Anne-Kathrin Heier, BERLIN (D)

Geboren 1977 in Werne, lebt in Berlin. Studium der Kulturwissenschaften, Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Lektorin im Ammann Verlag und Berlin Verlag. Sie liest auf Einladung von Burkhard Spinnen

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Anne-Kathrin Heier
Ichthys

Der Streit auf offener Straße zwischen Marlboro-Männchen und Lichterkette: Wir. Ein Fisch ist der Protagonist des Films, der in der Querstraße nebenan gedreht wird. Der sichtbare Abschnitt verstellt mit weißen Sprintern. Nachbarn recken neugierig ihre Hälse aus der Wohnung, dabei knarzt das Fenster. Wir dürften das alles nicht wahrnehmen, befinden wir uns doch in etwas, für das die dort drüben Schlüsselszene sagen oder etwas Englisches mit Chewinggum zwischen den Zähnen. Wäre ich ein Außenstehender und würde ich als Außenstehender an uns vorüber laufen, so gäbe ich dem Ganzen keine zehn Minuten mehr: Einer von beiden stirbt oder beide gehen glücklich und für immer dem Horizont entgegen. Ein Dazwischen gibt es nicht. Doch ich bin kein Außenstehender, ich bin ein Fisch. Ein Protagonist. Einer von zweien, die Teil eines chaotischen Kampfes sind, hochgedriftet vom Meeresboden in Sphären, die mit dem einstigen Grund des Sichzusammentuns nicht mehr das Geringste gemeinsam haben. Wir haben Waffen und richten sie aufeinander. Die Uniformierten lassen sich nicht blicken. Hier wird ein Film gedreht und niemand rechnet mit einer Straftat.

*

An einem neuen Tag in einem anderen Teil der Stadt. Ich meide Rücken, die mir erst breit und quadratisch die Sicht nehmen und dann aber doch immer kleiner werden. Die Wand braucht nicht lange, dann ist sie ein Punkt, der hinter einer Biegung schließlich ganz verschwindet. Rausfahren mit einem der Wagen, die am Straßenrand stehen und nicht uns gehören. Zigaretten spielen eine Rolle, so wie all meine Süchte eine Rolle spielen: Ich mag sie, weil sie keine Rücken haben. Weil ich selbst entscheiden kann, wann und ob sie gehen, und meistens entscheide ich mich dagegen. Was das Potenzial hat zu bleiben, das soll bleiben. Ich gehe das Risiko ein, dass keine Antwort kommt, wenn ich Fragen stelle. Die Menschlichkeit wird überschätzt. Solche Sätze lernt man hier.

*

Immer alles sehen. Mehr als nur die Ränder, an denen der Körper aufhört und die Landschaft anfängt. Warum will das keiner? Und was rechtfertigt die Beurteilung der anderen? Und was rechtfertigt die Verurteilung dessen, was sie tun? Sie sagen, ich solle erstens keine Fragen stellen. Sie sagen, ich solle zweitens das Ich nicht verwenden, während ich schreibe. Oder wenn, dann solle ich mich hineinversetzen in das Leben einer erfundenen oder ausgedachten Figur, das möglichst weit vom eigenen Entwurf entfernt ist. Ich aber finde, alle sollten immer ausschließlich das Ich verwenden und damit möglichst sich selbst meinen und auch nicht andauernd diese fremden Sätze hineinrieseln lassen, als könnten es alle Gestorbenen besser als man selbst. Also: Ich.

Habe alles ausprobiert. Schon als Kind die Nahrung verweigert in vollem Bewusstsein darüber, dass ich nicht die einzige bin, die auf derlei Konstanten zurückgreift, wenn es schon keine anderen Konstanten gibt. Der Hunger hat sich abgenutzt, ist inzwischen keine Liebe mehr, sondern ein Freund. Freund und Familie und Erwärmung in einem Haus mit sieben Zimmern und langem Flur auf jedem der drei Stockwerke. Einen Garten gibt es auch. Und Nachbarn, die freundlich die Hand heben, sobald man sich sieht. An Sonntagen ist der Frühstückstisch auf der Veranda gedeckt. Brötchen dampfen im Korb mittendrin. Man sitzt sich gegenüber, erzählt sich, was man zu erzählen die Woche über versäumt hat. Das Knistern der Zeitung. Das Zurechtrücken von weißem Plastik. Gelächter folgt dem Gebell des Hundes, kurz nachdem vor einem der anderen Häuser eine Türglocke betätigt worden ist. Nur gegessen wird hier nicht. Das erspart uns die lästigen Geräusche beim Kauen und Schlucken. Prall gedeckter Tisch bleibt unberührt. Nur eine einzige Stimme spricht und übernimmt der Reihe nach den Part der übrigen, so dass niemals Streit aufkommt. Das einwattierte Sein im Graben, nach außen hinein lebendig und von innen heraus auch.

Viel später kam die Ablösung durch verschiedenste Rauschgifte, die mir durch echte Menschen gereicht wurden, an echt belebten Umschlagplätzen für das ganz große Elend. Das Leben in der Nacht ist ein Leben im Leben. Mit Lichtern der Taxis und baumelnden Existenzen, die in erhitztem Alkohol die gummierten Ganzkörperanzüge des Tages ertränken, bis sie sich auflösen und schließlich in Bläschen verkapselt aufs Gulliloch zugleiten. Wer tagsüber mit den Touristen plaudert, dem rutscht gelegentlich heraus, dass diese Stadt niemals schläft, das passiert meistens in der Mitte, irgendwo am Springbrunnen auf dem Alexanderplatz zwischen modernen Hochhäusern, in denen Nützliches in billigen Plastiktüten von 9 bis 8 über die Theken geht. Ich warte, während mich ihre entkommenden Sätze streifen, auf den Untergang der Sonne. Der macht mir Hoffnung auf die Vereinigung mit denen, die von der Nacht beatmet werden. Oder mit einer meiner Süchte, die ich sammle wie sechszigjährige Frauen ihre Tiere in einem Haus voller Katzenpisse, niemals einsam und ganz ohne Spiegel, aus Angst, sie könnten darin einen Schnurbart über den Lippen entdecken und noch dazu eine Erkenntnis.

Wir. Zwischen Marlboro-Männchen und Lichterkette. Sprachen über das Fühlen und knallten unsere Köpfe gegen die Wand und lachten darüber oder weinten darüber, das suche ich mir je nach Tageszeit und Gemütszustand inzwischen selbst aus, wenn ich in Erinnerungen schwelge, was ich selten tue. Was vergangen ist, ist vergangen, hat ein Telekommunikationsunternehmen über den Wolkenkratzer gespannt, an dem ich täglich vorbei muss. Und was jetzt ist, das bin ich und meine in Röhrchen und Papierfilmchen mobilgemachte Suchtfamilie, deren Fehlen im Tageslicht Schweißfilme verursacht und ein Zittern und ein Zusammenreißen, damit ich funktioniere und im Businesskostüm an einer Kunststofftafel über unser Produkt sprechen kann, voller Liebe, die ich den Damen und Herren der Geschäftsführung unter den Anzugstoff in alle Körperöffnungen hineinhauche und mich daran freue, dass sie von mir und meiner Abgründigkeit und dem Sinn der Angst vor dem Stillstand nichts ahnen oder erst dann etwas ahnen, wenn sie an meinem Grab stehen und beim Herauszupfen der Gänseblüten an ihre verflossene zweitgrößte Liebe denken.

Ich glaube, eine verflossene Liebe bin ich nie gewesen; nicht anfällig für Religionen, zu denen auch die Entscheidung für eine ewig haltbare Zirkusnummer zweier Akrobaten gehört. Sie stellen sich in die Manege und rasten ineinander ein. Dabei verdehnt sich jeder von ihnen unnatürlich. Auf einem Bein stehend, das andere im Spagat in die Luft gereckt, umwickelt von einem fremden Arm; Köpfe schieben sich durch aus Haut gemachte Ovale. Nach kurzer Zeit wendet sich der Zuschauer ab und verlässt das Spektakel, um zu entspannen. Darüber muss man nicht streiten, da kann man sich zurücklehnen und am Frühstückstisch die nächste Zeitungsseite aufschlagen und sich vertiefen in den Wirtschafts- oder den Politikteil. Früher mal mit der Kultur begonnen. Aber weil dort auch von Religionen erzählt wird, überblättere ich sie jetzt oder sortiere sie nach dem Kauf sofort aus und werfe sie in einen der mit liebevollen Sprüchen über dem Orange bedruckten Mülleimer. Sie hängen meist in Überzahl an großen Kreuzungen, festgeschraubt an silbernen Masten, um aufzufangen, was man nicht mehr braucht. Manche sind überlastet. Bei denen ist die Fläche eingedrückt. Wer das nicht sofort merkt, der wundert sich über das viel zu reale Geräusch, das der Müll macht, wenn er nicht den Boden des Eimers berührt, sondern verzögert den Asphalt, auf dem bereits ein Häufchen ausgebreitet ist.

*

Das Kreisen verliert an Fahrt durch das Loch im Magen. Das Loch im Magen, das ich so dringend brauche wie das Feuer den Sauerstoff an den Oberflächen der in Benzin getränkten Grenzkordel entlang. Zweiter warmer Körper, der mich in der Nacht umklammert und atmet. Gleichmäßig. Bis der Morgen kommt. Menschliches verliert sich im Licht. Sie richten ihre Worte nicht gern an mich, die landeten auf der Goldwaage, und wer würde schon dieses Wagnis eingehen in den Augen einer Person, die andauernd vor dem Missbrauch der Sprache warnt, selbst dort, wo man ihr mit dem Bezahlen des Eintrittsgeldes vorübergehend eine Pause erkauft -
Konsequenz gezogen aus gleichen Vorwürfen bei wechselnden Menschen: die Wohnung ist jetzt eine Tanzfläche. Den Schlüssel zweimal um- und die Musik aufgedreht. Sie sagen drittens: Dafür bist du viel zu alt. Bloß Sätze mit kurzer Halbwertszeit. Auch eure.

Der Tag kommt, an dem der Herbst die Straße dunkler streicht. Sie glänzt in der Spiegelung der gelben Blätter, die nach und nach von den Bäumen fallen. Im Fenster gegenüber erscheint die alte Frau, während ich meine Beine über einem gewaltigen Vakuum baumeln lasse. Ihr aufgeschuppter Zeigefinger schwingt hin und her, sie will mich zum Bleiben bekehren. Zwischen der Frau und mir liegen gute fünfzig Meter und ein aufgeschäumtes Blattgemenge, getragen von Stämmen, die irgendwo im Erdboden verschwinden, nicht weit entfernt von der Straße, die alle fünf Minuten von motorisierten gelben Würmern aufgesammelte Menschen nach Nord-Ost oder Süd-West transportiert. Die Würmer versprechen Freiheit, aber wahr ist, dass die Schienen im Stadtgebiet bleiben. Die Stadt selbst ist extra groß gebaut. Teil einer Religion. Entworfen von glaubenstreuen Architekten, die Siedlungen dem menschlichen Organismus nachzubilden versuchen, sodass den Bewohnern bestimmte Orte irgendwie vertraut vorkommen. Wir-Gefühl im Inneren. Autos am Rand, die die Grenzen nur in der Sommerzeit überfahren.

Ich schwinge die Beine zurück ins Haus. Die größte Kreuzung weit und breit erreiche ich in fünf Minuten. An der Ecke schmiegt sich der mehrgeschossige Turm an kleinere Wände aus Beton. Bei greller Beleuchtung sind noch immer die Leute bei Kaffee und Sandwiches mit ihren Tastaturen beschäftigt. Das hintergründige Gedudel ist so eingestellt, dass es bei der Konzentration auf das Filigrane nicht stört. Und ebenso wenig beim Reden. Und ebenso wenig beim Denken. Wahrscheinlich ist die Art, wie du die Bühne betrittst, richtig. Wirkst immerzu, als wärst du soeben vom Himmel gefallen. Das Lachen ist ein öffentliches. Die Schwelle wird niedriger. Ich übertrete sie und stelle mich an der Bar auf.

Die Luft besteht hier aus Helium, das schlucken die Lebendigen und Beweglichen den Schlund hinunter, bis Ecken und Kanten geschliffen sind. Ballons in allen Größen schweben dann weiß der Decke entgegen und wabern über eingepegelten Trickfilmgeräuschen hin und her. So lange, bis sie wie die Schneebeeren platzen und der Illusion in ihre ausgebreiteten Arme fallen. Das Fliegen zum Abheben von der Masse und das gleichzeitige Aufkommen mit der Masse am Boden, auf dem der Hülsenbrei liegt und darauf wartet, von der nächtlichen Putzkolonne beseitigt zu werden. Funktionierende Abläufe erlauben einen Stillstand der Arbeit für die verdiente Unterbrechung zwischen den Kissen, während draußen die Pulver und Flüssigkeiten an den Straßenecken wirklichere Geschichten erzählen. Drei Millionen atmen erleichtert aus. Und trotz aller Konstanz meiner eigenen Süchte ist mir nach dem Verschwinden in eine Landschaft zumute, die bei wachsender Zahl meiner Schritte immer karger und übersichtlicher wird. Der Tag soll anders enden als andere Tage. Das freie Ackerfeld ist vom Menschenmeer getrennt. Dann herrschen nur noch zwei Farben vor, und das sind gelb und blau durch den Sand und das Meer. Und selbst, wenn es das ist, was sie wollen: ein Aufsichzukommenlassen der Hauswände in einem Wust aus virtuellen Gedanken. Ist es den Versuch wert.

Sie sagen, ich solle das Ich nicht verwenden. Oder wenn, dann solle ich mich hineinversetzen in eine fremde Rolle, die möglichst weit vom eigenen Entwurf entfernt ist. Wie ihr wollt.
Ich versetze mich in die Rolle eines Gesetzesbrechers. Immerhin habe ich nicht vor, mein Opfer zu quälen oder gar zu töten. Es ist das Gegenteil, und ich will ein Serientäter sein. Habe es abgesehen auf solche, die hier sitzen und sich sattsehen an fremden Akrobaten, bis sie das, was sie sich bei Eintreten so sehr gewünscht haben, überhaupt nicht mehr wollen und den Raum fürs Erste verlassen und morgen wiederkommen, wenn das Nichts sich von innen nach außen frisst. Ich bin auf der Suche nach den Aufgeschönten, die gesehen werden möchten wie Kunstwerke in Vitrinen. Mit der Aufschrift Nicht berühren! kündigt sich die Möglichkeit der Bestrafung im Falle eines Übertritts an. Die Unnahbarkeit und die Süchte und das PingPong der für den Bruchteil einer Sekunde erlaubten Berührung an den die Hauptverkehrsstraße tangierenden Raucherinseln. Der Kontakt hält an, solange die Zigarette dauert oder solange das Geschäft in den U-Bahnschächten abgewickelt werden will. Danach gibt es nur unterschiedliche Richtungen. Und ich renne hinterher auf der Suche nach Konstanten, die meine synthetischen Freunde vielleicht doch ablösen und in größere Räume führen könnten, mit einer echten Veranda und Wärme im Magen. Wenn das Hoffen nicht wäre, könnte es einfacher sein, mit der Watte zu leben. Aber es ist angeboren, eine Krankheit vielleicht.

Meine Stimme allein ist fest genug. Hebt sich ab von dem Getöse und erstickt sogar das Klackern unter ihren Fingern. Es sind nicht weniger als fünfzig Augenpaare. Ihre erweiterten Pupillen fixieren meinen Mund und ich brauche nicht lange. Während ich spreche, sind sie still. Wahrscheinlich ist die Art, wie du die Bühne betrittst, richtig. Wirkst immerzu, als wärst du soeben vom Himmel gefallen. Das erfrischte Gesicht. Was möglich ist, sobald man aus der Hülle steigt und die Nacktheit zulässt, ohne Angst vor der garantiert eintretenden Kälte durch die Zugluft, die bei zwei andauernd benutzten Türen unumgänglich ist. Worte fließen aus mir nur so heraus und verselbstständigen sich im Gehör der anderen, die das, was ich sage, unterschiedlich deuten.
Ich kenne dein Leben ja nicht.
Das Kennenlernen ist ein virtuell genutzter Begriff, dem heute in der Wirklichkeit etwas Altmodisches anhaftet.

Die Vorhersehbarkeit ist der Menschheit eigen. Wenn das Hoffen nicht wäre, stünde ich nicht hier. Beim Anblick von Waffen sammelt sich die bereitgestellte Angst vorne in ihren Gesichtern und macht sie gefügig. Das Fischmesser war ein Geschenk an den Protagonisten. Manche springen auf und andere können sich nicht rühren, sobald die eigene Unversehrtheit einer unberechenbaren Gefahr ausgesetzt ist. Vielleicht denken sie nicht selten im Stillen an das Ende ihres Lebens. Das Urteil getrost einem Fremden zu überlassen, könnte sie entlarven. In der Öffentlichkeit spielen sie zur Rettung ihrer Ehre den Todeskampf. Ich nehme mir nur einen von ihnen, greife nach seiner Schulter und behalte, wie es die Protagonisten zu tun pflegen, den Rest der Welt im Auge. Jemand steckt mir einen Autoschlüssel zu, alles ist plötzlich ganz einfach. Zur Tür heraus drücke ich auf den Knopf und folge dem Doppelton. Zwei aufblinkende Lichter am Straßenrand weisen mir und der Schulter des Opfers den Weg. Die Schulter des Opfers ist wie ausgekoppelt. Sie hat sich vom zugehörigen Körper entfernt, abgeklappt nach vorne, als befürchte sie einen Schlag und wolle zeigen, dass der Schmerz bereits jetzt fühlbar, die Auslösung also nicht mehr notwendig ist. An der Tankstelle versorge ich den Fluchtwagen, einen silbergrauen Kadett, mit Benzin und finde einige Lagen Zellstoff, die ich dem Opfer in den Mund stopfe, damit es nicht doch noch um Hilfe schreit; dass es das viel früher hätte tun müssen, wird ihm ohnehin später in den Sinn kommen.

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In dem Falle, dass ich mir nicht sicher bin, was geschieht... In dem Falle, dass ich mir nicht sicher bin, ob die geordneten Bahnen es wert sind, erneut beschritten zu werden... In dem Falle, dass mir die Entscheidung von anderen abgenommen wird... In diesem Falle also... putze ich stundenlang die Wohnung. Ich will ihnen nicht das genugtuende Gefühl geben, hier habe der Wahnsinn gelebt. Was sie erwarten von einem Serientäter ist ein stinkendes Loch, in dem sich von den Wänden verfaulte Leichenteile schälen, deren Alter erst noch bestimmt werden muss. Was sie erwarten, ist ein Müllhaufen aus Essensresten und Flaschenscherben, mit einer hellen Computerkluft im hintersten Eck, von dem aus eine Blutspur den Weg nach draußen zeichnet. Die Vorhersehbarkeit ist der Menschheit eigen, aber nicht mir. Sie werden in dem geschilderten Falle ein ordentliches Leben vorfinden, das aus gesunden Kontakten zur Außenwelt und aus Büchern und aus gebohnerten Holzdielen besteht. Die Normalität soll im weißen Elfenkleid von Wand zu Wand gleiten. Die Raumtemperatur von durchschnittlichen 19 Grad soll der Beamtenschaft die erfolglose Suche nach Abgründen so angenehm wie möglich machen. Die Rechnungen habe ich in weiser Voraussicht allesamt beglichen. Und die alte Frau von gegenüber, deren Augen nicht mehr die besten sind, winkt statt meiner selbst den Uniformierten zu und reckt ihren zerknitterten Zeigefinger in die Luft. Ein guter Mensch, wird es heißen, wenn sie die Befragungen durchführen. Der sich im Rahmen seiner beruflichen Möglichkeiten um die Belange der Nachbarn gekümmert habe und stets zur Hilfe kam, wenn der Alkoholiker im Erdgeschoss wieder einmal den Herd vergaß.

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Mit dem guten Gefühl, dass nichts mehr im Argen liegt, nähern wir uns der Stadtgrenze. Während die meisten anderen Fahrzeuge ausscheren, bleiben wir auf Spur und sind bald gut verpackt, fahrend inmitten zweier Schichten Wald. Der zeigt nur punktuell sein wahres Gesicht, wenn die Scheinwerfer ihn in einer Kurve treffen. An den gleichmäßigen Atemzügen des Opfers merke ich, dass es eingeschlafen ist. Ich werfe einen Blick durch den Rückspiegel. Sein Haar ist wild und dunkelblond. Fahrtwind weht durch den schmalen Spalt oberhalb der Scheibe. Eine große Locke legt sich über das linke Auge.

Mein geheimes Vorstrafenregister könnte Außenstehende glauben lassen, ich würde die Menschen von der Straße rauben wie ich etwas in einen dieser Mülleimer werfe, genauso beiläufig und genauso kalt. Nein, ich bin nicht abgebrüht. Nur abgebrühte Verbrecher werden gefasst und für Jahre weggesperrt. Wer hingegen Augen hat, die zu jedem Zeitpunkt aussehen, als seien sie eben erst ins Gesicht getupft worden, der wird nicht belangt. Der schlüpft aus einem Massaker, das er selbst verschuldet hat, unbemerkt durch ein Loch im Gartenzaun und geht dann weiter seines Weges auf offener menschenleerer Straße. Leuchtend gelbe Herbstblätter fallen ihm dabei auf den Kopf und verleihen ihm ein neues Gewand, und er hat plötzlich eine Bühne und tanzt dort umher und kann tun und lassen, was er will. Zweimal um- und die Musik aufgedreht. Dafür bist du viel zu alt. Bloß Sätze mit kurzer Halbwertzeit. Auf der Bühne sind selbst Massaker nichts weiter als Teil einer Inszenierung und Teil einer Moral.

Wir haben die Dämmerung bereits hinter uns gelassen. Ich stelle den Motor ab und beuge mich nach hinten. Dafür nutze ich die ganze Länge meines Körpers aus. Ich löse den Knebel vorsichtig, besonders dort, wo er sich im Zahnfleisch verhakt hat und die Gefahr besteht, dass sich die empfindliche Rachenhaut ablöst und am Stoff hängenbleibt. Er scheint mir keiner von denen zu sein, die übertriebene Aufmerksamkeit für Fußstapfen haben, die zu betreten der einfachste aller Wege ist. Blickt im Halbschlaf in die karge Parkplatzwelt hinein, wo zu dieser nächtlichen Stunde neben unserem Kadett nur ein toter Truck steht. An dem Autoschlüssel, der nicht uns gehört, ist eine winzige Lampe angebracht. Ein Rädchen am Rand macht sie heller, und ich leuchte ihm mitten ins Gesicht. Die Pupillen füllen nahezu das ganze Feld aus. Ein Mensch vielleicht, der das mit dem Stadtleben verknotete Missverstehen von Freiheit in sich vereint. Der Verseuchteste von allen. Wenn er zu sich kommt, wird alles an ihm zittern und er wird nach neuen Mitteln betteln, die ihm Energie für das geben, was in seinem in Fleisch und Blut übergegangenen Alltag von ihm verlangt wird, in den Stunden, die wie vollgestopfte Einkaufstüten sind, und man wühlt und wühlt in all dem Papier und findet nichts Ess- und nichts Trinkbares mehr – ein Albtraum, in dem das öffentliche Lachen durch die Straßen gellt und jeder Satz, der die Liebe zur Stadt beschreibt, doppelt und dreifach unterstrichen ist. Sein Körper hat noch diese Konsistenz, der Gummianzug passt sich mir an. Ich pikse mit dem Fingernagel hinein und fange die weiche zweite Schicht in einer Plastiktüte auf. Danach schnalzt sein Körper zurück. Ich gebe meinen eigenen Stoff hinzu und binde die Tüte am Seitenspiegel fest.

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Hände und Lenkrad wachsen zusammen. Unkraut halmt aus dem Tachometer. Ein Riesenvogel surft auf der Windschutzscheibe. Das macht alles der Entzug. Mein Vorrat hat sich erschöpft. Konstruierte Ablenkung das einzige Gegenmittel: Ob gleich die Reue kommt, frage ich mich. Und was aus mir geworden ist. Ein skrupelloser Entführer, der sich nicht darum schert, ob die Angehörigen des Opfers nun zum Hörer greifen, um es vermisst zu melden. In der großen Stadt. Die bereits weit hinter uns liegt. Und die krank ist. Und die Neuankömmlinge unmittelbar mit ihrem Fieber infiziert und sie bei aller administrativen Freiheit spüren lässt, dass ohne die Süchte der Platz für das eigene Ich nicht geschaffen werden kann. Versunken in die Nacht. Vermeintlich schlafen die Menschen, glücklich lächelnd, in ihren ausgeklopften Betten. In Wirklichkeit zusammengerottet, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen, wo man früher stand: Wir.

Zwischen Marlboro-Männchen und Lichterkette. Sprachen über das Fühlen und knallten unsere Köpfe gegen die Wand, um uns an den Anfang zu erinnern. Mit Schmieröl eingeriebene Hände wie Fische, glitschig und gleich wieder aufgesogen von einer der Milliarden Waben, die in der Möglichkeitsform unter den Städten klaffen und unendlich viel verschlucken können. Die Tageszeitungen berichten von vergessenen Toten, die jahrelang in ihrer Wohnung verwesen, bis sie, nach einem natürlichen Zersetzungsprozess längst zu Staub geworden, mit Schaufel und Besen in einen für die Ausbeute viel zu großen Leichensack gegeben werden. Versetze ich mich in eine spätere Gerichtsverhandlung, so erhebe ich mich und werde immer lauter und versuche, das Ich auszusparen, obwohl es nicht einmal immer um mich geht, wenn ich Ich sage.

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Die vergebliche Konsistenz der Fische. Die vergebliche Konsistenz der Protagonisten. Ihr Schleier ist nass, selbst auf dem Festland. Die Schuppen versprechen Halt, lassen sich aber nur ansehen und niemals länger greifen. Nichts zu machen, das gehört zu ihnen wie ein Akzent, der sich immer wieder ins gesprochene Wort schleicht bei einem, der von woanders kommt.

Der Richter wird fragen, ob ich mein Opfer willkürlich ausgewählt habe, und ich werde erst nicken und dann, erpresst durch den weisen Blick der Justiz, das Nicken langsam einrasten oder viel mehr übergehen lassen in das sich beschleunigende Hin und Her meines Kopfes, womit ich, hier und jetzt, alles zugebe. Dass der Moment, in dem ich mich von der alten Frau mit dem aufgeschuppten Finger abgewendet habe, geplant war. Dass überhaupt alles, was mit meinen Verbrechen in Zusammenhang steht, geplant war. Kein Schritt, den ich nicht selbst eingeleitet hätte, vom Messer bis zum bereitgestellten Kadett, für mich und für mein gezielt aus der Masse gepicktes Opfer, für das ich seit der ersten Sekunde eine Wärme übrig hatte wie sonst nur für meine Süchte, die mir bis dahin vor meine Haustür gebracht wurden, in kleinen Dosen, liebevoll verpackt.

Angesichts dieser Wärme also, die ich nicht künstlich erzeugen musste, sondern die mir mit einem einzigen Blick einfach so entgegenkam, frage ich auf der Anklagebank mit fester Stimme, was mir anderes übrig geblieben wäre als dem Infizierten das Messer an den Hals zu legen und ihn umzudrehen und zum nüchternen Sehen zu zwingen. Das Messer dort zu lassen, zwischen Fluchtwagen und ausgestorbenem Laster, an dessen Seitenspiegel unsere Pulver in durchsichtigen Bahnen baumeln. Für den hellen grünen Garten lohnt sich die Erfindung eigener Gesetze. Und für die damit zum Greifen nah werdende Vorstellung einer realen Welt, in der das Glück auch ausgesprochen werden darf.

Kopfüber in Plastikfolie sahen wir den anderen dabei zu, wie sie ihre Kinderwägen über den Infektionsherd schoben. Die Außergewöhnlichkeit unserer Existenzen ins Alltägliche hineinleben. Entfesselt aus dem Supermarkt von der Klippe am Ende des Magnetbands springen, in einen Abgrund aus dreihundert Metern und ganz ohne Gummiband. Überleben bei Windgeschwindigkeiten von bedrohlichem Stärkegrad. Die geborene Zuschauerschaft war bereits unten angekommen oder immer schon dort und hatte überhaupt keinen Grund und auch keine Möglichkeit, irgendwohin zu springen. Wohin denn springen, wenn’s keinen Abgrund gibt? Hätte an meiner Stelle nicht jeder dasselbe getan, nämlich Ausschau gehalten nach einem, der noch etwas zu berühren hat? Lange genug beobachtet bei all den Kapriolen, die meinen zu ähnlich waren, als dass ich mich hätte zurückhalten können. In akrobatische Turnübungen verwickelt. Dabei aber durchaus beweglich. Ein Fisch. Der allen, die ihn zu fangen versuchen, aus den Fingern springt und gegen die Wände klatscht, unempfindlich für jede Art von Schmerz, so wie ich und eben nicht so wie ich. Der Schnittpunkt war größer als jede Manege und frei von Sägespänen und einem unablässig unterhalten werden wollendem Publikum. Eindeutig der Wunsch nach Ausdehnung. So kontaminiert hätte er sich nicht freiwillig dazu bereit erklärt, mir in einem gestohlenen Kadett ins überblickbare Brachland zu folgen.

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In der Bierbar Sofia, dort gibt es einen Tresen, auf den man nach drei rasch erloschenen Wodka die Ellenbogen ablegt und sich am Fließband bemitleiden lässt, schön in einer Reihe. In der Stadt, unserer Erzählerin, ist die Bierbar Sofia der Beichtstuhl. Wo am Schluss alle Kümmernis oben schwimmt und abgewischt wird mit einem gelben sauberen Tuch. Es verliert sein Strahlen nach dem ersten Strich und versinkt bald in einem der Mülleimer, die in der Hochsaison unter der Last der Butterbrottouristen kapitulieren, auf dass gute Tage zu schlechten werden. An diesem Tag aber sollte es anders kommen als an anderen Tagen. Ein Leben, das keinen Anfang hat, lässt sich so einfach nicht beenden.

Ich gab mich als ein nüchternes Wesen aus, das in den Straßenbelag schneuzt und auf Kontakte keinen Wert legt. Er nahm mich mit nach oben, wo wir lagen und uns mit allerlei Stoff versorgten, um am Ende über Betonmauern zu fliegen und uns gegenseitig vorzulesen, was auf den Reklametafeln steht. Ich habe damals mit antrainierter Unhöflichkeit diesen Kopf in meine Richtung gezogen, da waren seine Augen bereits Fischaugen, die nichts übrig ließen.

Die Gedanken im Nachgeschmack der städtischen Sucht sprühen das letzte Feuerwerk in den Himmel. Die Konzentration gilt wieder der Straße und der Bewahrung zweier Leben, die früher oder später in einer ihrer Auffangstationen gelandet wären, um täglich mit kleinen Löffeln gefüttert zu werden, und einen für die Mama und einen für den Papa und einen für die katholische Ordensschwester.

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An einem neuen Tag, in einem Haus mitten in den Dünen. Die Haut hat sich beruhigt. Unser Entzugsleiden ist der Ebbe gewichen, die sich an herbstlichen Tagen unter Windböen schuppt und mich an den Zeigefinger der Alten von gegenüber erinnert. Mein Opfer ist kein Opfer mehr. Es hat einen Namen und beginnt den Tag mit dem Einatmen polierter Luft und dem Zitieren von Worten, deren Verfasser schon gestorben sind.

Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern.