Gertraud Klemm, PFAFFSTÄTTEN (A)

Geboren 1971 in Wien, aufgewachsen in Baden bei Wien, lebt in Pfaffstätten, Niederösterreich. Biologiestudium an der Universität Wien. Sie liest auf Einladung von Hubert Winkels.

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Ujjayi
Gertraud Klemm

Romanauszug

Das rote Billet in halber Herzform ist sichtlich von Kinderhand ausgeschnitten worden, Franziska klappt es auf, auch die Zeichnung lässt keine Zweifel offen, in der Mitte des Herzens eine Art Qualle, das soll wohl sie sein, sie wird das Billett auf die Küchenablage stellen, wo es sich einen feinen Fettfilm zulegen darf, bevor sie es im Sommer in die Aufbewahrungsbox legen wird, auf die ersten Handabdrücke in Fingerfarbe, die kleinen Wollküken und die invaliden Kastanientiere, sie heben alles auf, was Manuel im Kindergarten produziert, die sogenannten Zeichnungen, auch wenn da gar nichts ist außer eine zornige Linienführung, am Monatsende erfolgt die Übergabe an die Mutter, kein großer Künstler, sagte die Pädagogin unlängst lapidar, wie fast alle Buben, sie sieht Manuel, die Faust trotzig um den Stift geschlossen, wie er auf das Papier einsticht und dabei ist, es aufzuschlitzen, käme nicht die geübte Pädagoginnenhand ins Bild und sorgte dafür, dass es auch wirklich eine Zeichnung wird, jetzt muss sie aber erst einmal sitzen bleiben, das mit dem Frühstück hat schon ganz gut geklappt, Tom hat sich bemüht, er tut es noch, er trägt das schmutzige Geschirr einzeln zum Küchenblock, wie viel Zeit er mit seiner Umständlichkeit vergeudet, und er trägt die Teller schief, eine mehrspurige Bröselbahn hinter sich herziehend, Franziska ist angehalten worden, heute sitzen zu bleiben und endlich einmal Zeitung zu lesen, sie kann ihnen natürlich auch beim Arbeiten zusehen, also erfreut sie sich entschlossen an ihrer Familie, sie hört die Stimme ihrer Mutter, Franziska hat einen sportlichen Tiroler geheiratet, der sich als liebevoller Ehemann herausgestellt hat und, was noch wichtiger ist, als leidenschaftlicher Vater, und sie versucht gnädig zu sein mit ihrer Mutter, wann, wenn nicht heute.
Er übernimmt die Aufgaben, die sie versucht, auf ihn zu übertragen, Stück für Stück, nie sieht er das große Ganze, leider, aber geht es nicht ums Einander-Verzeihen, ums Hinwegsehen über die kleinen Hügel der Inkompatibilität, hinter ihnen eine abendstimmige Vergangenheit, vor ihnen eine sanft morgengerötete Zukunft, doch, das können sie ganz gut, aber reicht es, um sie von der Notwendigkeit eines zweiten Kindes, jetzt, zu überzeugen, keine Babysehnsucht, leider, ist ein Kind nicht genug, denkt sie, nein, da legt sich der Tiroler in Tom quer, mindestens zwei zur Arterhaltung, ab drei wird es erst eine richtige Familie, Bergbauernkind, Tom steckt die Teller in den Geschirrspüler, ohne sie vorher abzuspülen, während Manuel mit dem Bobby Car um den Küchenblock rast, und die Teller stecken nicht parallel, das sieht man doch schon von hier, aus der Perspektive der abkommandiert faul bei Tisch Sitzenden, natürlich keine Katastrophe, sondern einfach ein Ärgernis, ein kleines Versagen, ein weiteres Argument gegen ein zweites Kind, jetzt, Manuels Lärm an- und abschwellend, eine Kreissäge, sie filetiert ihre Gedanken, von hier sieht sie auch die glänzenden Flächen des Küchenblocks, Tapp- und Schmierspuren formen einen milchigen Gürtel, der das Lackfurnier umspannt, die Vormittagssonne sieht alles, ihre Bulthaup Küche, dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, das Prestigeobjekt in ihrem Haus, erst Manuels Gehhilfe und dann Aktionsfläche für seine speichelreichen Küsse, immer hat sie Bluthaupt gelesen und sich gedacht, was für ein geschäftsschädigender Name, es würde doch schon reichen, die Notwendigkeit eines zweiten Kindes zumindest anzuzweifeln, und immer nur reden sie über ein zweites Kind, jetzt, das Schlimmste ist zwar schon vorbei, die Zeiten, als Manuel halbzerkaute Nahrungsreste und Speichel mit der ganzen Hand zu einem Brei verrieb, auf dem Holzboden, auf den Glastüren, der Gedanke an eine Neuauflage des Schwarzbuchs Kind, plus Verdoppelung von allem, was immer an den Frauen hängen bleibt, Wäsche, Windeln, wache Nachtstunden, Okkupation im Bett, am Schoß, der heute immer noch selbstverständliche Griff in Franziskas Ausschnitt, obwohl Manuel schon vor Jahren abgestillt werden wollte, eine kleine Panik bäumt sich auf, und dazu eine Wut auf Tom und seinen anmaßenden Lebensplan, sie veratmet beides, Ujjayi, die siegreiche Atmung durch die Stimmritzen, der Ozean in ihrem Kopf rauscht sanft, Manuel hilft mit, beherzt trägt er seinen Becher hinter Tom her, Tom lächelt, sieh her, heißt dieses Lächeln, das kann er schon, man kann nie früh genug beginnen, oder, und sie lächelt zurück und denkt, ein Tag im Jahr ist nicht genug, und auch jedes Wochenende wäre nicht genug, es ist nie genug, Schatz, und wir werden wieder darüber diskutieren, wie so oft in letzter Zeit, Abende, die mit einer guten Flasche Wein beginnen und auf eine harmonische Zweisamkeit zulaufen, werden auf halber Strecke entgleisen, jede Familie hat so ihr Thema, bei ihnen war es der Altersabstand der Kinder, Toms Blick wird wieder weinerlich werden, weil der Altersabstand sich bedrohlich vergrößert, während sie darüber diskutieren, wächst die Kluft zwischen den Geschwistern, die er immer mit ausgebreiteten Armen nachgestikuliert, ist das nicht ein Justament von ihm, wenn ich nun nicht nur kein zweites Kind, jetzt, will, denkt sie, sondern gar kein zweites mehr, man müsste dankbar sein für seine Fruchtbarkeit, man müsste die Arme ausbreiten und das Leben einfangen, sie sieht sich den brüllenden Manuel in seinem Stubenwagen mustern, wie sie ihn nicht schon wieder anlegen kann und ihn nicht herumtragen will, wie sie nicht auf diesem schrecklichen Gymnastikball wippen will wie eine Schwachsinnige, so steht sie vor dem Stubenwagen und starrt in das dunkelviolette, vibrierende Loch hinein, aus dem sie die Schallwellen kommen sehen kann, wie sich die Luftmoleküle unter dem Gebrüll verschreckt zusammenpressen und in den Raum geschleudert werden, wie das Gebrüll sich in jedes Eck des Hauses verbreiten wird und immer neues Gebrüll nachproduziert wird, ausgehend von der Bauchmuskulatur ihres Kindes, das irgendein Problem hat, aber immer noch Kraft, sie sieht sich das Kind aus dem Stubenwagen nehmen und es weit von sich strecken, die Arme werden ihr schwer von den dreieinhalb Kilo, die sie nicht in Berührung bringen will mit ihrem eigenen Körper, lachhaft, es ist schon lange nicht mehr ihr Körper, es ist jedermanns Luststätte, Labstelle, Raststätte, Brutraum, und mittendrin der glasklare Gedanke, ihn einfach fallen zu lassen, um endlich schlafen zu können, und ein paar Momente später die Reue mit einer Schärfe, als hätte sie es wirklich getan, der Wunsch nach Selbstzüchtigung, als er drei Wochen alt war, sechs Wochen, der kleine rosa Brüllapparat, der Parasit, sein gerillter Gaumen hatte sich an ihrer Brust festgebissen, die zwar schon unempfindlicher war, aber immer noch durch eine opake Nabelschnur Milch abstottern musste, Schreibaby heißt der Fachbegriff lapidar, Tom verstand, dass Schreibabys schreien müssen, Franziska nicht, sie konnte mit den guten Ratschlägen, die in der Schreibabyambulanz am Fließband ausgegeben wurden, nichts anfangen, sie war eine dieser Frauen, die wie Zombies in den Gängen wandelten und ihre defekten Kinder hilfesuchend von Psychologinnen und Kinderärzten inspizieren ließen, einzig die Säuglingsschwester, die in der Aufnahme saß und die Daten einklopfte, hatte ein bisschen Mitgefühl für sie, von ihr war auch der Tipp mit der Stimmritzenatmung, sie legte ihre fleischige Hand auf Franziskas Schulter, vier ein, zwei halten, vier aus, zwei halten, Franziska nickte und atmete und wollte ihren Kopf in den weichen Schoß der Schwester legen, heulen und alles gestehen, was fast passiert wäre, sie wollte, dass die Schwester mit dem zu engen Mäntelchen sie an die Hand nahm und mit ihr den Abgrund begutachtete, den Franziska und nur Franziska gesehen hatte, und dann hätte die Schwester ihre Grübchen lachen können und sagen: Das ist doch ganz normal, und glauben Sie mir: Sie werden Ihrem Kind nichts antun.
Und gerade als Manuel ein bisschen robuster war, als er endlich mit dem Schreien aufhörte, als er ordentlich trinken konnte und ihr dabei in die Augen sah, als die Liebe über das schiere Gewährleisten des Überlebens hinauszugehen schien, spuckte er die Brust aus, drehte den Kopf weg und begann sich rückwärts schiebend die Welt untertan zu machen, immer weg von Mama.

Das Argument mit der schlafenden Dissertation zieht nicht bei Tom, so vieles ginge zu Hause, Abendstunden, die vor dem Fernseher versickern, wollen genutzt werden, in Arbeit oder zumindest Beziehungsarbeit investiert werden, ein zweites Kind, jetzt, denkt sie, und wie der Tag sich wird dehnen müssen, um für ein zweites Kind und ein Studium Platz zu schaffen, mit Dehnung wäre es nicht getan, Einschnitte wären es, zwischen den Wundrändern könnte man dem Tag kleine Zeitportionen abtrotzen, ein klaffendes Leben, das nur die Jahre heilen könnten, Zigtausende von überquellenden Windeln passen hinein und Fehlversuche, rudernde Arme in Ärmel zu stecken und Schuhe über bockige Fersen zu ziehen, Franziska kann nicht anders, Essen und Ausscheiden, Wischen und Waschen, Nachtwache und Unschlaf, sie sieht Tom dabei zu, wie er jetzt zum Beispiel Manuels Hinterkopf hält, während er endlich die Reste von Ei und Marmelade aus den Mundwinkeln wischt, für alles kann man ein Feuchttuch verwenden, findet Tom, für das Marmeladegesicht und fäkalienverklebte Hoden, für die Reinigung der Klobrille und wenn das Kind ins Auto gekotzt hat, null Reinigungskompetenz, man kann ihm keinen Vorwurf machen, ihm nicht und den meisten Männern nicht, sie sehen die Angelegenheit mit den Wohnungen und Küchen und Kindern nur aus einer Zuschauerperspektive, sie schaffen den Sprung auf die Bühne nicht, sie applaudieren gerne und sie zahlen den Eintritt, aber wenn die Bühne leer bleibt, sehen sie sich um und werden nervös, bis eine Mutter oder Schwiegermutter den Mama-Part übernimmt, man muss als Mutter schon sterben oder langfristig verschwinden, damit so ein Mann wahrhaftig an die Stelle einer Mutter tritt, mit hängenden Schultern und viel Empathie aus dem Publikum.
Nein, die Hilfe, die Franziska bräuchte, wird nicht kontinuierlich dosiert werden, sondern da werden Schwälle und Dürreperioden einander abwechseln, wie bei Manuel, aber sollte sie nicht dankbarer sein, in anderen Beziehungen ist es umgekehrt, da müssen die Männer von der Notwendigkeit einer Mehrkindfamilie überzeugt werden, da kommt mit der ersten Selbstständigkeit der Kinder das Kind im Manne zurück, da geht es direkt von der Vaterrolle in die erste midlife crisis, Motorrad, Heliskiing, Triathlon, was auch immer, sollte sie nicht in diesen sauren Apfel beißen, der gar nicht so sauer ist, immerhin hat sie sich diesen Mann ausgesucht, aber wenn Tom nachts die Arme nach ihr ausstreckt, spürt sie, dass ihre Vagina sich zusammenzieht wie ein beleidigter Mollusk, es hat etwas mit der Wut auf Tom zu tun, aber natürlich auch damit, dass die Möglichkeiten für Liebe sich auf organisatorische Inseln zurückziehen, es darf nicht zu früh sein, weil Manuel in der ersten Schlafphase hellhörig ist, und nicht zu spät, weil der Schlaf sonst übermächtig wird, und auch Franziskas Magenschmerzen haben mitzureden, und meist kommt ihr der Sex vor, als kratze sie einen Juckreiz, Toms Juckreiz, Tom sitzt jetzt auf dem Fußboden, wo er ein Puzzle ausbreitet, und Manuel läuft zu allererst einmal wie ein Verrückter durch das Puzzle durch, in Wellen bricht das Testosteron über diese kleinen Körper herein, jagen, werfen, zerstören, töten, all das will gelernt werden unter der Fuchtel der Hormone, ein Puzzleteil verschwindet unter der Couch, Tom lächelt verständnisvoll, sie muss sich zusammenreißen, dass sie jetzt nicht aufspringt, erst das Puzzleteil retten und sich dann zum Trainieren zurückziehen, ein bisschen Yoga, und auch die Wäsche ginge sich noch aus, sogar ein wenig Gartenarbeit, all das ließe sich noch in den Vormittag hinein schlichten, aber noch ist Muttertag, und heute wird nicht gearbeitet, dass sie nicht einmal heute tun darf, was sie will, weil sich die Mutterschaft mit ihrem behäbigen Arsch auf Franziskas Zeitmanagement niedergelassen hat.
Etwas später wird sie im Keller auf dem Rücken liegen, dankbar, weil Tom Gedanken lesen kann und sie auf ihre Yogamatte geschickt hat, und da ist sie wieder auf der „Humboldt“ im arktischen Meer, wo sie ihre Planktonnetze auswarfen und nach den Zahlen fischten, sie sieht sich und ihre Kolleginnen als kleine Playmobilfiguren mit Käppchen, unter denen lange Haare Platz haben, in Labormänteln wuseln sie an Deck herum und breiten ein Stückchen Taschentuch über sich, wenn sie schlafen gehen, dann wird sie mit dem Wegschicken der Gedankenherde beginnen, indem sie die Gedanken aus der Wolkenform in eine Konzentration treibt, als könne sie sie diszipliniert in einer Reihe aufstellen und dann ausblenden, die Humboldt, Manuel, Tom, und an der Kippe zum Schlaf ist da ein kurzer, gedankenfreier Moment, ein Spalt, durch den sie eine Ahnung von Stille erhaschen kann.

Bevor sie aufbrechen zu ihrem jungen Ritual, den Muttertag beim Chinesen zu absolvieren, muss Tom noch schnell seine Mutter anrufen und ihr im krachendsten Tirolerisch, das er ausgraben kann, beichten, dass sich seit dem letzten Anruf nichts geändert hat, weder beruflich noch familiär, leider, Franziska sieht ihre Schwiegermutter vor sich, ihr Papageiengebiss am Hörer, Zähne von einer störrischen Gesundheit, nie um ihr Mitgefühl verlegen, das immer auf eine katholische Ungeheuerlichkeit auflaufen konnte, Tom geht auf und ab, während er nickt und Zuhörgeräusche macht, schnell noch umziehen, etwas, das auch Mutter gefällt, endlich beendet Tom das Telefonat, und als sie in das dunstige Lokal eintreten, sieht sie gleich in den Gesichtern der anderen Frauen, dass sie alle auf gleiche Weise über diesen Tag gebeugt werden, ein mildes Lächeln eint sie über pikant säuerlicher Suppe und glutamatgewürzten Soßen, Franziskas Magen übt einen kleinen Krampf, Manuel besteht darauf, nicht im Kindersessel zu sitzen, aber eine kompakte Kellnerin zaubert eine Sitzerhöhung hinter einem Paravent hervor, er grinst über beide Ohren, da kommen auch schon die Eltern, sie pflügen sich durch den Fettgeruch, der vom Tepanyakigrill ausgehend den Raum beschwadet, Mutter trägt grüne thailändische Seide, in der sie feist glitzert wie ein Rosenkäfer, Vater nobel in karamellfarbenem Cord, der teuer aussieht, Franziska sieht, wie Mutter ihr T-Shirt mustert, wenn die wüsste, dass sie es selbst nicht mag, seit der Schwangerschaft ein Problem mit Baumwolle, das Gefühl des Bewohntwerdens ist geblieben, vor allem die Haut, die so unmanierlich gedehnt wurde, empfindet die meisten Stoffe, ach was, sich selbst als Beleidigung, warum kann man diese traumatischen körperlichen Veränderungen wie Schwangerschaft nicht längst auslagern, Manuel strampelt vergnügt und hält den Großeltern sein kleines Händchen entgegen, und kaum sitzt Vater, beginnt augenblicklich Toms Geplapper, er plappert sich in die Mami-Seele hinein und danach in die Papi-Seele, die sich ihm gleich entgegenstülpt mit all der schweren Kost des Pensionistendaseins: Unklarheiten bei den Marathon-Trainingsplänen, ein platter Autoreifen, und da geht es auch schon zum Buffet, Manuel schaufelt den gebratenen Reis in sein Gesicht, und was nicht im Mund landet, kann danach mit Besen und Schäufelchen beseitigt werden, solange er nicht auf die Soßengerichte umsteigt, wird sich am Lächeln des Personals nichts ändern, diese Chinesen aus dem Chinarestaurantland, immer lächeln sie, immer rasen sie die Küche ein und aus, sie sind die eigentlichen Herrscher über das österreichische Gastgewerbe, der einheimische Wirt kann ihnen nicht das Wasser reichen, und um so wenig Geld bekommt man sonst nirgends so freundliche Bedienung und so viel Auswahl, hört man vom Nebentisch, Tom referiert über irgendetwas Steuerliches, während sich auf den Nebentischen für 12,90 Euro unter seinesgleichen vollgefressen wird, aber die Ellbogen liegen schön am Körper, Mutter fragt nach Neuigkeiten, Franziska zuckt mit den Schultern, bis die Frage herunterfällt, Franziska greift mit ihren Stäbchen nach dem glitschigen Tofu, Tom und Mutter loben Manuels Appetit, Franziska denkt an erbrochenen Reis und wie schwer der wegzuputzen ist, an Manuels Neigung zum Überfressen, diese Maßlosigkeit muss er von der Großelterngeneration vererbt bekommen haben, Mutters Schlemmen, der viele Käse und diese Vorliebe für fette Croissants, gar nicht zu reden von den Gourmetreisen der Eltern, widerlich fand sie die, wie sie sich durch das Salzburgerland fraßen und stromabwärts durch die Wachau, durch die Hügel der Südsteiermark, die Haubenrestaurants immer Hauptattraktion, Kunst und Kultur als Beilage in den Stunden, in denen auch einmal verdaut werden musste, sie versucht Manuel für ihre übriggelassenen Erbsen zu begeistern, eingezwickt zwischen Stäbchen und ein affiges Gesicht dazu, da erscheint Ralph in der Eingangstüre und in Franziskas Brust springt eine Naht auf, bevor sie sich abwenden kann, um eben nicht zu grüßen, bricht Schweiß unter ihrem T-Shirt aus und eine Sehnsucht, ihn mit dem Blick zum Platz zu begleiten, er sieht Franziska gar nicht, liebevoll schiebt er eine rothaarige Lockenpracht mit geschwungener Taillenkurve vor sich her, die nur leicht von einer beginnenden Schwangerschaft begradigt wird, und bevor Franziska sich beschwichtigen kann, dass auch er ergraut ist und viel von seiner Kantigkeit verloren hat, ist er schon in den Nebenraum abgebogen und gibt den Weg frei für die ungebremste Qual der schönen Erinnerungen, wie lange ist das her, dass sie sich das letzte Mal gesehen haben, sechs Jahre, fast verklärt inspiziert sie diese Sehnsucht, die gleich wieder präsent ist, da hilft kein Glücklichsein und kein Neubegonnenhaben, der Geruch nach Ralph und das Glück und Unglück mit Ralph sitzen tief im Gewebe von Franziskas Erinnerung an sich selbst, eine Franziska im Larvenstadium, eine unverpuppte Franziska, die sich weichhäutig ausgeliefert hat, es ist keine schlechte Erinnerung, durchwachsen von einer feinen Melancholie, dieser Gedanke wird anhalten, während Manuel unvermutet in die Reisschüssel greift und eine Handvoll Eierreis übermütig auf Vater wirft, und in Franziska bricht ein Damm, ein Wutschwall lässt sie aufspringen und fast schlägt sie Manuel, eine Ohrfeige platzt aus dem Schultergelenk, nimmt kraftvoll Anlauf, ändert knapp vor Manuels Gesicht den Kurs und stirbt in einem jähen Bremsmanöver auf Hüfthöhe ab, Manuel weicht ein bisschen zurück, aber eher im Affekt als aus Angst, denn sie kann die Rage gerade noch dämpfen, die Eltern haben nichts gemerkt und Tom hat sie gar nicht ins Gesicht gesehen, der Reis auf Vaters Anzug steht im Mittelpunkt, Gott sei Dank Burberry, also eine Tragödie, und bevor die chinesische Kellnerin schon mit Besen und Mistschaufel Habt-Acht steht, wird Franziska aufs Klo laufen und sich in den dreißig Sekunden, in denen sie ihren Urinstrahl mit Nachdruck in die Muschel prasseln lässt, erlauben, Ralph heftig zu vermissen, vorbei an der Vernunft und an der Überzeugung, dass es gut war, ihn zu verlassen, die zwei Jahre mit ihm, die Leidenschaft und das Betrogenwerden, das Wiederversöhnen, die ganze Gaukelei der echten Gefühle, neben denen kein normales Leben mehr möglich war, sie wird Wasser über die Handgelenke laufen lassen und dem stimmlichen Atem folgen, sich zurückatmen in ihr glückliches Leben.
Und später wird sie mit Ralph am Buffet Schulter an Schulter stehen und ihm ein paar gebackene Bananen auf den Teller reichen, es wird sich richtig anfühlen, dass er geheiratet hat und sein Glück mit dieser Opernsängerin versucht, und während sie lächelt und fragt, was man so fragt, konzentriert sie sich auf die Stelle, wo seine Augenbrauen zusammenwachsen, und sie denkt, Kinder kommen einfach, sie stehen einfach heraus aus dem verworrenen Knoten des Lebens, man muss nur anziehen, sogar Ralphs Kinder finden ihren Weg auf die Welt, durch die Vagina einer Opernsängerin, sie geht mit ihren Bananen zurück zum Tisch und teilt sie gedankenverloren in kleine Stückchen für Manuel, Vaters Sakko wurde mit Seifenlauge gerettet, Ralph hatte vorerst nur Erektionsstörungen, die sich zu Verlangensstörungen auswuchsen und schließlich als Bindungsstörungen diagnostiziert wurden, gegen die die Gespräche mit der Sexualtherapeutin, die Wahrnehmungsübungen mit sogenannten Vorspiel-Federn und verbundenen Augen sich lächerlich ausnahmen, du wirst dir den Mund verbrennen, mahnt sie, aber Manuel kann nicht warten, er sticht mit der Gabel nach den heißen, schleimigen Stückchen und verbrennt sich natürlich den Mund, Franziska erinnert sich an einen Abschied, nackt und weinend im Bett, sie wusste, wie das Leben ausgehen würde, wenn sie an dieser Stelle die Weichen auf Ralph stellen würde, und das war eine Arbeit, sich Ralph Faser für Faser aus dem Herzen zu lösen, wie ein Pflaster von einer behaarten Körperstelle, aber all das ist nun wirklich weit genug weg, denkt sie, die Kinder, die wir bekommen, schieben sich wie Wale zwischen das Leben vor und nach ihrem Auftreten, so wie sie sich zwischen Mutter und Vater quetschen, das Bett einnehmen, Zeit, Kraft und Lust verschlingen und ihren Eltern im Schlaf auch noch ins Gesicht treten, an all das denkt sie mit einer Abgeklärtheit, die sie früher nicht für möglich gehalten hätte, du hast jetzt genug gegessen, sagt sie zu Manuel, der aufstehen will, noch Nananen, sagt er, obwohl er längst Banane sagen kann, sogar die Kinder sind schon nostalgisch in ihre kleine blöde Vergangenheit verliebt, dein Bauch ist schon voll, sagt sie, und in diesem Moment nimmt sie sich vor, sich bei der nächsten Gelegenheit von Tom befruchten zu lassen, hinter der Bestimmung des Lebens herzutrotten, Ausweg gibt es langfristig keinen, sie hat schon am Knoten angezogen, er ist enger geworden, irreversibel, vielleicht würde es eh nicht mehr klappen, vielleicht kann sich der Körper gegen eine Schwangerschaft sträuben und die Spermien abtöten, oder sie mit Flimmerhärchen zurück zum Ausgang dirigieren, sie weiß nicht, ob sie aus einer Art Dankbarkeit entscheidet oder aus feinem Trotz, auf jeden Fall kann sie sich in diesen Minuten tatsächlich ein zweites Kind, jetzt, vorstellen, es sollte nur schnell gehen, auch wenn Manuel erst zu einem Gezeter und dann zu einem Geheul ansetzt, Nananen!, im Auto gesellt sich noch ein Trampeln und Treten gegen den Beifahrersitz dazu, gegen ihren Rücken, sie beginnt zu atmen, so leise, dass nur sie es hören kann, es könnte eine Massage sein, sie muss sich einfach nur vorstellen, dass sie eine fremdartige, asiatische Klopfmassage bekommt, sie atmet gegen die Wut, um die Wut herum, vier ein, zwei halten, vier aus, zwei halten, das Meer schäumt und seine Oberfläche zittert, sie muss sich umdrehen und Manuel anbrüllen, sie muss mit dem Arm nach hinten schlagen, dabei schlägt sie sich die Hand an irgendetwas an, es ist nicht Manuel, Manuel schluchzt, sie fahren durch die Stadt nach Hause, Tom mit einem Knurren in den Mundwinkeln am Steuer, die Stadt in komatöser Sonntagsruhe, die Spaziergänge und das Mittagsessen haben all die muttertägliche Energie aufgesogen, und im Fernsehen wird bestimmt wieder Formel Eins übertragen, entweder Schifahren oder Fußball oder Formel Eins, ohne das geht es an keinem Sonntagnachmittag, und am Abend ist sie dann fast vor den Kopf gestoßen, dass Tom sich ihr ausgerechnet heute sexuell nähert, erstens ist Sonntag eine Art Ruhetag, zweitens ist Muttertag, und Eisprung wäre erst Mitte nächster Woche, es kündigt sich bereits beim Abendessen-Zubereiten an, während ihre Hände mit Schinken, Käse und Toastbrot beschäftigt sind, greift Tom nach ihren Flanken, und es ist kein nettes Greifen, sondern ein forderndes, eine Rechnung wird gestellt, für die liebevolle Kinderbetreuung, das Frühstückmachen, sie versteift sich von außen nach innen, sogar ihr Beckenboden spannt sich an, nichts ist umsonst, sagt dieser Griff, nicht einmal am Muttertag, und bevor sie beginnen kann, seine Hände, die mit einer fordernden Hüftmassage begonnen haben, abzubeuteln, rauscht das Meer schon wieder in ihrem Kehlkopf, dringt in ihre Ohren und wiegt sie im schwarzen Wasser hin und her, bis sie nur mehr ausatmet und zum ersten Mal die Wellenberge von unten sieht.