Verena Güntner, BERLIN (D)

Geboren 1978 in Ulm, lebt in Berlin. Nach dem Abitur Schauspielstudium an der Universität Mozarteum in Salzburg. Anschließend vier Jahre festes Ensemblemitglied am Bremer Theater.

Die Autorin wurde von Paul Jandl zum Wettlesen um den Ingeborg Bachmann-Preis eingeladen.

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Verena Günther: Foto: Sebastian LaraiaVerena Günther: Foto: Sebastian Laraia

Verena Güntner: Es bringen (Auszug aus einem Roman)

vorgetragen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Verena Güntner

Es ist ganz einfach. Du brauchst einen Plan. Wenn du keinen
Plan hast, geht alles den Bach runter. Das hab ich gelernt.
Und wenn ich mal was gelernt habe, verlerne ich es auch
nicht wieder, ich bin ja nicht blöd. Wenn du nicht dumm
sterben willst, musst du dir Sachen genau anschauen, sie
üben, und zwar: bis du sie kannst. Das ist der Ablauf, und
wenn du den nicht kapierst, dann wird das mit deinem Plan
nix. Ich will nicht dumm sterben. Ich will auch nicht ZU
klug sterben, was manchmal passieren kann, ich kenne Leute,
denen das passiert ist, und das ist übel, könnt ihr mir
glauben.
Was ich vorhabe, ist: meine Haut so zart machen, bis sie
durchsichtig wird. Dass ich nicht weiß, wie mein Kuttel-
Knochen-Bereich aussieht, dafür hab ich null Akzeptanz. Ich
trage ja all den Krempel seit sechzehn Jahren mit mir rum,
plus meine Zeit als Baby in Mas Bauch. Wenn ihr mich fragt,
ist das ne Menge Zeit für Inventar, das man nicht kennt!
Ich benutze für das Ausdünnen ein stumpfes Messer. Ein
Messer, das ich schon sehr lange habe, das mal mein
Kindermesser war. In seinen Metallgriff sind ein kleiner
Zwerg und eine Blume eingeprägt. Als Kind fand ich das toll.
Heute braucht ihr mir mit Zwergen aber nicht mehr kommen.
Die Zähnchen der Messerschneide sind abgewetzt. Ich habe,
als ich klein war, damit immer gern die Rinde von den Broten
gesäbelt. Ma hat geflucht, aber ich hab wie ein Verrückter
weitergesäbelt. „Luis, du schlachtest das Brot“, hat sie
gesagt und die Brotkanten mit ihrem ganzen Arm vom Tisch gefegt.

Unser Küchenboden war ein Rindenmeer, ohne Scheiß
jetzt. Ich schabe seit einer Woche täglich eine halbe Stunde an
meiner Haut rum. Ich muss sehr vorsichtig sein, denn wenn
ich zu viel an einer Stelle schabe, wird die Haut natürlich
wund, fängt vielleicht sogar an zu bluten, dann können sich
Krusten bilden, und das ist das Letzte, was ich bei diesem
Projekt brauchen kann. Es gibt den Trainingsplan und der
muss eingehalten werden. Weil ich mich selbst trainiere,
muss der sogar unbedingt eingehalten werden.
Trainingsrückstand gibt’s bei mir nicht. Ich als Mannschaft
muss besser werden. Jeden Tag, jede Sekunde. Denn mein Ziel
ist: Alles wissen. Aus welchem Leberfleck ein Haar
raussteht, bis wo genau Richtung Arsch die Schamhaare
wachsen, wie viele Sommersprossen ich auf dem Rücken habe,
das weiß ich alles. Ich hab einen genauen Lageplan, wo sich
bei mir was befindet und in welcher Menge. Außer Kopfhaaren,
die kann man nicht zählen. Und vielleicht ist das auch gut
so, dass es eine Sache gibt, an die man nicht gleich
rankommt. An die man hart und härter rantrainieren muss.
Wenn ich die Küchenschublade aufziehe, um mein Kindermesser
rauszuholen, liegt da auch mein alter Kinderlöffel. Ein
kleiner großer Löffel ist das und Grießbrei hab ich in der
Regel mit dem gegessen. Das Einfachste wäre, denke ich beim
Schubladeaufziehen, wenn es eine Stelle an mir gäbe, die
sich öffnen lässt. Eine Luke, ein Türchen, irgendsowas, und
wenn mein Blick dann auf den Kinderlöffel fällt, stelle ich
mir vor, wie ich mit ihm dort hineinfahre und kleine Teile
aus mir heraushole. Sie mir auf dem Löffel ganz genau betrachte, sie mir einpräge, aber ohne sie anzufassen.

Bis jetzt gibt es keine Luke, und deshalb knalle ich die
Schublade jedes Mal wieder zu, und der Kinderlöffel bleibt
an seinem Platz. Ich mache mit dem Schaben weiter. Denn am
Ende geht es immer darum, den Trainingsplan so gut und
sicher aufzustellen, wie es im Moment eben möglich ist,
damit mir keiner mit ner Überraschungsaktion kommen kann,
die mich und die Mannschaft dann lahmlegt. Meine Innereien
sind zur Zeit mein Leck, und ich hab Angst, dass sich dort
irgendwann was ereignet, von dem ich wissen müsste, es aber
nicht mitbekomme, weil die Haut alles zugeklebt hat.
*
Herr Knittel, mein Sportlehrer, erklärt gerade eine Sache am
Bock, aber ich höre nicht zu. Turnen ist die schwulste Sache
der Welt. Ich lehne an der Sprossenwand und schaue an mir
runter. Schaue meine Arme an und die Haut, die um sie
rumgespannt ist, und das macht mich wie immer wahnsinnig
aggressiv. Ich schaue von den Armen weg und nach oben. Zu
der Fensterreihe unter der Decke der Turnhalle. Man kann die
Fenster nicht öffnen, deshalb stinkt es in der Halle immer
ohne Ende nach Schweißfüßen. Draußen ist es bewölkt,
trotzdem recht hell. Ich halte einen Arm nach oben ins Licht
und betrachte ihn angestrengt. Die scheiß Adern, das ist wie
immer alles, was man sieht. Ich kotze innerlich. So richtig
gebracht hat das Schaben noch nichts. Ich ziehe die
Unterarmhaut mit zwei Fingern der anderen Hand auseinander.
Aber nichts zu machen. Ich bekomme so eine Wut, dass ich
mich von der Sprossenwand abstoße und Maike zur Seite schubse, die die Letzte in der Schlange vor dem Bock und die
Einzige in der Klasse ist, die mich noch nie rangelassen
hat.

Ich schiebe einen nach dem anderen zur Seite, nur
Hannes sagt „Ey!“, aber der bekommt meinen Zwei-Sekunden-
Mörderblick und guckt sofort weg. Vorne hievt Herr Knittel
grade den dicken Ben über den Bock. Herr Knittel macht ein
besorgtes Gesicht, während er Ben hievt. Er macht immer ein
besorgtes Gesicht, es ist sein Hobby, das Besorgtgucken. Ich
hab das gleich in der ersten Stunde kapiert und nie mehr
falsch eingeordnet. Man kann es sogar für sich benutzen, das
Besorgtsein vom Knittel, und das hab ich gemacht. Einmal,
vor nem halben Jahr war das, da hab ich so getan, als hätte
ich Rippenbruch. Hatte ich nämlich tatsächlich mal nach ner
Klopperei, ist schon länger her, aber zu der Zeit hatte ich
den Trainingsplan noch nicht genau aufgestellt und hab die
Röntgenbilder gar nicht richtig angeschaut, auf denen mir
der Arzt die drei gebrochenen Rippen gezeigt hat. Das würde
mir heute nicht mehr passieren. Ich konnte das Ganze aber
trotzdem bei der Rippenbruchvortäuschung extrem gut
einsetzen, weil ich mir den Schmerz damals gut eingeprägt
habe und sowieso automatisch immer alles für mögliche
spätere Trainingseinsätze abspeichere.
Die Rippenbruchvortäuschung passierte in Knittels erstem
Jahr. Er hat sich sehr angestrengt, denn der Knittel ist
einer, der ein guter Lehrer sein will, und davor hab ich
erstmal Respekt. Obwohl ich glaube, dass er dafür zu dumm
ist. Als guter Lehrer musst du schlauer sein, als wir. Und
das ist der Knittel nicht. Der Knittel ist deshalb dumm,
weil er auch einer von denen ist, die ZU klug sterben
wollen. Er selber denkt aber, er ist schlau, weil die Leute oft das ZUklugsterbenwollen mit Schlausein verwechseln, ist
mir am Anfang auch passiert. Man KANN nicht schlau sein, wenn man ZU klug sterben will, aber das kapiert der Knittel
nicht, und ich kann es ihm auch nicht sagen, weil das ne
Sache ist, auf die jeder selbst kommen muss. Und wenn du mal
drauf gekommen bist, gibt’s auch kein Zurück mehr, denn dann
musst du dich entscheiden. Ich hab mich entschieden, und der
Knittel hat noch einen langen Weg vor sich, wenn er dahin
kommen will, wo ich in der Sache schon lange bin.

In der Stunde, in der die Rippenbruchvortäuschung stattfand,
waren wir am Reck. Als ich drankam, hab ich mich bei einer
Drehung einfach fallen lassen und bin auf der Seite
gelandet. Es tat schon weh, aber nicht schlimm weh, und ich
hab gleich damit begonnen, den Rippenbruch vorzutäuschen.
Zwei der Mädchen haben geschrien und der Knittel hat sich
sehr besorgt über mich gebeugt. Richtig gut war ich im
Rippenbruchvortäuschen, der Knittel hat Panik bekommen, den
Unterricht abgebrochen und mich mit seinem Auto in die
nächste Klinik gefahren. Ein schimmeliger Opel war das, mit
braunen Bezügen und zugestaubter Ablage, den ich ihm
zusammen gebrüllt habe, als wäre ich kurz davor abzukratzen.
Das Rippenbruchvortäuschen hat mir richtig Spaß gemacht,
weil der Knittel mir das wirklich abgenommen, mir das
geglaubt hat, weil er immer alles glaubt, weil er gar nicht
damit rechnet, dass es Leute gibt wie mich, die einen Plan
haben. Als wir in der Klinik ankamen und ich die Endlos-
Schlange im Warteraum für die Notfälle gesehen habe, und
weil ich sowieso richtig in Fahrt war, hab ich einfach noch
ne Schippe draufgelegt und den ganzen Eingangsbereich
zusammengebrüllt. Fünf Minuten später war ich beim Röntgen
und noch mal zehn Minuten später hat mich der Arzt in sein
Zimmer gerufen. Ich hab gar nicht zugehört, was er gesagt
hat, ich hörte nur einzelne Sätze wie: „Ihre Rippen sind
intakt, junger Herr.“ Und: „Wenn Sie hiermit eine Wette
gewonnen haben sollten: Ich gratuliere!“ Aber ich starrte
nur auf die Röntgenbilder und versuchte sie mir einzuprägen,
was schwer war, weil ich mit diesem Schwarzweiß-Ding nicht
klarkomme, und dann hab ich noch gefragt, ob ich sie
mitnehmen darf, weil ich's mir so schnell halt doch nicht
gut genug einprägen konnte, aber der Arzt sagte: „Sicher
nicht, junger Herr“ und lächelte ein müdes Lächeln, bevor er
mich aus dem Zimmer schob und den Knittel heranwinkte. Als
der im Zimmer des Arztes verschwunden war, hab ich mich
verdrückt, klaute im Erdgeschoss eine dieser riesigen
Damenbinden von einem Toilettenwagen, die wohl für die alten
Omis sind, die ihr Pipi nicht mehr halten können, klemmte
sie dem Opel unter den Scheibenwischer und schwang mich in
die nächste U-Bahn Richtung Siedlung. Als Knittel eine
Stunde später bei uns zu Hause klingelte, lagen Ma und ich
schon lachend am Boden über die Story. Sie reichte ihm im
Wohnzimmer eine Coladose über den Couchtisch, nickte
gespielt besorgt in meine Richtung und bestellte uns, als er
weg war, eine Riesenpizza Hawaii bei der Siedlungspizzeria,
die ich wie einen Pokal die ganzen zehn Stockwerke zu
unserer Wohnung hinauftrug.
Ich laufe los, springe auf das Sprungbrett und stoße mich
ab. Herr Knittel springt nach hinten weg und ich stütze mich
auf dem dicken Ben ab, der quer über dem Bock hängt. Ben
rutscht, ich bekomme Schräglage, rudere mit den Armen in der
Luft herum, überschlage mich einmal auf der Matte und lande
schließlich mit einem fetten Knall auf dem Rücken. Keine
Luft, ich bekomme keine Luft, das ist alles, was ich
kapiere. Ich öffne den Mund, schnappe einmal, zweimal,
dreimal, aber mein Brustkorb fühlt sich an, als hätte ihn
wer mit Zement aufgefüllt. Ich schnappe immer wieder nach
Luft, sehe plötzlich Knittels Gesicht über mir, das gar
nicht so besorgt ist, wie man annehmen und es von ihm und
seinem Besorgnisgesicht erwarten könnte. „Luis“, sagt er
mehrmals laut, „Luis, hör auf!“, und dann verschwindet er
aus meinem Blickfeld. Ich schnappe weiter nach Luft, spüre
wie der Zement hart und zu einer Betonbrust wird, die nichts
rein und raus lässt. Dann taucht Knittel wieder über mir auf
und stemmt die Arme in die Seiten. „Luis, verdammtnochmal“,
ruft er, „jetzt hör endlich auf. Wenn du meinst, ich falle
wieder auf dieses Theater rein, hast du dich geschnitten!“
Knittel wird plötzlich kleiner und kleiner, wird von einem
schwarzen Rand immer mehr zusammengequetscht, bis er
schließlich ganz verschwindet. Es wird still, mein Herz
pocht wild, und ich kapiere: Jetzt kommt Ohnmacht.
Ich hab schon früh mit dem Trainieren angefangen. Kann mich
nicht erinnern, wann genau. Sind ja immer unterschiedliche
Bereiche gewesen, die ich trainiert habe, manchmal komme ich
da durcheinander. Heute bin ich schon so lange dabei, dass
ich mir mein Leben ohne Plan gar nicht mehr vorstellen kann.
Vielleicht hab ich sogar gleich damit angefangen, also ab
dem Moment, als Ma mich rausgedrückt hat. Kann ja sein.
Die größte Aktion, an die ich mich erinnern kann, ist vier
Jahre her, da war ich zwölf. Es war Sommer, das weiß ich
noch, denn ich trug eine kurze Hose und Sandalen. Heute sind
Sandalen der Tod, damals war es mir egal. Ich weiß nicht
mehr, warum Ma auf die Idee kam und wie genau sie Allan dazu
gebracht hat. Aber wir machten allen Ernstes einen AUSFLUG.
Ich glaube, ich weiß es doch noch, es war wegen der
Abtreibung, sonst hätte Allan bestimmt nein zum Ausflug
gesagt. Das war Allans Lieblingsbeschäftigung: zu allem nein
sagen. Vor allem, wenn Ma oder ich ihn um was gebeten haben.
Als ich größer wurde, hab ich ihm vorgeschlagen, sich das
Wort auf die Stirn tätowieren zu lassen. „Allan“, hab ich
gesagt, „das würde ne Menge Zeit sparen, du müsstest einfach
nur mit dem Finger drauf zeigen!“ Da hat er mir das letzte
Mal eine verpasst. Denn danach kam punktgenau ein
Wachstumsschub, sodass ich plötzlich zwei Köpfe größer war
als er, und da hat er sich nicht mehr getraut.
Wir machten jedenfalls allen Ernstes diesen Ausflug und
fuhren mit Allans Auto, in dem ich normalerweise nie
mitfahren durfte, nur Ma, und die auch nicht immer, je
nachdem ob sie ihre Tage hatte oder nicht, das heißt, wenn
Sex ausfiel, zog das ein Mitfahrverbot nach sich, zumindest
hab ich mir das immer so zusammengereimt. Ma war das egal:
„Busfahren ist doch schön, Luis!“, sagte sie, nahm meine
Hand und zog mich Richtung Bushaltestelle, wenn Allan uns
mal wieder vor unserem Block stehen gelassen hatte und mit
seinem blankpolierten Audi davongerauscht war. Aber dieses
Mal durften wir beide mitfahren. Ma wollte zum Nebelhorn und
Allan, die alte Hohlbirne, hat die Nase gerümpft, weil er
nicht verstehen wollte, warum man einen Ausflug macht an
einen Ort, wo's neblig ist und er schrie
„Benzinverschwendung!“, aber dann stiegen wir doch alle in

den Audi ein und fuhren zum Nebelhorn.
Zwei Stunden dauerte die Fahrt, also genauer gesagt
zweieindreiviertel Stunden, weil ich fünfmal pissen musste.
Allan fuhr jedes Mal raus auf eine Raststätte oder auf einen
dieser schimmeligen Autobahnparkplätze. Eigentlich musste
ich von den fünfmal nur einmal. Allans Ader am Hals schwoll
aber jedes Mal so schön an, wenn er den Blinker setzte. Auf
den Klos lief ich von Tür zu Tür und löste die elektrischen
Spülungen mit der Hand aus. Ich weiß nicht, vielleicht war
ich grade irgendwie schräg drauf oder sowas: Das rauschte,
wie ich mir immer einen rauschenden Bach im Gebirge
vorgestellt hatte. Hab ich mal im Fernsehen gesehen, so
einen Bach, und wie er irgendwann an einem Felsen
runterstürzte, ganz tief hinunterstürzte, das hat mir so
gefallen, das weiß ich noch, und wie er dann viel, viel
weiter unten auf einen Felsen krachte und einfach
weiterfloss in ein Stückchen Wald hinein, ohne dass ihm was
passiert und so, als ob nichts gewesen wäre. In echt hab ich
noch nie einen solchen Bach gesehen. Denn das Nebelhorn war
mein erster Berg, wie auch die Fahrt dorthin mein erster
Ausflug war. Das Wasser der Spülungen rauschte also und
draußen schwoll Allans Ader. Ich wusste drinnen schon, dass
sie schwoll und wie es aussah, dieses Allan-Aderschwellen
und darüber freute ich mich. Immer wenn ich vom Klohäuschen
wiederkam, winkte Ma mir hinter der Scheibe zu. Allan stand
an die Kühlerhaube gelehnt und rauchte. An seinem Hals
glühte die Ader wie eine Zündschnur. Beim letzten Mal
schnippte er seine Kippe gegen meine Brust. Das Loch im
Anorak hab ich die ganze restliche Fahrt zum Nebelhorn stolz
befühlt, hab meinen Zeigefinger wieder und wieder reingesteckt.
Als wir angekommen waren und aus dem Audi
stiegen, sah Ma das Brandloch, holte ein Pflaster aus ihrer
Tasche und klebte es quer über das Loch. Sie grinste mich an
und dann bestiegen wir das Nebelhorn.
Genaugenommen fuhren wir mit der Seilbahn hoch. Das war zwar
erstens scheiße wegen meiner Höhenangst, die ich HA nenne,
aber zweitens wie immer Training. Die ganze Zeit über hab
ich zur Sicherheit auf Mas Sandalen gestarrt und auf ihre
winzig kleinen Zehen, die vorne rausschauten und die alle
zehn mit unterschiedlichen Nagellackfarben angemalt waren.
Für die Lackierung der großen Zehen war ich zuständig. Ich
entschied, dass ich ein guter Lackierer war, und dann waren
wir auch schon oben auf der ersten Station. Draußen vermied
ich, Richtung Hang zu schauen, und schnappte nach Luft, aber
Ma schob mich schon weiter zur nächsten Bahn. Bei der
mittleren Station stiegen wir aus. Ich hab ne Cola und Allan
einen von Mas Zungenküssen bekommen.
Der Gipfel war nicht zu sehen, alles war voller Wolken. Wir
lagen in den Liegestühlen vor dem Gasthaus und schauten
hinauf. Allan schrie noch mal „Benzinverschwendung!“,
schloss die Augen und schlief sofort ein. „Die gute
Bergluft“, sagte Ma mit Blick auf Allan, grinste und pfiff
durch ihre Zahnlücke. Ich pfiff zurück und wir schickten
uns, über den schlafenden Allan hinweg, eine Weile
Lückenpfiffe hin und her. Dann schloss auch Ma die Augen,
und ich stand auf und lief ins Gasthaus hinein, von Cola
muss ich immer pissen. Die Spülungen waren nicht elektrisch,
ich hörte dem Rauschen zu und lehnte dabei mit
runtergelassener Hose an der vollgekritzelten Klotür.

Als ich wiederkam, waren Ma und Allan weg. Ich schaute mich um.
Die Terrasse war voll besetzt und es war Mittagessenzeit.
Auf den Tischen dampften die Germknödel. Ich liebte
Germknödel, sie waren Mas Spezialität. Als ich noch klein
war, hatte sie mich im Supermarkt immer über die
Gefriertruhe gehalten und mich die Packung herausnehmen
lassen. Mein Blick suchte noch mal die Terrasse ab, in
unseren Liegestühlen von eben lagen Leute.
Die Gipfelbahn fuhr ein klein wenig langsamer, als die
beiden ersten Bahnen, und es waren viel mehr Leute drin.
Beim Einsteigen hatte mich ein dickes Mädchen in den
hinteren Teil der Gondel gedrängt. Ich schaute auf dem Boden
herum, fixierte verschiedene Wanderschuhe, große, kleine,
aber ohne Mas Zehen funktionierte das Training nicht. Ich
gab auf, schaute hoch und dann bekam ich eine rein. Ich weiß
noch, dass ich damals dachte, die HA wäre das, hätte mir
eine zentriert, manchmal macht sie das, wenn ich als Trainer
versage, aber dann kapierte ich: Das war gar keine Schelle,
das war grelles Licht und der Moment, in dem die Seilbahn
durch die Wolken brach.
Die Sonne strahlte, und ich hielt mir die Hände vor die
Augen, als ich aus der Gondel stieg. Es roch anders als auf
der mittleren Station, das fiel mir sofort auf, und es war
kälter. Ich fror ein bisschen und war froh, dass Ma das
Pflaster über das Brandloch im Anorak geklebt hatte. Auch
hier gab es eine Terrasse, auch sie war voller Leute und
verbreiterte sich weiter vorn zu einem Aussichtspunkt.
Kleine Kinder wurden von ihren Eltern vor die installierten
Fernrohre gehalten. Ein Holzgeländer verlief rings um die
Terrasse. Es war das lächerlichste Geländer, das ich je
gesehen habe: drei Reihen Holzbalken mit einer riesigen
Lücke zwischen erster und zweiter Reihe, durch die man
locker ein Baby hätte schieben können. Ich wusste, dass es
dahinter runterging, weit runterging. Mir wurde schlecht.
Ich dachte wieder an den Bach, und wie er auf den Fels
gekracht war, das half sogar. Ganz vorne, in der Mitte vom
Aussichtspunkt, stand das dicke Mädchen aus der Gondel am
Geländer, neben ihr war ein freier Platz. Der Trainer
klopfte von innen an meine Mannschaftstüre. Er klopfte
einmal, zweimal, und als ich auch beim dritten Mal nicht
öffnete, trat er ein. Der Trainer ließ mich Luft holen, er
hob erst meinen einen, dann den anderen Fuß in die Höhe und
so ging ich Schritt für Schritt auf das Geländer zu. Mein
Herz raste, ich sah mich panisch in mir um, aber der Trainer
war weg. Das machte er manchmal: Plötzlich verschwinden.
Dann musste ich als Mannschaft allein klarkommen, das war
Teil des Trainings. Ich heftete meinen Blick auf den Hintern
des dicken Mädchens, der riesig war, in einer rosa Legging
steckte, und das beruhigte mich sofort. Ich bin mir sicher,
dass mich der rosa Riesenhintern in jedem anderen Moment
meines Lebens extrem beunruhigt hätte, aber jetzt war er im
Vergleich zum freien Geländerplatz mit dahinter liegendem
Abgrund sehr der Hammer. Die Höhenangst schlug in Abständen
von zwei Sekunden ihre kleine Faust in meinen Magen. Wir
beide wussten es, ich als Trainer wusste es genauso, wie ich
es als Mannschaft wusste: Die Situation war was Besonderes
für sie. Sie war den Balkon gewöhnt, den zehnten Stock.
Unsere täglichen Trainingseinheiten dort liefen immer gleich
ab, das war abgestecktes Terrain. Das hier, die
Gipfelstation vom Nebelhornaufstieg, war etwas ganz anderes.
Ich blieb stehen. Ich war nur noch einen Schritt vom
Geländer weg und hatte mit meinem Blick ein Loch in die
Legging des Mädchens gelötet. Ich schloss die Augen. Ich
rief den Trainer und er kam. Er stellte die Mannschaft auf,
steckte sich die Trillerpfeife in den Mund, und als er
hineinstieß, öffnete ich die Augen und machte den letzten
Schritt nach vorn.
Es war weich. Warmes, weiches Fleisch. Das Komische war,
dass sie sich überhaupt nicht bewegte. Einfach stehen blieb,
meine Arme, die sie von hinten umschlangen, meine Hände, die
sich in ihren Bauch gruben, nicht abstreifte oder wegschlug.
Kurz überlegte ich, ob sie eingeschlafen war oder
hypnotisiert vielleicht, die Aussicht, die Bergspitzen, was
weiß denn ich, was dieses Zeug bei Leuten auslöst, denen die
HA nicht am Hacken hängt. Sie blieb jedenfalls stehen, ohne
sich zu rühren, und ich presste mein Gesicht in ihren
Rücken. Sie roch wie mein Bett, wenn Ma es frisch bezogen
hatte, wie meine T-Shirts, meine Pullis, meine Jeans, wenn
ich sie, noch feucht, aus der Waschtrommel zog, in der sie
nach dem Waschen zwei Tage gelegen hatten: leicht modrig.
Ich fasste auch ihre Brüste an. Ich hatte noch nie Brüste
angefasst, außer Mas und die von meinem Kumpel Marco. Aber
Mas Brüste waren klein und fast nicht da, die vom Marco
wabbelige Tütchen. Ihre hier, das waren Ansagen. Ich ließ
die Brüste schnell wieder los, so weit war ich damals noch
nicht, obwohl ich heute oft noch an sie denken muss. Der
Trainer brüllte mich zusammen, er stampfte mit dem Fuß auf,
trat gegen meine Kutteln, wieder und wieder. Aber ich blieb,
wo ich war, und hielt eine ihrer Bauchrollen fest, so wie
ich mich vermutlich am Geländer festgehalten hätte, und
presste mein Gesicht weiter in ihren Rücken, hielt die Augen
geöffnet dabei, so als könne ich durch sie hindurchsehen und
endlich die beschissene Aussicht genießen. Ich spürte, wie
meine Augäpfel gegen den Stoff ihres Pullis stießen, die
feinen Baumwollhärchen alle Feuchtigkeit aufsogen, das
fühlte sich eklig an und wie zwei Dinge, die nicht
zusammengehörten, und da ließ ich sie los.
„Ist dir schlecht?“
Ich hatte mit der Stirn seit zehn Minuten auf dem Holztisch
gelegen. Schaute hoch, sah das Leggingmädchen mir
gegenüberstehen, eine Fantaflasche in der Hand, die sie auf
den Tisch stellte, zu mir rüberschob und mir aufmunternd
zunickte.
Ich schüttelte den Kopf. „Mir ist nicht schlecht!“
Sie setzte sich langsam, zog die Fanta zu sich und nahm
einen Schluck, ließ mich aber nicht aus den Augen dabei.
„Bist du einer von den Verzweifelten oder was?“ Sie musterte
mich. „Bisschen jung für Selbstmord. Aber musst du wissen!“
„Ich hab Höhenangst, du Hohlbirne!“, sagte ich.
„Na vor allem hast du nen schönen Abdruck auf deiner Stirn.“
Sie kicherte. „Brett vorm Kopf!“
„Haha“, sagte ich und rieb mir über die Stirn.
Sie trank noch mal von der Fanta, beobachtete mich dabei.
„Bist du alleine hier?“, fragte sie.
Ich richtete mich auf, strich mit einer Hand über das
Pflaster auf dem Anorak.

„Klar“, sagte ich. „Und du?“
„Hmhm“, murmelte sie, rollte ihre Zunge zusammen, steckte
sie in die Flaschenhalsöffnung und sah mich die ganze Zeit
dabei an. Sie war älter als ich. Es machte plopp, als sie
ihre Zunge aus der Öffnung zog.
„Ich fahr hier jeden Tag hoch. Hab ne Monatskarte.“ Sie
lehnte ihren Kopf gegen die Fanta, mir wurde ganz anders.
„Ich wohne unten im Ort.“
„Hab ich mir schon gedacht“, sagte ich schnell. „Du rollst
das R so komisch.“
Sie grinste. Zahnlücke.
„Hab auch so eine.“ Ich zeigte mit dem Finger auf ihren
Mund.
„Hab ich schon gesehen.“
Wir sahen uns an. Ich nahm mir vor, nicht als Erster
wegzuschauen. Aber sie war eine knallharte Nuss. Schließlich
schaute ich auf den Kragen ihres Pullis, der ebenfalls rosa
war.
„Kannst du das?“ Ich pfiff durch meine Lücke.
Ich verfügte über verschiedene Pfiffe. Es gab die spitzen
hellen, die dumpfen leisen, den einen, der klang, wie der
Wellensittich, der Marcos Mutter gehörte. Ma hatte sie mir
im Laufe der Jahre beigebracht, einen nach dem anderen. Wir
hatten jeden Einzelnen so lange geübt, bis ich ihn perfekt
konnte. „Erste Tat am Tag, Meise!“, hatte Ma morgens
gerufen, wenn sie die Tür zu meinem Zimmer aufstieß, und ich
hatte, noch im Halbschlaf, volle Lotte losgezwitschert.
Später hab ich selbst einen entwickelt. Ich ließ mir Zeit,
feilte an ihm, bis ich ganz sicher war, dass er mit Mas
Pfiffen mithalten konnte. Als wir ihn zusammen auf dem
Balkon das erste Mal ausprobierten, strich sie mir über den
Kopf, sagte: „Du bist mir vielleicht ne Pfeife, Meislein.“
Nach dem letzten Pfiff stand das Leggingmädchen auf. Sie war
richtig gut im Nachpfeifen gewesen. Sie kam um den Tisch
rum, die Fanta baumelte in ihrer Hand.
„Willst du noch mal?“, fragte sie. Ich schaute zu ihr hoch.
Sie war ein rosa Berg. Ich ging die Möglichkeiten durch:
Fanta, Brüste, Augäpfel auf Baumwolle. Ich war mir nicht
sicher, was genau ich noch mal wollen sollte. Ich hatte auch
Angst davor, es noch mal zu wollen, egal, was es war. Also
schüttelte ich sicherheitshalber den Kopf. Sie stellte die
Fanta energisch auf dem Tisch ab und zog ihren Pullover
hoch. Zwei enorme Bauchrollen wallten mir entgegen. Eine war
ganz rot. Das also hatte sie gemeint.
„War ich das?“, fragte ich leise. Sie nickte, zuckte dann
die Schultern. „Nicht schlimm, ich spür das gar nicht.“
„Echt nicht?“
„Nee, echt nicht!“
Ich hob eine Hand, streckte zwei Finger aus und steckte sie
zwischen die Rollen. Es war klebrig dort und warm. Wir
schauten uns an. Ich zwickte einmal kurz.
„Und?“
Sie schüttelte den Kopf.
Ich zwickte noch mal stärker. Aber sie reagierte nicht, sah
mich nur an auf eine Art, wie mich noch nie ein Mädchen
angesehen hatte. Das verwirrte mich, aber ich war ja in
puncto girls auch noch komplett ohne Plan damals. Heute weiß
ich: Sie war eine von den Guten. Die Guten schauen nie weg,
müsst ihr wissen, die bleiben an dir dran. Und das
Leggingmädchen war eine von ihnen, war meine Erste, hat den
Anfang gemacht, mir was gezeigt mit ihrem Blick, das, was
man wissen muss, wenn man ein Profi werden will.
„Ich komme wegen dem Obheiter hier rauf.“
„Wegen was?“, meine Stimme war plötzlich dünn und so, dass
man sie Stimmchen hätte nennen können.
„Wir sagen Obheiter dazu. Wenn's unten neblig ist oder
bewölkt.“
Sie lehnte sich leicht vornüber, sodass meine ganze Hand
zwischen ihren Rollen versank. „Oben scheint ja immer die
Sonne, du Hohlbirne“, flüsterte sie.
Dann richtete sie sich auf: „Ich verschwinde!“
Als sie den Pulli runterzog, streifte sie auch meine Hand
ab. Ohne sich noch mal umzudrehen, lief sie zur Talbahn, die
grade einfuhr.
Es war stiller geworden auf der Terrasse. Ich sah mich um,
schaute Richtung Geländer. Nur noch drei Leute standen dort.
Niemand trug Rosa. Die leere Fantaflasche vor mir, irgendwas
war passiert. Ich wusste nicht was. Ich stieß den Trainer
mit dem Fuß an, aber er blieb stumm. Ich griff nach der
Flasche, rollte die Zunge zusammen und steckte sie in den
Flaschenhals. Der Wellensittichpfiff ließ mich den Kopf
drehen. Ma stand vor der Bahn. Sie hielt eine Hand vor die
Augen wegen der Sonne, wie ich vorhin. Es machte plopp.