden.
Durch die Blätter, das Gestrüpp und die Äste. Es wird seine Eltern
wecken, die an ihr Fenster treten und erst gar nicht verstehen, was
sie aus dem Schlaf gerissen hat. Es wird die Nachbarn wecken. Sie
werden sich Anoraks und festes Schuhwerk anziehen und in seinem
Wald gehen. Hallo? Ist da irgendwer? Sie werden das Glas finden.
Das Glas wird sie zu sich rufen. Und es werden Hunderte sein, die
dem Geräusch folgen. Die ganze Siedlung. Hunderte, die der Sache
nachgehen. Und sie werden herausfinden, woher das Glas kommt.
Für so etwas gibt es Scanner. Alle Spuren werden zu ihm führen.
Und sie werden zu Joachim kommen. Alle. Eine Masse von
Menschen. Sie kommen zum Fenster, stehen am Fenster, kommen
ins Haus, quetschen sich durch den Flur in sein Zimmer, stauen sich
am Türrahmen, drängen in den Raum. Dann stehen sie alle da, dicht
an dicht, Körper an Körper stehen sie um sein Bett und sehen ihn an.

Wenn der Freitagsfilm ein unheimlicher Film ist, sagt der Vater: "Das
sind ganz alte Geschichten, man merkt das nicht sofort unter diesem
ganzen Kunstblut, diesen ganzen grellen Spezialeffekten. Aber all
diese Horrorstorys, die einem heut im Kino als was Neues verkauft
werden, erzählen dieselbe alte Geschichte. Dieselbe alte
Geschichte, die Familien sich schon vor hunderten von Jahren vor
ihren Kaminfeuern erzählt haben. Es geht um den ewigen Kampf
zwischen Gut und Böse. Und diese ganzen Geschichten sollen
nichts machen, als uns daran zu erinnern, auf welcher Seite wir
stehen."
Er sitzt in völliger Dunkelheit. Er versteht nicht, was passiert ist. Er ist
verzweifelt. Er hat Angst. Und er ist nicht allein in seinem Gefängnis.
Etwas Schlimmes ist mit ihm hier unten. Es summt. Hallo? Ist da
irgendwer? Er hat schreckliche Angst. Er wird seine Familie nie
wiedersehen. Er räuspert sich, er versucht seiner Stimme einen
festen Klang zu geben. Dann beginnt er das Gebet der Kerfe
aufzusagen:
"Von den Geheimnissen, die der Wald birgt, ist seine Kerbtierwelt
eines der tiefsten. Märchenhaft ist unser Formen- und Farbreichtum,
bewundernswert unsere Daseinsbehauptung. Für viele von uns hat
der Volksmund keinen Namen, weil wir unbemerkt, nur im Stillen und
Verborgenen leben und wirken. Die Mehrzahl unseres in ungeheurer
Fülle den Wald belebenden und verschönernden Völkleins ist
harmlos und sollte vom Menschen nicht behelligt werden, vielmehr
mit warmem Herzen als köstliche Naturgabe begriffen, bewundert
und geschützt werden."
Er sagt es immer wieder auf, bis Joachim einschläft.

Joachim ist vor seinen Eltern aufgestanden. Er ist durch ihren Garten
gegangen. Geh normal, aber geh. Und über den Zaun in den Wald.
Er muss es wieder gut machen. Er muss versuchen, es wieder
gutzumachen. Er muss das Glas ausgraben und alles wieder an
seinen Platz bringen, alles rückgängig machen wie ein Zeitreisender.
Wenn der Freitagsfilm ein Science-Fiction-Film ist, sagt sein Vater:
"Jo, Science-Fiction, das ist nicht einfach irgendein Quatsch. Es ist
der Ausdruck einer Fähigkeit, die den Menschen erst zum Menschen
macht. Die Fähigkeit, Zukunftsvisionen zu entwerfen und die Welt zu
verändern. Das beginnt im Kleinen. Zum Beispiel mit dem Plan,
nächstes Wochenende das Bad neu zu fliesen, und endet mit
gigantischen Raumschiffen, die unsere Kindeskinder in hundert oder
tausend Jahren in andere Sonnensysteme bringen."
Joachim findet den Platz nicht mehr, an dem er das Glas vergraben
hat.
Wenn der Freitagsfilm eine Liebeskomödie ist, sagt sein Vater: "Jo,
so ist das nicht. So funktioniert das nicht. Dieser kleine, tragische
Schlenker auf dem Weg zum Happy End und dann: Sie lebten
glücklich, blablabla. In Wirklichkeit ist es so, dass du immer wieder
Fehler machst und immer wieder alles in die Waagschale werfen
musst, um die Liebe zu halten. In Wahrheit ist es so, dass du es
immer wieder - entschuldige - versaust und immer wieder alles, was
du an Schönheit hast, zusammenkratzen musst, damit nicht alles
zusammenbricht."
Joachim findet den Platz einfach nicht mehr, an dem er das Glas
vergraben hat.
Ist es dunkler geworden? Die Blätter sind plötzlich nicht mehr grün
und die Äste nicht mehr braun. Alle Farben sind vergangen, sind jetzt

schimmlige Blautöne, triefendes Grau, feuchtes Schwarz.
Vegetation, wie kurz davor sich um etwas zu schließen, es zu Boden
zu drücken und zu verschlucken. Irgendwo hier versteckt sich das
Glas vor ihm. Hallo? Ist da irgendwer? Irgendwo hier lauert das Glas.
Aber jetzt weiß Joachim, was zu tun ist. Er sammelt. Er kriecht, die
Nase am Boden. Er hat seine Brotdose mitgebracht und lässt Käfer
um Käfer hineinfallen. Er hat es versaut, er muss es wieder
gutmachen. Er muss Kathrin alle Käfer zeigen, die er kennt. Alle
Käfer wiederfinden, die er je gefangen und wieder freigelassen hat.
Ein schillerndes Wimmeln, das im Sonnenlicht glänzen muss, wie
eine geöffnete Schatzkiste. Joachim sammelt. Er kriecht durch den
Wald, der sich mit dem Glas gegen ihn verschworen hat und
sammelt, bis ihm die Knie wehtun, sammelt, bis der Boden vor
seinen Augen verschwimmt, sammelt, bis der Wald den ganzen Tag
geschluckt hat und die Bäume, Büsche und Gräser ein einziges
Schwarz sind. Die letzten Käfer ziehen ihre Fühler vom Rand der
Brotdose weg, als er den Deckel zuklappt. Dann schaut Joachim auf
und versteht, dass er jetzt rennen muss.
Beim Einschlafen klickt und knackt und zischt es in der Brotdose
unter seinem Bett.
Noch im Halbschlaf greift Joachim nach der Dose. Die Geräusche
sind leiser als gestern Abend. Als würden die Käfer den Atem
anhalten. Fast hätte er hineingesehen. Aber er wird sie nicht öffnen.
Er wird neben Kathrin stehen, an einem Platz, an dem die Sonne gut
in die Dose scheinen kann. Dann und erst dann wird er den Deckel
aufklappen. Und alles darin wird leuchten und schillern. Grün und
golden und blau. Und es wird wimmeln und kriechen. Ein lebendiger,
atmender Schatz.

Schon nach der zweiten Stunde kann er es nicht mehr aushalten. Er
will ja warten, bis Kathrin im Unterricht rausgeht. Er will ja abwarten
und dieses Mal alles richtig machen. Aber Kathrin geht nicht raus.
Und vielleicht brauchen die Käfer irgendetwas. Vielleicht brauchen
die Käfer seine Hilfe. Er kann es einfach nicht mehr aushalten. Ein
lebendiger, atmender Schatz.
Als die Pausenglocke klingelt, geht er auf die Toilette. Er nimmt die
Zelle am Fenster durch das gelbes Sonnenlicht hineinfällt. Er schließt
sich ein, öffnet seinen Schulranzen und holt die Brotdose heraus.
Vorsichtig lässt er sie aufklicken und schaut hinein.
Er versteht nicht.
Da ist kein Gewimmel von Käfern.
Kein Schimmern.
Kein Schillern.
Kein Schatz.
Nur eine einzige
Ein Forscher ist kein Trophäensammler.
schwarzbraune,
Ein Forscher ist kein Unmensch.
von einem weißen Zeug verklebte
Ein Forscher muss Ordnung halten.
Masse.

Ein Forscher hat immer die Nase am Boden.
Einzelne Beine und Deckflügel schwimmen darin. Köpfe und etliche
bewegungslose Körper. Andere zucken noch mit den Fühlern oder
rudern mit ihren Beinen und versuchen sich aus dem Klumpen zu
befreien. Joachim lässt die Brotdose zuklappen. Joachim spürt ein
merkwürdiges Kribbeln in der Nase. Joachim versteht, dass er sofort
hier weg muss. Dass jemand mit einer solchen Brotdose in der
Schule nichts zu suchen hat.
"Warum bist du denn schon zurück?", fragt seine Mutter.
"Was ist denn los? Bist du krank?"
"Du siehst blass aus."
"Warum hältst du deinen Ranzen so fest?"
"Was ist da drin?"
"Zeig das mal her."
Joachims Nase kribbelt. Sie hört gar nicht mehr auf zu kribbeln. Und
die Mutter öffnet den Schulranzen, zieht die Bücher heraus, öffnet
seine Federmappe. Sie sieht ein bisschen komisch aus dabei. Nicht
mehr ganz wie eine Mutter. Sie sieht aus, als wäre die Aufgabe, den
Fehler in ihrem Gesicht zu entdecken. Das, was nicht zu einer Mutter
gehört. Sie sieht ein bisschen aus, als würde sie Joachim zutrauen,
dass er etwas wirklich Schlimmes angestellt haben könnte. Ein
bisschen so, als würde sie eine Waffe in seinem Schulranzen
erwarten. Dann öffnet sie die Brotdose. Sie schaut hinein und für
einen Augenblick ist ihr Gesicht ganz starr. Als wäre alles Leben fort.
Dann sieht sie ihn an. Sie sieht traurig aus, wirklich traurig. Eine
Trauer, die nicht in das Gesicht einer Mutter mit einem lebendigen
Kind gehört. Und das Kribbeln in Joachims Nase wird plötzlich etwas

anderes. Es wird ein Drücken hinter den Augen, ein Schmerz in
seiner Kehle, ein Ziehen in den Schläfen, seine Augen brennen,
seine Augen werden ganz warm. Dann laufen Tränen aus seinen
Augen und der Blick seiner Mutter verändert sich.
"Gut", sagt sie, "komm mit." Und Joachim kommt mit.
Sie geht in die Küche.
"Du setzt dich jetzt dahin", sagt sie und Joachim setzt sich dahin.
Sie stellt die Brotdose vor ihn auf den Tisch.
Sie holt eine Gabel und einen Löffel. Sie legt das Besteck neben die
Dose.
Sie holt ein großes Glas aus dem Schrank.
Sie stellt auch das Glas neben die Dose.
Seine Mutter deckt den Tisch.
Dann setzt sie sich neben ihn und nimmt den Löffel.
"Schau", sagt sie und er schaut. Behutsam taucht sie den Löffel in
die Masse.
Einer der Käfer ertastet das spiegelnde Metall, setzt ein Bein, zwei,
dann drei auf den Löffel und schleppt sich langsam den Stiel hoch.
"So können wir die Überlebenden retten. Siehst du?", sagt sie.
"Und dann tun wir sie einfach ins Glas. Siehst du? So", sagt sie und
schließt für einen Moment die Augen. "So einfach ist das."
Als sie fertig sind, liegen die lebendigen Käfer still in dem Glas.
"Komm mit, Jo", sagt die Mutter und Joachim kommt mit.
In einer Hand hält sie das Glas, in der anderen die Brotdose.
Gemeinsam lassen sie die Käfer im Garten frei und schauen zu, wie
sie in die Blumenbeete krabbeln. Ihre Rücken schimmern in der
Sonne. Joachim und seine Mutter hocken im Gras und schauen den
Käfern zu. Die Brotdose liegt zwischen ihnen.

"Die werden wir wohl nicht noch mal benutzen", sagt die Mutter und
lächelt. "Vielleicht möchtest du sie in deinem Wald begraben."
Joachim schaut seine Mutter an. Dann nimmt er die Brotdose. Er
steht auf und geht langsam durch den Garten. Seine Mutter hockt
hinter ihm auf dem Rasen. Er klettert über den Zaun.
"Ich liebe dich, Jo", ruft seine Mutter noch. Dann schlüpft Joachim
zurück in seinen Wald.