Hannah Dübgen, BERLIN (D)

Geboren 1977 in Düsseldorf, lebt in Berlin. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Als Dramaturgin arbeitete sie am Theater und an der Oper.

Die Autorin wurde von Juri Steiner zum Wettlesen um den Ingeborg Bachmann-Preis eingeladen.

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Hannah Dübgen: Foto: Susanne SchleyerHannah Dübgen: Foto: Susanne Schleyer

Hannah Dübgen: Schattenlider

vorgelesen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Hannah Dübgen

Als du zum ersten Mal in meinen Händen lagst, habe ich es gar nicht gesehen. Dass da etwas fehlte. Du warst so bestimmt in deinem Schrei, den ausgestreckten Armen, energisch zappelnden Beinen, und dann auf einmal so ruhig, als du auf meinem Brustkorb lagst, dich anschmiegtest und deine Atemzüge langsam tiefer wurden, du hattest gefunden, wonach du suchtest. Erst am nächsten Morgen trat sie ans Licht, die Wahrheit, stach ins Auge der Krankenschwester, erschrocken fuhr die hagere Frau zurück und beugte sich dann noch tiefer über dich, hielt mit ihren großen Händen deine Hände fest, als könntest du sonst weglaufen.
»Sehen Sie?«
Ich sah nichts.
»Hier.«
Zwei Mulden unter der Haut. Verschlossen. Ich blinzelte, schaute noch
einmal hin: Verschlossen, die Haut.
»Fehlen beide Augäpfel komplett, bildet sich auch keine Lidspalte, kein
Lid …«
Mehr verstand ich nicht an jenem Morgen. Eine plötzliche Enge in der
Brust schnürte mir die Luft ab, ich taumelte, griff nach dem Bettrand, griff daneben, etwas fiel zu Boden, klapperte, du drehtest deinen Kopf mir zu und
seufztest. Schläfrig. Satt.
Ärzte, Spezialisten aus dem ganzen Bundesland stießen sich die Köpfe
über deinem Bett, du schliefst. Kautest im Schlaf, als mache dir der hektische Trubel nichts aus. Als seiest du die Einzige, die es nicht überrascht, das Dunkel
deiner Welt.

Wann wirst du merken, dass es auch anders ginge, dass sehen möglich ist, fragen wir uns auf dem Nachhauseweg. Wann wirst du es begreifen, und wie? Erst mit den Worten?
Dein Bruder erwartet dich am Tor, »Das Baby!« Er redet laut und aufgeregt, will dich tragen, auf der Ladefläche seines Lastwagens durch den Garten schieben.
»Das geht nicht, Lukas.«
»Warum?«
Der Echoraum eines Wortes. Plötzlich ein anderer.
Warum? Alle Fragen werden eine. Und die Antwort so abstrakt, dass
sie allenfalls den Kopf beruhigt: Chromosomen, Ketten, Paare, Dopplungen, Vereinigungen, missglückte Vereinigungen, Überbleibsel, Reste, Fehler. Reste sind Fehler, fatale Ungleichgewichte, 47 statt 46, 47 neben 46 Chromosomen, Fehler in jeder oder nur in einigen Zellen. Dein Leben lang. Auch wenn die Zelle selbst sich erneuert, der Fehler bleibt. Pflanzt sich fort. Irreparabel der Code, aus dem du immer wieder bist.
»Deine Schwester ist noch zu klein, zu zart für deinen Lastwagen, Lukas.«
Das stimmt. Und reicht doch als Erklärung bald schon nicht mehr aus.
»Aber wenn sie nicht sehen kann, wie wird sie dann wissen, dass ich es
bin, ihr Bruder?«
»Sie wird dich an deiner Stimme erkennen. Wie alle Babys.«

Unser Geflüster, Gerede, Geklapper, das Rauschen, Quietschen und Knarrzen dringt in deine Ohren, deinen kleinen Kopf. Musik auch, die du kennst, schon damals im Bauch hast du sie gehört, durch Hautschichten, Gewebe, Gefäße und Fruchtwasser hindurch. Die Gerüche dagegen sind neu, der Duft von gebackenem Kuchen und verbrannter Milch, von Roberts Rasierwasser und meiner Haut. Dein Mund ertastet sein Umfeld, fährt über meine Brust, sucht mit jenem Instinkt, der keine Augen braucht, sein Ziel und beginnt zu saugen.
Es zieht und tut weh. Von Lukas weiß ich, dass es dauert, bis das Ziehen sich verliert, einem angenehm festen, leicht kitzelnden Saugen weicht.

Wir gewöhnen uns aneinander, machen uns einander vertraut. Bald
erkennst du die aufgerauten Kanten meiner spröden Lippen, Lukas’ tastende Hände, Roberts stacheligen Bart. Ein leichtes Pusten auf die Stirn ist dir angenehm, und nach dem Trinken reibst du dir die Füße wie andere sich die Hände. Und manchmal, nachmittags am Fenster, wenn ich über deine feinen, weichen Haare streiche, und du dich aus meinem Arm herausdrehst, aus der Schräglage auf den Rücken, dem Licht entgegen streckst und deine Hände hebst, ist mir, als öffnetest du die Augen. Draußen am Wegrand, kurz vor dem Tor, sprießen die Blüten des Huflattich, ungeduldig, müssen die ersten sein, blühen noch vor dem Laub der Bäume.
Blüten, gelb wie – Eigelb? Die Sonne? Später dann, in ein paar Wochen die Veilchen, Narzissen, im Sommer auf den Feldern der Mohn, rot wie – Feuer?
Zorn? Über den Feldern der Himmel, strahlend blau, hoch und weit. Wie
hoch, was ist hoch, was ist eine Aussicht, Mama? Wie fühlt es sich an, wenn der Blick sich weitet, frei wird? So wie – ich suche, fieberhaft. Vergeblich. So wie – Worte, nein. Sie helfen nicht. Aber dann: wie? Mit welchen Mitteln …
Sinnen … Mit Musik? Der Himmel über dem Feld, ein Sonnenaufgang ist
wie – jene Stelle, an der die Melodie sich aufbäumt, erhebt, neue Klänge, Farben erstrahlen, der Raum sich weitet, ein Gefühl von Befreiung … Hörst du?
Wirst du es hören? Hören wir immer nur, was wir kennen? Sehen wir beim Hören immer nur unsere Welt?
Weit ist, wenn es viele Schritte braucht. Hoch ist eine Leiter mit mehr
als sieben Stufen. Ein Haus mit drei Stockwerken ist hoch, hoch oben ist der Dachstuhl, mit den knarrzenden Holzdielen und dem Geruch nach Mottenpulver.
Komm mit, werde ich sagen. Gemeinsam werden wir die Treppe
hochsteigen, meine Hand auf deiner Hand, deine Hand auf dem Geländer, so werden wir ein Gefühl bekommen, für die Stufen, die Stockwerke. Oben aus der Dachluke werden wir eine Münze hinunter auf die Straße werfen und warten, bis sie aufschlägt, zählen, die Sekunden, die verstreichende Zeit – so hoch werden wir sein.

Lukas will so lange nicht warten. Er legt seine Spielsachen auf deinen Bauch, möchte dir sein Versteck auf dem Spielplatz zeigen, er zieht an meiner Hand, ruft aufgeregt im Kindergarten: »Meine Schwester hat keine Äpfel!« und verbessert sich: »Keine Augäpfel«.
Das Lachen der Erzieherin erstickt, ihre Lippen schnappen zu, sie versucht, zu schlucken, ihre Augen suchen Lukas, hilflos: Weiß er, was er da sagt?
Ich sehe zu, spüre Unbehagen. Ärger. Ich muss die Situation erklären,
muss mit der Wahrheit rausrücken, muss sie in Schutz nehmen, meine blinde Tochter.
Der Blick der Anderen. Bestürzung kommt vor Begreifen, das Gefühl ist
schneller als der Verstand, der braucht Zeit, häuft Fragen auf, laute oder stille, im Geiste gestellte Fragen, doch auch jene sind sichtbar: Unruhig irren die Pupillen, zucken Augenbrauen.
Die Erzieherin greift sich ins Haar, als könne sie so das Kopfschütteln
unterlassen.
»Mein Gott … Wie kann … Wie konnte …?«
Manche kommen sofort darauf zu sprechen, andere umkreisen erst ein
paar Mal den neuralgischen Punkt, doch fast immer gelangen die Menschen, denen ich davon erzähle, über kurz oder lang an den gleichen Kern: Wie ist das möglich? Ein Mensch ohne Augäpfel. Ein Gesicht von der Nase aufwärts
zugeschnürt. Was ist der Grund? Oder anders, verhaltener, fast flüsternd gefragt: Wer trägt die Schuld?
Die Schuld? Ich hatte mich bis dahin eher als Opfer gefühlt. Opfer eines
Fehlers im Ablauf, in einem Prozess, der aufgrund seiner Schnelligkeit und molekularen Beschaffenheit unbeeinflussbar von mir in mir vonstatten geht. Kann ich Chromosomenpaare auseinanderzerren oder, besser noch, zur Vereinigung zwingen?
Doch anscheinend ist das nicht für alle so klar.
»Wer einen Schuldigen sucht, der braucht ihn«, sagt Robert und zuckt
mit den Achseln, als ich ihn darauf anspreche.
Ist damit alles gesagt? Traut man sich, hinter den irrenden Pupillen,
hinter dem Geräusper und Geflüster zu denken, wovor wir uns hüten? Allmählich geht mir ein Licht auf, und es wundert mich nicht, dass viele wissen wollen, was auch wir die Ärzte gefragt haben, es ist eine unserer ersten Fragen gewesen, und allein die Antwort hatte dazu geführt, dass wir später nicht mehr daran dachten. Ja, wir hätten es schon vor ihrer Geburt wissen können. Hätten wir sie gezielt darauf untersucht. Doch es hat keine Anzeichen gegeben, keinen Grund, nach einer derart seltenen Krankheit zu suchen. Auch auf dem Bildschirm der Ärztin haben wir nichts gesehen. Der Gedanke kommt langsam, wie in Zeitlupe auf mich zu und ich halte ihn von mir fern, mit ausgestrecktem Arm, bevor er mich erreicht: Und wenn wir es bereits gewusst hätten? Hätten wir gehandelt? Ich versuche, nicht daran
zu denken. Es gelingt nicht immer.
»Robert?«
Als er versteht, worauf ich hinauswill, wehrt er ab: »Es ist, wie es ist.«
Doch ich sehe Robert an, dass die Frage an ihm nicht vorbeigeht, sich in seinem Kopf festsetzt, ihn bewegt, seine Augen drehen sich ins Licht, suchen das Fenster, kein Gegenüber.
Ich frage mich, was Robert mir ansieht. Was zwischen uns passiert.
Wir glauben nicht an Krankheit als Prüfung oder Botschaft.
God sends children with special needs only to special parents.
»Idioten!« Robert schüttelt den Kopf und klickt die Seite auf dem Bildschirm sofort weg.
Wir haben keinen Gott, der uns durch sie etwas sagen will. Wir haben
dich, unsere Tochter. Und einen viel zu kleinen Wald in dieser sonst so großen Stadt.
»Lukas, zieh dich an! Wir machen einen Spaziergang.«
»Wir alle?«
»Natürlich.«

Das Verdeck des Kinderwagens bleibt geschlossen, wegen der Kälte.
Noch liegt Schnee im Schatten der Bäume, am Fuße der Stämme.
Lukas prescht vor, einen Ast in der Hand, ich sehe, wie er die Wurzeln
meidet, über sie hinweg springt, leichtfüßig, geschickt meistert er den unebenen Boden.
Plötzlich bleibt Robert stehen, packt mich am Arm: »Siehst du, dort
vorne?« Mit dem Kinn deutet er auf zwei Menschen vor uns auf dem Waldweg, die sich langsam auf uns zubewegen. Ein Paar, sie hat sich bei ihm eingehakt, aus der Ferne wirken ihre dünnen Beine in den hohen Stiefeln wie zwei Storchenfüße.
»Es ist Matthias mit seiner Frau.«
Welcher Matthias will ich fragen, als ich ihn erkenne: Roberts Kollegen
und seine Frau.
»Was für ein Zufall!«, ruft Matthias, als die beiden fast da sind.
»Ein Baby! Darf ich mal sehen?« Seine Frau hebt die Hände, strahlt.
Wir können es ihnen nicht verwehren, denke ich und mir wird heiß.
Robert will es trotzdem verhindern, abrupt lenkt er den Wagen zur Seite: »Sie ist … Sie hat …» Er stockt und sieht so verstört aus, dass die beiden zurückweichen.
»Unsere Tochter kann nicht sehen«, höre ich mich sagen, erstaunt über
meine feste Stimme.
Münder klaffen auf, nacheinander, Hände werfen sich wie Klappen auf
die Lippen, kappen den ausströmenden Atem.
»O …«
Entsetzen macht sich breit, erobert ihre Gesichter, ich sehe, wie Matthias versucht, seinen Schrecken hinunterzuwürgen, sehe den hüpfenden Adamsapfel, sein Schlucken, daneben die rollenden Augen seiner Frau. Ich sehe, wie es arbeitet hinter ihren Brauen, sehe den hastigen Puls in ihrer Schläfe pochen, ich höre das Schaben der Sohlen auf dem Waldboden und dann, auf einmal, sehe ich etwas Anderes, Neues, erst bei ihr, dann bei ihm, einen tief aus dem Körper, dem Brustkorb kommenden Seufzer, so entspannt, gelöst,
dass er nicht uns gelten kann … Erleichterung erobert die Gesichter, taucht sie in weiche Freundlichkeit und neigt die Köpfe sanft zur Seite.
»Das tut uns sehr leid.«
Ich schiele zu Robert, frage mich, was er sieht.
Ihr Mitgefühl ist ehrlich, so ehrlich wie ihre Erleichterung, dieses Aufatmen, das alles überstrahlt. Was ist schöner als die Katastrophe, die an einem selbst vorbeigegangen ist?
Matthias’ Frau nickt mir zu, herzlich, aufmunternd, ich weiche ihrem
Blick aus, will sie nicht spüren, jene schneidende Grenze, die dieses Lächeln zieht.
Die beiden treten näher, sie schauen in den Wagen und halten dem Blick stand, heben dann die Köpfe, sehen uns an und nicken wieder, lächeln, ganz abgeklärt auf einmal, als wäre dein zugeschnürtes Gesicht normal.
»Ich will kein Mitleid von diesen Leuten!«, ruft Robert und stößt den Kinderwagen von sich, als es endlich möglich ist.
Ich senke den Kopf, weiss, was er meint. Wir sind es nicht gewohnt, Mitleid zu erregen. Wir waren bis jetzt stets die Mitleid Habenden, die Betrachter, schnellen Versteher. Wir beide, Robert und ich, bei den Debatten immer die Ersten, bei den Partys eher die Letzten, wir zwei souveräne Geister, auf- und abgeklärt, ironisch und doch zu Gefühlen bereit.
»Sie behandeln uns wie –« Robert vollendet den Satz nicht. Er will es
nicht beim Namen nennen, das, was ihm, was uns zuschaffen macht: Unterlegenheit heißt das Gefühl. Ihre Erleichterung ist unsere Demütigung. Auch wenn sie es natürlich nicht so sehen, es wahrscheinlich nicht einmal wissen.
Ich nehme Robert den Kinderwagen ab, rufe Lukas und versuche, das
Thema zu wechseln. Weil reden doch nicht hilft, wenn es keinen Ausweg gibt. Lukas erwartet uns am Wegrand, spürt, dass etwas nicht stimmt. Er fragt Robert, wer die Leute waren, was sie von uns wollten.

Robert beugt sich zu ihm: »Weißt du, manche Menschen freut es, wenn
die anderen traurig sind.«
Ich bleibe stehen. »Lass Lukas da raus!«, zische ich Robert an, »er hat
damit nichts zu tun.«
Robert blickt mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Ihn da rauslassen? Er ist ihr Bruder.«
Das ist etwas anderes – will ich sagen und sage es nicht. Weil ich mir
nicht mehr sicher bin. Oder einfach nur müde.
Müde der Fragen, bohrenden Gedanken. Ist diese Welt nicht für Blinde
gemacht? Jede Ampel, jeder Stein auf dem Weg wird zum Prüfstein. Ein Touchscreen
Grund zur Verzweiflung. Der geriffelte, leicht zu ertastende Schlüssel
ein Zeichen der Hoffnung. Woran wirst du merken, dass das Glas gleich überläuft? An deiner Fingerkuppe am Glasrand? Wirst du mir zeigen, woran du es erkennst? Und bis dahin? Du bist noch so klein. Wehrlos. Bedürftig. Tag und Nacht in Wolle gepackt und doch schon schmutzig zwischen den Zehen, hinter den Ohren, in den Falten am Hals. Bereit für ein Bad. Du schreist wie alle Kinder, magst das Wasser nicht, windest dich, strampelst, schreist lauter, verzweifelter. Ich kenne das von deinem Bruder, und doch fühlt es sich anders an. Deine Hilflosigkeit weckt keine zarten, ruhigen Worte in mir, ist wie ein Stich in die Brust. Ich nehme den Waschlappen, zwinge mich, dich zu waschen, als hörte ich die Schreie nicht, es muss sein,
sage ich laut. Es muss sein und wird nicht besser. Du wehrst dich mit aller Kraft, schlägst den Waschlappen weg, schlägst nach mir und zum ersten Mal möchte ich zurückschlagen, ich greife fester zu, eine Hand in jeder Hand, so wie die Krankenschwester dich festgehalten hat, dein Schreien nimmt neue Töne an, zuckt durch deinen Körper, ich fluche, schreie zurück, und denke: Du wirst schon merken, wer gewinnt. Der Stärkere. Der, der sehen kann. Hinterher überrascht es mich. Dass es so kommen konnte. Dass ich so sein kann.

»Das ist gut!», sagt Robert energisch. Er nickt mir zu und lächelt, verlegen und doch liebevoll, beinahe dankbar, als hätte ich das für uns beide getan. Deine Finger sind trocken, schrumpelig. Ich creme sie ein und beobachte, wie du reagierst. Du rührst dich nicht, deine Haut ist warm, deine Glieder entspannt, ein Körper voller Müdigkeit. Als du am Abend in deinem Schlafsack neben mir auf der Bettdecke liegst, flüstere ich Entschuldigungen in dein Ohr.
Küsse den Flaum auf deiner Ohrmuschel, küsse die zwei Mulden unter deiner Stirn und streichele über deinen Kopf, bis du einschläfst und schnarchst. Deine eingecremten Finger umschlingen meinen Daumen wie Teig. Du bist nicht das einzige Baby, das sofort verzeiht. Aber das einzige, das mir verzeihen kann.
In der Nacht träume ich von dir. In einem Haus im Wald, einem Haus für
Blinde. Es ist groß und geräumig, Licht fällt durch die hohen Fenster und wirft Schatten auf die Holzdielen. An einer Tafel sitzen Menschen und essen, es riecht nach Rosmarin und Tomaten, ein blinder Vater füttert sein Kind im Hochstuhl, daneben ziehen zwei Mädchen lange Spaghetti in ihre Münder, und am Kopf des Tisches knackt eine hochgewachsene Dame fortwährend Walnüsse. Weiter hinten, kurz vor der Wand kniet ein junges Paar auf einem moosgrünen Sofa, er fährt mit seinem Finger langsam über ihr Gesicht, während sie leise summt. Vorsichtig taste ich mich vorwärts, an der Wand entlang,
meine Fingerkuppen fahren über Rahmen und Bilder an der Wand, auf
ihnen raue Punkte, Symbole, Blindenschrift. Weiter vorne, am Ende der Wand sitzt ein alter Mann am Fenster, das Gesicht in die Sonne gedreht, und döst. Und auf einmal merke ich, was merkwürdig ist in diesem Traum. Auch ich bin blind, meine Hände suchen, weisen mir den Weg, jedes Geräusch dringt scharf in mein Ohr, die zu Boden fallende Gabel, das Knacken der brechenden Nussschalen, die heran eilenden Schritte des schlacksigen Jungen, der an mir
vorbei zu dem Mann am Fenster eilt … Und gleichzeitig sehe ich das alles, das, was die Anderen offenbar nicht sehen können. Einige Menschen tragen Augenbinden, andere haben Mulden unter der Stirn, wie du, wie das Mädchen auf der Treppe, das langsam näher kommt, ich laufe ihm entgegen, hastig, stoße gegen einen Stuhl, das Mädchen zuckt zusammen, es ist meine Tochter, in einem rot leuchtenden Kleid, flammenrot, denke ich, als sie lächelnd die Hand hebt, den Mund öffnet – und ich verschwitzt erwache.

Draußen ist es noch dunkel. Die Balkontür öffnet sich geräuschlos, die
Luft im Freien ist feucht und kalt. Der Aschenbecher auf der Balustrade, unter dem Vogelhaus quillt über, eine offene Zigarettenschachtel liegt aufgeweicht daneben. Hinten im Garten schreit eine Eule, ihr Ruf tönt aus der hohen Kiefer.
Wirst du dich, sobald du kannst, von uns entfernen, wirst deinesgleichen
suchen, weil du dich mit ihnen wohler fühlst? Wirst du uns besuchen, später, deine alternden Eltern, weil es sein muss, zu Festtagen, und wird es doch immer etwas Fremdes, Anstrengendes sein? Wirst du froh sein, am Ende des Tages heimkehren zu können und nur uns zuliebe vor dem Abschied noch einen Spaziergang mit uns machen, durch den Garten hinaus aufs Feld, über dem deine Eltern den weiten Horizont sehen werden, und du warnst: »Mama, stolpere nicht.«
Ein Feld ist ein Feld ist kein Feld. Ist ein Teppich aus Gerüchen, Heu,
Matsch, Pferdehaufen. »Da nicht, Mama!«
Es hat geregnet.
Irgendwo knackt es, ich schaue mich um und sehe nichts auf dem Balkon, das nicht schon da gewesen ist. Oder wirst du gerne kommen, nachsichtig lächeln, wenn dir klar wird, dass es deinen Eltern nicht einmal gelingt, anhand der Schritte zu erkennen,
wie groß und schwer derjenige ist, der sie gleich von hinten überholt? Wirst du uns zwangsläufig für grob halten, auch wenn du zu feinfühlig sein wirst, um es auszusprechen, weil wir in Stimmen zwar das Geschlecht, vielleicht auch den Charakter, aber niemals die Schönheit eines Menschen aufspüren können? Werden wir in deinen Augen zwangsläufig zu Banausen, solange wir in der Musik nur Abbilder unserer Welt, und nicht ihr Inneres sehen?
Hinter mir aus dem Zimmer dringt ein leises Wimmern. Dein Hunger
weckt dich auf, ich gehe hinein, nehme dich aus der Wiege, muss husten. Wie warm und stickig ist auf einmal das Zimmer. Ich trage dich zur Balkontür, wir treten hinaus, nur ganz kurz.
Spürst du, dass es Nacht ist? An der Stille? Der kühlen Luft? Aus dem
Schornstein des Nachbarhauses steigt Rauch auf. In der Kiefer schreit immer noch die Eule. Dein Wimmern verebbt, deine Füße trommeln lebhaft gegen meinen Arm. Hörst du im Schrei der Eule die Nacht?
Es ist Sonntag. Du liegst draußen, in deinem Wagen, im Frühlingswind. Die warme Sonne scheint auf dein Gesicht, frische Luft streift sanft deine Haut. Mir fallen Lieder ein von Windfrauen, Bilder von pausbäckigen Engeln, von prustenden Herren mit wilder Mähne … Du rümpfst die Nase, schläfst nicht, riechst. Die ersten Veilchen? Die Nadeln der Kiefer? Dein Name bedeutet
Heiterkeit. Wir haben ihn nicht geändert. Ich setze mich neben dich und
drehe mein Gesicht in die Sonne.