Larissa Boehning, BERLIN (D)
Die Autorin wurde von Meike Feßmann zur Lesung beim Ingeborg Bachmann-Preis 2013 eingeladen.
Larissa Boehning: Zucker (Auszug)
vorgelesen bei den 37.Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013
© Larissa Boehning
Die gekochte Ochsenzunge stand auf einer Porzellanplatte, mitten auf
dem Küchentisch. Er war rein gekommen und hatte gedacht, da steht
ein fleischiger Riesenpenis. Annemarie lehnte am Herd, rührte in ihrer
Suppe, Blutsuppe, Biersuppe, es roch nach Braten, Kohl und Röstzwiebeln. Wie sie es hinkriegte, ihr bayerisches Wirtshaus, in dem sie aufgewachsen war, hier in Hamburg, in ihrem mit heiligem Klimbim,
Stofflampen und plüschigen Sitzecken vollgepfropften Haus zu konservieren. Andauernd irgendein katholischer Feiertag – und jetzt noch Zunge.
Sie zog ein Tranchiermesser aus dem Messerblock und ging zum
Tisch. Mit ihrer beherzten Generalsstrenge griff sie nach der Zunge,
legte sie um, beugte sich darüber und ließ das Messer in die Gaumenknorpel gleiten.
„Ich hab schon was gegessen.“
Sie machte nur dieses Geräusch, ein ironisches, leicht abschätziges
Schnaufen, das seinen Widerspruch einfach tilgte. Der Druck seiner
Speiseröhre gegen seinen Rachen stieg, er konnte ihn auch durch
Schlucken nicht mildern. Die Zunge wurde scheibchenweise zerlegt.
Und von Annemaries schlanken, aber knochigen Fingern Oval für
Oval auf der Platte dekoriert.
Vom Kühlschrank herunter starrten ihn die Puppen an, ihre Porzellan-
Kinder, die Mädchen in Rüschenkleidern, die Jungen in Lederhosen. Kam nur endlich der Tag, an dem er sie herunterheben
und ihnen die Köpfe abreißen konnte.
Er hatte begonnen, die Wochen, die Annemarie noch blieben, zu
zählen. Ohne Therapie maximal sechs Monate, hatte der Arzt gesagt.
Vier davon waren vorbei, knapp fünf. Aber wer konnte es schon genau
wissen, vielleicht war der Mediziner ein Pessimist und ein anderer
hätte Annemarie was ganz anderes gesagt: Bei Ihrer Zähigkeit und
weil Sie Nichtraucherin sind, da gab es schon Patienten, die mit diesem
Knochenkrebs acht, neun, zehn Monate überlebt haben.
Er hätte ein zweites Urteil einholen sollen. Jetzt noch einmal fünf
Monate, das ging nicht. Sie hatte erst die Hälfte der Engelwirts-Karte
nachgekocht, wenn’s hoch kam. Und dazu ihre Unerweichbarkeit: Das
wirst du probieren und wie du das probierst. Wasserschnalze, Milzschnittensuppe, Leberkäse, Kalbshirn, Besoffene Jungfrau und
Buttercremetorte. Annemarie verjüngte sich im Kochen. Wenn sie in
ihre Vergangenheit eintauchte – wie sie leuchtete. Ihre heiligen Quellen
würden nicht versiegen. Vielleicht war sie unsterblich. Der Penis
lag komplett in Scheiben da.
Er verließ die Küche und ging ins Wohnzimmer. Dort, am großen
Panoramafenster, dem Schmuckstück des Hauses, konnte er Luft
holen. Diese großartige Aussicht musste das Verdienst ihres Mannes
gewesen sein, Gott hab ihn selig, den Harald, es war ein Genuss, an
diesem Fenster zu stehen. Wie aus der Kapitänslounge eines großen
Schiffes heraus, hatte er die Route im Blick, den Weg hinaus aufs
Meer.
Auf annähernd drei Millionen war das Haus geschätzt worden.
Hanglange, unverbaubarer Elbblick. Der Tag kam, bald schon, und
dann stand er hier mit einem Interessenten, herzliches Beileid zum
Tod Ihrer – Mutter? Ja, vielen Dank. Und Sie wollen hier selbst nicht
einziehen? Nein, zuviel Erinnerung. Verstehe. Also, wir nehmen es,
meine Frau hat sich gleich verliebt, was stand als Preis im Netz? Drei
Komma sechs, Elbnähe, unverbaubar, für Sie mach ich, weil Sie sich
so schnell entscheiden, drei Komma fünf. Plus alles andere, die lang
laufenden Titel, die Bundesanleihen, ihre Mischfonds, kam er bei vier
raus, Freibetrag ab, Erbschafts-, Abgeltungssteuer, drei Millionen war
das Minimum, bei drei Millionen musste er bleiben. Wer auf das Ende
wettet, der geht als Sieger daraus hervor.
Unten lag die Elbe als graubrauner Streifen, gesäumt vom rostigen
Leuchten der Hafenanlagen. LIBERTY SUN fuhr hinein, AMAZING
GRACE hinaus. Dinosaurier, auch die, mussten endlich ausgetauscht
werden, gegen eine leichte, flexible, bestenfalls virtuelle Version ihrer
selbst. Viel zu viel Luft in leeren Containern, die über die Meere
transportiert wurde, und immer verzögerte sich das Ausrangieren, bis
der kranke Koloss auf See sank und ruinierte Strände hinterließ.
Rechtzeitig abzudanken, das war das Gebot der Stunde.
Sie servierte ihm den Teller mit der zerlegten Zunge. Er wusste, er
würde keinen Gang überspringen können. Seit sie beschlossen hatte,
ihm jedes Gericht, das sie konnte, vorzusetzen, ging er manchmal zu
McDonald’s, kaufte zwei Big-Mac-Menüs und ein Happy Meal, aß so
lange, bis sich sein Magen aufs Äußerste gedehnt anfühlte, ließ den
Berg Müll genussvoll vom Tablett in die Tonne rutschen, und verließ
den Laden, gewappnet.
„Ich glaub, ich muss mich kurz hinlegen. Mir ist nicht gut“, sagte
er. Sie schaute auf – er meinte, den Vorwurf zu sehen: all das schöne
Essen, das sie jetzt aufheben musste, eingereiht in die Batterie aus
Resteschüsseln auf der Fensterbank, unter der Frischhaltefolie sammelten sich Schweißperlen.
„Wieder deine Kopfschmerzen?“
„Ich will’s nicht hoffen.“
„Das kommt von deiner Arbeit“, sagte sie im Tonfall einer Krankenschwester.
„Ich bring dich hoch.“ Er achtete darauf, keinen zu
schwächlichen Eindruck zu machen, nur was notwendig war, um vom
Tisch wegzukommen. Immer das richtige Maß, das hatten schon seine
Kollegen bewundert, als fiele es ihm leicht, genau den Ton zu treffen,
dem Menschen glaubten. Dabei beherzigte er nur das Vaterunser
seines Chefs: Triff den Kunden da, wo er ganz Mensch ist. Erzähl ihm
ein Geheimnis aus deinem Leben. Wenn ich dir ein Geheimnis anvertraue, dann vertraust du mir eins an. Natürlicher Reflex.
Wissen Sie was, ich finde, die Krise ist für eins wirklich gut: zum
Umdenken. Wir müssen endlich nachhaltig leben. Nur, wer das jetzt
begreift, die Krise als Chance, und dass es um Verantwortung geht,
um unsere Zukunft, ja, der kommt weiter. Aber, ich sag Ihnen das im
Vertrauen, und zwar nur Ihnen. Es gibt immer noch so viele Leute, die
einen schräg angucken, wenn man zugibt, keine Lust mehr auf Hochrisikopapiere zu haben. Teile ein Geheimnis, und immer die
Visitenkarte des Kunden respektvoll mit vier Fingern festhalten. Dann
kommt dein Reich, dein Wille geschehe. Du bist ihr Gott, du kannst
sie lenken und führen. Du hebst sie auf, schaust sie an und siehst sie in
ihrer Bedürftigkeit. Du bist der Heiland, du bist auf die Erde gekommen
und weilst unter ihnen. Du trägst nur Maßgeschneidertes und
rahmengenähte Schuhe. Allein das zeigt deinen Kunden, wie viel
Respekt du vor ihnen und ihren Bedürfnissen, vor allem vor ihren
Ängsten hast. Du hörst zu. Wenn du zuhörst, wird zu dir gesprochen.
Wenn zu dir gesprochen wird, öffnen sich die Türen, wenn die Türen
geöffnet sind, dann bist du ganz bei ihnen, du kannst sie berühren, in
ihrem Innersten sein. Nur so befreist du sie von ihren Zweifeln und
ihren Ängsten vor den Übeln der Welt. Du befreist sie und dafür
geben sie dir ihre Unterschrift, ihr Vertrauen und am Ende ihr Geld.
Erst vor ein paar Tagen hatte sie wieder das mit den zwölf Aposteln
gesagt: Matthias, der Judas ersetzte und die Runde der zwölf
Jünger wieder vollständig machte.
Matthias, ob er wisse, was sein Name bedeute? Geschenk Gottes.
Nein, wirklich?
Ja, das bist du. Ein Geschenk Gottes.
Da widersprach er mal lieber nicht.
Obwohl doch, hatte er später zu ihr gesagt, er müsse leider Gott
widersprechen. Denn es sei ja genau umgekehrt. Sie sei sein Geschenk.
An dem Tag, an dem er zu ihr gekommen war, pünktlich auf die Minute,
in seinem neuen dunkelblauen Valentino-Anzug und den
Budapestern aus Kalbsleder, gereizt und genervt, dass er hier nur zum
Sortieren ihrer Unterlagen hergerufen worden war, nicht zum Verkaufen;
während er Stück um Stück Buttercremetorte aß, und noch eine
Tasse Kaffee mit Sahne, natürlich, sehr gern, Frau Funk, da erzählte
sie immer wieder davon, wie sehr der Herr seine Hände im Spiel habe,
immer schon in ihrem Leben, wohl auch jetzt, da man ihr von der
Versicherung nicht irgendeinen Trottel geschickt habe, der ihr in
ihrem Zustand noch Papiere unter die Hand schieben wollte – sondern
ihn, Matthias. Das wäre auch der Name gewesen, sagte sie, den sie
ihrem Sohn gegeben hätte, hätte sie einen gehabt. Matthias. Geschenk
Gottes. Daraufhin machte er, mit dem letzten Bissen des fettigen
Cremetortenstücks im Mund, den etwas gepressten Scherz: Eins passt
noch rein, Mama.
Entschuldigung, hatte er gesagt und nachdrücklich über sich selbst
den Kopf geschüttelt, da seien die Pferde mit ihm, das mache man
nicht. Aber – und das war ihm herrlich spontan in den Sinn gekommen,
ohne nachzudenken, mit einem ruhigen, ein klein wenig hoffnungslosen Blick auf seine Knie: Seine Mutter sei erst vor kurzer
Zeit verstorben. Er sei da noch nicht drüber hinweg. Nicht im geringsten.
Und sie würde ihn irgendwie an sie erinnern, aber –
Entschuldigung, dass er ihr das jetzt erzählt habe, vollkommen fehl
am Platz – entschuldigen Sie.
Sie hatte das Stück Kuchen auf dem Schieber in der Luft gehalten,
eine Hand schützend darunter, ihn angeschaut. Dann ihre Bewegung
beendet, und in der Art, wie sie ihm das Stück Torte auf seinen Teller
setzte, wusste er, dass es funktionierte: Er würde ihr Sohn sein. Ein
liebendes, beschützenswertes Kind, das – wie kein Kind – über den
Tod seiner Mutter je hinweg kommen konnte. Er spürte ihr Mitgefühl,
wie es an ihm hochbrandete, und wusste, dass er sich jetzt nur merken
musste, vor ihr keine Mutter mehr zu haben.
„Ich mach das schon“, sagte er und hob die Puppe vom Gästebett,
deren Gesicht sie nach einem Kinderfoto von sich selbst gestaltet
hatte. Auch die Häkelkissen – zur Seite, die Patchwork-Decke, weg.
Annemarie setzte sich auf die Bettkante, als plane sie, von nun an
jeden seiner Atemzüge nicht nur zu überwachen, nein, zu veranlassen.
Er musste die Luft durch den Mund einsaugen, um den uralten
Schweiß, der in der Daunendecke konserviert war, nicht zu riechen.
Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn, eine nachdenkliche, genussvolle
Geste.
„Ich komm gleich wieder runter“, sagte er – leidend genug, aber
nicht zu matt.
„Kein Grund zur Eile.“
Sie griff nach der Fernsteuerung auf dem Nachttisch und beobachtete
das Herunterrattern des Rollladens. Im abnehmenden Licht,
das noch in seine Zelle fiel, begannen die Bedienknöpfe an der Fernsteuerung
zu leuchten. Er wünschte, genau so ein mobiles Teil zu besitzen, mit dem er auf Knopfdruck eine verlässliche, bedingungslose
Reaktion bei ihr hervorrufen konnte: Klick, ich vertraue dir, klick, ich
übertrage dir alles, und zwar hier, klick, per Generalvollmacht.
Sie starrte plötzlich die Fernsteuerung in ihrer Hand an, als habe
sie seine Gedanken, zusammen mit diesem Gerät, auf rätselhafte
Weise wahrgenommen. Das Ding projizierte sein Innerstes direkt in
ihr Gehirn. Hatte er sich mit irgend etwas verraten? Wie im Krankenhaus
ihre MRT-Bilder am Leuchtkasten gehangen hatten, ihr Skelett
von hinten erleuchtet worden war, und der Arzt hatte jedes Detail,
jeden Schatten gesehen, analysiert und beim Namen genannt.
Sie legte das Plastikding zurück auf den Nachttisch und erhob sich.
Im Vorbeigehen hielt sie sich ungelenk am Fußende des Bettes fest,
wollte einen Schwindel verbergen. Was war, wenn der Arzt mit seinen
sechs Monaten sogar noch zu optimistisch gewesen war, und sie schon
in den nächsten Tagen starb? Womöglich in den nächsten Stunden?
Er setzte sich im Bett auf, harrte aus, bis er wusste, dass sie seine
Stimme erwartete, dann rief er nach ihr. Sie kam zu ihm ins Zimmer,
einen Becher Tee auf dem Tablett und einen dieser vergilbten Bestellblöcke, die sie als Notizzettel benutzte, die oberste Seite rollte sich ein, so eng war sie beschrieben. „Das meiste hab ich im Garten“, sagte sie und ging ihre Teekräuterliste durch, „aber ich glaub, ja, ich lass den Knoblauch weg, auf den reagierst du immer.“ Sie lächelte in der
ihr eigenen Gewissheit, in ihrem mütterlichen Glauben, dass sie es
war, die hier bestimmte.
Er beherrschte sich, eine Hand ganz leicht auf ihren Oberschenkel
sinken zu lassen. Sie schaute auf ihre Notizen und rückte etwas von
ihm ab, aber er spürte seine trainierte Kräftigkeit an ihrem Luftgewicht.
Er ließ seine andere Hand sehr langsam von oben nach unten
über ihren Rücken gleiten, sie gab ein gedämpftes Seufzen von sich,
das kein Nein war, aber auch kein Ja. Sie hatte ihren Veilchenduft
aufgelegt, in der Zwischenzeit, sicherlich im Gefühl des Triumphes,
ihn in ihrem Gästezimmer hinter Schloss und Riegel gebracht zu
haben.
Er taste ihren gesamten Pulloverrücken ab, fühlte ihre Rippen darunter
und einen großformatigen BH mit mindestens einem halben
Dutzend Sicherheitshäkchen. Am Saum des Pullovers etwas Glattes,
das sie darunter trug, er würde es nicht hinkriegen, wenn er zuviel
Haut berühren musste.
Sie erhob keinen Einspruch, im Gegenteil, sie schien seine Zärtlichkeiten zu genießen, sie aufzusaugen, so, wie sie sich im Sitzen
streckte, in einer allmählich erwartungsvollen Spannung.
Und wenn er sich nun den Krebs bei ihr holte, wenn sich da irgend
etwas auf ihn übertrug? Durch den Kuss, die Spucke, die Körperflüssigkeiten.
Etwas, das ihn dann auffraß, das, was auch sie auffraß, von
innen heraus.
„Ich hab Angst, uns bleibt nicht viel Zeit“, flüsterte er, um sich abzulenken.
Hinter ihr, aus dem Vitrinenschrank, glotzte ihn wieder die
eine Puppe an, der Lederhosen-Junge, sicherlich auch einem mal
lebendigen Kind nachgestaltet. Jetzt Teil des Engelwirts, Teil von
Annemaries Welt – und auch die Elbe, die hinterm Panorama-Fenster
floss, war nur eine Simulation. Eigentlich war er in einem Kuhkaff in
Oberbayern, und sie hatte schon längst angefangen, aus ihm das zu
machen, was sie aus all ihren anderen Wunschkindern gemacht hatte –
du berührst mich und ich injiziere dir mein Gift und sauge dir dein
letztes gesundes Blut aus den Adern, bis du weiß bist wie Porzellan,
und dann stelle ich dich hinter Glas oder setze dich an die Häkelkissen
und nehme dich ab und zu in die Hand, wenn mir danach ist, damit ich
weiß, wie lebendig ich bin, wie unvorstellbar lebendig ich bin.
Er schaffte es nicht, seine Hände weiter über ihren Rücken gleiten
zu lassen, er horchte auf ihren Atem, ob sie sich bewegte oder nicht,
ob sie ruhig war oder nur so tat.
„Aber dir geht es wieder gut. Wie auferstanden“, sagte sie und
übte ihr tapferes Lächeln. „Dann wärm’ ich jetzt mal die Zunge auf.“
Er hielt sie fest, schloss die Augen und schichtete mit aller ihm zur
Verfügung stehenden Konzentration die Bilder um. Eine Frau, die wie
hingegossen in seinem Bett lag, feste Brustwarzen, ein flacher Bauch,
alles glatt und wie sie ihn küsste, offen und empfänglich, und er
formte seine Lippen so, dass ihm das auch gelang, nur ein Kuss, ein
einziger.
Wie ein perfektes Programm, ein gut getesteter Source-Code, den
er abarbeiten konnte, getLoginStatus, setPageObjectAsObject. Er
strich über Annemaries Kopf, drückte ihren Körper an seinen, da
rückte sie ab, er öffnete die Augen und sie starrte ihn an, wie eine der
Puppen.
Drei Millionen, sagte er zu sich, zog sie wieder heran, legte seine
Lippen auf ihre und spürte die Stacheln ihres Damenbartes, schmeckte
ihre alte Zunge, er holte Luft durch den Mund, aber ihr Gesicht wirkte
zu panisch und erstaunt, als dass er sich eine Pause gönnen konnte.
Und wenn er nun aus irgendwelchen Gründen die Kraft besaß, und
durch all das, was er tat, ihren Krebs heilte? Wenn sich alles in eine
Art self-fulfilling prophecy verkehrte? Er berührte sie, er war ganz bei
ihr, er drang in ihr Innerstes vor und befreite sie von ihren Zweifeln,
ihren Ängsten, vom Übel der Welt – und er hatte sie quicklebendig
noch zwanzig Jahre am Hals?
Er suchte nach dem Bild der jungen Frau in seinem Kopf, und er
blähte es auf, dass es groß, überdimensional wurde, alles einnahm.
Aber Annemarie presste ihre Arme an ihren Körper, dass er nicht
unter ihrer Achsel hindurch nach vorne zu ihren Brüsten gelangen
konnte. Und sie vergrub ihre Stirn an seinem Hals. Aus ihren Haaren
kam Seifenduft, das half, tief einzuatmen, Luft zu holen, um so voller
Leben zu sein, dass er das hier schaffen konnte, um es aus sich herauszusaugen, mit aller Kraft. Er war bereit für die Infusion. Er würde
nicht dabei draufgehen. Er würde das ewige Lächeln haben, wie die
Puppen, nur war er dann ein freier, vermögender Mann. Nur noch das
machen, wozu er Lust hatte, nie mehr an Türen klingeln müssen, nie
mehr: Guten Tag, Herr Thies, aber Sie wollen mir nichts andrehen,
was ich nicht haben will? Nur noch: Matthias, wie schön, dass du da
bist, und ausruhen, surfen, viel Zeit und die Liebe einer jungen Frau.
Gut möglich, dass sie auch noch ein paar Sparbücher vergessen
hatte, auf denen auch noch mal Hunderttausend lagen, all diese Erbschaften, die sie gemacht hatte, wie sollte sie da noch den Überblick
haben. Und beim Hausverkauf konnte er auch gut auf vier kommen,
wenn der Notar kurz nach draußen ging und ein großer Teil der Summe
so über den Tisch wanderte, vier Millionen Euro, wenn alles
Gerümpel erst einmal rausgeräumt war, die Wände weggerissen und
sich der Kunde vorstellen konnte, was für ein loftartiges, großzügiges
Penthouse aus diesem 60er-Jahre Flachbau herauszuholen war.
Er nahm Annemaries Kopf in beide Hände, legte seine Stirn an ihre,
und stellte sich vor: Abschied, für immer, und zwar schon in
wenigen Tagen. Letzte Chance für ein leidenschaftliches Goodbye.
Sie ließ sich darauf ein, das konnte er spüren, noch ängstlich, aber
voller Hoffnung, ja, auch Seligkeit. Sie war selig. Er besiegelte es,
damit sie es bis zum Schluss erinnerte: Matthias, ihr Geschenk Gottes,
nur er machte sie glücklich, nur er hatte alles verdient.
Er hielt sie so, dass sie sich ihm nicht mehr entziehen konnte, und
spürte plötzlich, wie wenig Kraft er noch hatte, er war erschöpft wie
nach einem Marathonlauf. Er schob ihren Rock hoch, fasste ihren
Hintern, wurde ihre Strumpfhose los, atmete so leise, wie es ging, um
ihren beschleunigten Atem zu hören, sie drehte sich nicht mehr aus
seinen Händen, sie war ganz da und er drang vor bis ins Innere und
merzte die letzten Zweifel aus.
Annemarie riss sich zusammen, glättete ihren Rock, hörte das Rauschen der Toilettenspülung aus dem Gästebad neben dem Zimmer. Sie zog ihren Pullover zurecht, rückte das Tuch um ihren Hals nach hinten. Schon begannen die Minuten zuvor zu verschwinden. Er war ihr
Junge, er liebte sie. Er war da. Niemand sonst war da.
Auf der Treppe nach unten war ihr noch schwindelig, aber als sie
das Ausmaß ihrer unterbrochenen Vorbereitungen in der Küche für
das morgige Essen sah, konnte sie sich sammeln. Halb kochen ging so
wenig wie halb schwanger sein, hatte ihre Mutter gesagt, und im
Grunde wartet immer irgendein Feuerwehrverein. Das Essen diktiert
dir, was zuerst und zuletzt getan werden muss und überhaupt, wann es
Zeit ist, die Küche zu verlassen.
Sie probierte eine Scheibe Zunge und entschied, zusätzlich noch
eine Kapern-Sauce zu machen, damit Matthias doch noch davon
probierte. Während sie der Butter auf dem Pfannenboden zusah, wie
sie schmolz, das Mehl dazugab und beim Anrösten rührte, schaffte sie
es, so ruhig zu werden, wie sie sich kannte, wie alles gut funktionierte.
Die Petersilie möglichst klein und die Milch aus dem Kühlschrank
holen. Sie öffnete den Topf, in dem die Salzkartoffeln waren, schnitt
eine Kartoffel durch, probierte, goss die Stücke auf mit Milch, salzte
nach und hielt konzentriert den Pürierstab hinein, bis alles, was fest
war oder aufragte, in gleichmäßiger Sämigkeit verschwand.
Sie klaubte mit dem Zeigefinger ein Hütchen Püree aus dem Topf
und spürte, als sie ihren Finger ableckte, dass Matthias in der Küchentür stand. Er beobachtete sie und in seinem Blick wurde ihr jeder
ihrer Handgriffe bewusst. Es war, als könnte sie ihn steuern, durch
das, was sie tat. In dieser verwirrenden, neuen Geistesgegenwärtigkeit
holte sie einen der warm gehaltenen Teller aus dem Herd, stellte ihn
auf die Arbeitsfläche. Sie konzentrierte sich darauf, den Fluss ihrer
Bewegungen nicht abreißen zu lassen. Auf diese Weise würde sie ihn
dazu bringen, gleich zu ihr zu kommen, in ihre Nähe. Er würde sich
entschuldigen – wie damals, bei ihrem Kennenlernen – und das kleine
Missgeschick erklären, den Überschwang seiner Gefühle. Sie würde
ihm sagen, dass nichts passiert sei, wofür er sich entschuldigen müsse,
sie verzeihe ihm alles, er habe einfach zu früh seine Mutter verloren.
Deshalb sei er manchmal so liebenswert ungeschickt mit ihr. Aber,
würde sie sagen, das sei sie ja irgendwie auch, weil sie nie ein Kind
gehabt habe. Aber jetzt (ja, das würde sie sich trauen, zu sagen), jetzt
genieße sie es noch einmal, eine Mutter zu sein, für ihn zu kochen, ihn
zu ernähren, das erfülle sie. Damit sie so, als Mutter und Sohn, am
Tisch sitzen könnten, und keiner zählte mehr die Tage oder Wochen,
weil das alles keine Rolle mehr spiele, weil sich ihre Zeit irgendwie
verdoppele, durch ihn. Und weil es nichts Tröstenderes gibt, als zu
wissen, dass man in seinem Kind ja noch lange weiterlebt, dass man
auf der ganzen, langen Strecke des anderen Lebens ja noch mit am
Leben ist.