Birgit Pölzl, GRAZ (A)

Geboren 1959 in Graz, lebt in Graz. Studierte Germanistik und Kunstgeschichte, dissertierte über Steuerungssignale im realistischen Drama. Sie liest auf Einladung von Arno Dusini

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Maia

Birgit Pölzl

Licht spiegelt sich in Messingknöpfen, Architraven aus Metall und Silberblättchen, als Gespinst liegt Licht in den Blättern der Pappeln und Weiden, die ihre Wurzeln halb unter Wasser haben, verhalten liegt das Licht auf Zäunen, die sich übers Hochtal ziehen und gleißend liegt es auf windgekämmten Dünen. Es ist ohne Anspruch. Es hebt die Dinge und
haarbreit den Raum über ihnen. Diesseits des Flusses liegt im Reif momentlang das Licht und jenseits des Flusses im Dorf, in den Scheiben und Metallleisten dort. Das Licht badet, hüpft,
zersplittert, fängt sich, legt sich in Arme, Ärmchen. Zieht Bänder.
Fahren Wolken über den Himmel, kämmen das Licht: über das Schwemmland, über die Dünen, die Berge, über den Rücken der Schafe, die in Herden zusammenstehen. Fährt das Licht in den Jeep, fährt das Licht über die Figur, die der Fahrer jeden Morgen berührt, bevor
er den Wagen startet. Fährt es dem Fahrer über den Arm und Anna, die schräg hinter dem Fahrer sitzt, über die Wange. Beginnt sie still zu weinen, Anna, bis es laut wird und Schluchzen und unangenehm im Auto. Von vorne wird ein Taschentuch gereicht, in dem sie sich fasst und still weiterweint. Quarz liegt über Rippen aus Granit, die sich über den Bergrücken bis an die Piste ziehen. Niedrige Sträucher wachsen auf Hängen, Windpocken, sagt die Frau auf dem Beifahrersitz, um sie ein wenig aufzuheitern, Nester, sagt Anna und beginnt wieder lauter zu weinen. Zum Fahrer, der gegen das Weinen zum hundertsten Mal Om Mani Padme Hum spielt, sagt die Frau auf dem Beifahrersitz, another song, please.
Ich hab dich lieb, hat sie gesagt, ich hab dich lieb, immer wieder und sich über Maia gebeugt.
Blutfäden aus dem Mund und den Ohren. Groß die Kühlerhaube über ihnen. Herbert durfte sie nicht berühren, er hockte sich hin, er stand, er bewegte sich, sie ließ es nicht zu. Dann legte er Maia seine Hand an den Arm. Und Gott hat sie gedacht, Gott auch gesagt, hab dich lieb, zum Kind – und dann gedacht, dass es ihn gar nicht gibt. Oder Gott hatte sich auf
Gesichtsgröße zusammengezogen, auf Kindergesichtsgröße.
Das hat sich ausgewachsen: dass alles unwirklich wird. Mit der Hand muss sie über den Tisch, ob der Tisch der Tisch noch ist, oder sie muss mit der Hand ans Knie, ob das Knie das Knie noch ist. Nur Maia ist da, Maia, die Herbert getötet hat. Sie hat es nur einmal gesagt und er
hat geweint, da hat sie überfahren gesagt, dass er sie überfahren hat.
Das ist die Angst auch, die sie hat: dass Maia gleich unwirklich wird wie alles andere. Nur noch selten kann sie die Haut in Maias Gesicht spüren, samten, mit Härchen zu den Ohren hin, nur noch selten kann sie Maia frisieren, den Scheitel ziehen durchs dunkle Haar und dabei verstohlen die Krone berühren, den Himmel, den ihr Kind dort liegen hat. Manchmal
sieht sie die Tür durchs Kind hindurch oder sie sieht den Baum, vor dem ihr Kind steht, den Ast, der tiefer hängt, wenn er im Herbst die Äpfel trägt. Riechen kann sie Maia noch. Sie weiß, wie sie am Haaransatz riecht und am Hals, sie weiß, wie Maia riecht, wenn sie vom Sommer draußen kommt und wenn sie Frühherbst in den Kleidern trägt. Dann ist es immer
Abend und sie entkleidet Maia, die undeutlicher wird, und riecht die Achseln und den Bauch, nach Beeren riecht Maia, wenn sie die Arme hebt und über ihren Kopf das Leibchen streift, still riecht sie um den Nabel, ganz leicht nach Tamarinde riecht sie um die Scham.
Wolken fahren über den Himmel – wie Krapfen, sagt sie zu Maia – fahren als Schatten über den Rücken der Berge, verdecken die Sonne, geben sie frei, rechen das Licht, ziehen es von einem Punkt aus in Streifen.
Der Jeep hält an, sie steigen aus. Der Fahrer stellt sich hinter die Dünen am rechten Rand, sie hocken auf der anderen Seite hinter dem Damm. Schön, sagt die Frau, die neben ihr ein Feuchttuch aus der Tasche zieht. Ja, schön, sagt Anna und dreht sich weg und ruft Maia,
damit sie gemeinsam auf die Düne gehen, über die Wellen aus Sand, aufwärts und den Kamm entlang, den der Wind gezogen hat. Erst rascheln die Gräser, erst weichen sie den Disteln aus, dann sehen sie Sand und Licht und Berge, die hinter den Dünen wie Tierleiber
liegen; sie nennen sie Katzen- und Bärenberge, sie nennen sie Hundehügel und Elefantenrücken. Hinter den braungrünen Leibern gleißen Berge aus Schnee; das sind die Königinnen, sagt Maia. Ja, sagt Anna und nimmt ihr Kind an der Hand, damit es nicht zu den
Königinnen läuft, weiß und schön, wie sie sind. Sie geht mit Maia zum Auto zurück, sie bettet sie im Auto neben sich und macht die Augen zu, damit sie nicht reden muss.
Anna spürt die Hand der Frau auf ihrem Oberarm, sie haben angehalten, die vorderen Türen stehen schon offen. Sie steigt aus, geht durch das Tor, berührt die Gebetsmühlen, geht um den Schrein, geht ein zweites und ein drittes Mal, Maia kommt nicht über den Platz, Maia tritt nicht durch das Tor, sie sieht nur den Fahrer und die Frau und ein paar Fremde, die auf
den Stufen vor dem Tempel sitzen, das Rad aus Gold steht still zwischen den Gazellen über ihnen, darunter das rotbraune Band aus Stroh, die nach außen laufenden Mauern. Eine Frau wirft sich hin, streckt die Arme nach vor, steht auf, führt die Arme über dem Kopf zusammen, winkelt sie, berührt mit den Daumenballen die Stirne, das Kinn, die Brustmitte,
kniet sich hin, gleitet wieder nach vorn, liegt gestreckt im Staub; einen Plastikschurz trägt die Frau und Lappen hat sie an den Händen. Nach jeder Umrundung sieht Anna ein anderes Bild, die Frau ist um zwei Körperlängen dem Tempel näher gekommen oder der Fahrer hat sich
eine Zigarette angezündet, die Frau, die neben dem Fahrer gestanden ist, steht um zwei Stufen höher, hat die Sonnenbrille abgenommen und die Kamera auf die Frau im Staub gerichtet, ein Vogel kreist über ihnen. Ein Vogel kreist nicht über ihnen.
Wir warten, ruft die Frau zu ihr herüber.
Sie bleibt stehen, hebt den Kopf, die Stimme war deutlich. Hat sich nicht verloren, als stünde sie im Haus aus Plastikfolie, Glas und abgeblühten Rosen. Als hätte Maia wie früher vom Garten her gerufen. Sandkuchen, Ketten aus Löwenzahn, Zitronenfalter, Kreidebilder, Blumensträußchen, Birkenrinde sind in der Stimme. Vielleicht, weil sie sanft ist, ohne Anflug von Ungeduld, vielleicht, weil die Frau im Staub liegt und der Vogel wieder über ihnen fliegt.
Als sie sich bückt, um die Schuhe auszuziehen, sieht sie den Hof leer und hart ausgeleuchtet;
die anderen haben den Vorhang zur Seite geschoben und sind in den Tempel getreten, die Frau mit dem Plastikschurz wirft sich neben ihr nieder, Maia kommt nicht, obwohl sie sie ruft. Sie schiebt den Vorhang ein wenig zur Seite und sieht, wie die anderen Geld zu Geld legen. Überall Yuan-Scheine, in Schalen auf Getreidekörnern, zwischen Vitrinenscheiben, vor Bildern, die reinkarnierte Lamas zeigen. Weinrot liegen die Mäntel der Mönche, 12 Filzmäntel in jeder Reihe. Von oben fällt ein wenig Tageslicht herein, das die Farben grell macht, weiter hinten im Raum sind sie von den Butterlampen gedämpft, besänftigt, denkt
sie, sanft gemacht. Wie das Bettzeug, das am Abend lindgrün wird, wie ihre Stimme, die feiner wird, wenn sie im lindgrünen Bettzeug vorzulesen beginnt. Die Frau legt ihr die Hand an den Rücken und schiebt sie zu einer anderen Statue hin. Tausend Arme, sagt die Frau und
Augen in den Händen, Om Mani Padme Hum, sagt die Frau. Sie rückt von der Frau und zündet Butterlampen an, so gerne zeigte sie die Statue Maia, so gerne bäte sie vor dieser Statue Maia, dass sie nicht gehen möge.
Gegen Westen fahren sie. Durchs Kind hindurch sieht sie die graue Polsterung, Nähte, die im rechten Winkel auseinanderstreben, abgewetzte Stellen. Sie atmet kaum hörbar, sie ruft ihr Kind nicht beim Namen, ganz fein ist ihr Kind, eine Wolke, die neben ihr liegt. Sie spürt, wie grob sie ist, sie spürt, wie ihr Kind verstillt. Es tut mir leid, sagt sie leise. Es tut mir leid, du darfst gehen, sagt sie immer wieder, bis ihr das Herz weit und aus dem Herzen eine Wiege wird, ihr Kind dort zu wiegen.
Als sie aussteigen, nimmt sie Maia an der Hand, und sagt, bald. Bald kannst du gehen. Maia wehrt sich nicht, Maia hat ihren Körper wieder und geht mit ihr ins Zimmer, das schmutzig ist, Haare überall, Plastiksäcke, Essensreste. Sie richtet das Bett für Maia, die still auf dem Sessel sitzt und durchscheinend zu werden beginnt. Sie hebt Maia ganz sacht ins Bett und setzt sich an den Rand zu ihr; nicht lesen soll sie, singen soll sie. Kommt ein Vogel geflogen, singt sie, setzt sich nieder auf mein’ Fuß, hat ein Brieflein im Schnabel, von der Mutter einen Gruß, die nächste Strophe muss sie ein paar Mal beginnen, lieber Vogel, fliege weiter, nimm
ein’ Gruß mit und ein’ Kuss, weil die Tränen so rinnen und sie das Lied ganz verschluckt, weil sie hier bleiben muss. Maia lächelt, ihr Wolkenkind. Sie singt das Lied leiser und feiner, sie kann Maia wieder wiegen, das Herz ist weit genug. Still wird sie, die Spannung geht aus den
Kiefern, den Knien, sie hat keine Angst jetzt um sie. Maia geht durch den Raum zur Tür: Sie bleibt sitzen und sieht ihr Kind verschwinden und muss nicht hin sofort zur Tür, um nachzusehen, wo es sei.
Sie sieht Herbert, der Maia überfahren hat, und steht auf und macht ihm Platz, damit er sich über Maia beugen und sie streicheln kann. Sie schaut Herbert an. Sie sieht Herbert weinen.
Sie sieht das erst jetzt.
Sie geht hinaus. Die Frau, die im Jeep vorne sitzt, kniet und taucht ihr Haar in einen roten Kübel. Zwei Frauen sitzen vor dem Hauseingang; Amulette, Silberplättchen haben die Frauen um den Hals, an den Ohren; ihre Hände sind schmutzig und aufgequollen, schwarz und
eingerissen die Fingernägel, Schafwolle ist auf Planen neben sie gebreitet, Kräuter liegen in tiefen Körben zum Trocknen, in flacheren Körben liegen Chili und dunkle Schoten. Der Fahrer wäscht Staub von der Scheibe; unterschiedslos ist alles in goldgelbes Licht getaucht: der
Fahrer, die Frauen, die Häuser, die Hunde, der Dreck, der an den Kanten und Ecken sich sammelt, die dürren Pflanzen. Sie geht hinters Haus, Yakfladen kleben zum Trocknen an Wänden, Yakfladen sind zu Haufen geschichtet, ein Halbmond ist an die Tür vom Brunnenhäuschen gemalt; sie folgt einem Pfad, der an Schreinen vorbei auf den Hügel führt;
netzgleich sind die Gebetsfahnen über den Hügel gespannt. Sie schaut und ruft Maia nicht, Herbert ist ja bei ihr und streichelt sie, vielleicht nimmt er sie in den Arm und wiegt sie und summt wie früher dazu.
Ein Hund kommt und streicht ihr um die Waden, sie streicht dem Hund übers Fell, obwohl ihr graust vor den kahlen, schrundigen Stellen; der Hund, wird sie sagen, ist semmelfarben wie Winnie gewesen, nur dünner, viel dünner, wir sollten ihm die kranken Stellen mit Salbe bestreichen. Wo ist Winnie, wird Maia fragen und sie wird sagen, drüben ist Winnie, drüben
und läuft über Wiesen und freut sich und hat keine Geschwüre und hat ein glänzendes Fell.
Sie hebt den Kopf und schaut über die braungelben Flechten und Gräser, über die Gebetsfahnen nach Westen, wo die Sonne hell im Dunst aus Aubergine und Grau am Himmel steht. Der Hund erhebt sich, gähnt und macht sich auf den Weg ins Dorf zurück, vom Bellen dort gerufen.
Sie bleibt stehen, hält ihre Zehen still. Die Stille kann sich ausbreiten, sie ist nicht auf dem Sprung, die Stille kann in die Fersen gehen, in die Knie. Die Stille kann sich unter ihren Nabel legen. Sie rollt langsam über die Fersen und die Ballen ab, sie winkelt die Knie, die Spannung
geht aus dem Körper, sie spürt die Haut zu den Achseln hin. Die Sonne berührt den Grat, die Sonne sinkt hinter ihn. Ähnlich wird Maia dann gehen, ähnlich schnell. Licht schickt die Sonne von drüben, Lichtgrüße, die Wolken: eine Herde rosa Lämmer.
Sie sehnt sich nach Händen. Sie hätte sich streicheln lassen, denkt sie und denkt an den Hund und lacht kurz. Die nassen Haare fallen ihr ein, rot war der Kübel, die Frau kniete vor ihm wie sie vor dem Hund, dann tauchte sie ihren Kopf hinein, wahrscheinlich friert sie jetzt.
Sie wendet sich nach Osten, sieht die Fahnen, Häuser, Berge als dunkle Schemen und dreht sich zurück: Der Widerschein ist verschwunden, grau ist der Dunst und größer die rosa Herde. Sie geht schnell ins Dorf hinunter, Licht brennt in den Häusern, die Frau tritt mit nassem Haar aus der Tür, Abendessen, sagt die Frau und tritt zurück, um sich das Haar am
Ofen zu trocknen. Neben ihr hebt eine Frau mit rotem Garn in den Zöpfen Fladen aus einem Korb in den Ofen, holt dann Schalen, sie auf den Tisch neben die Thermoskanne zu stellen. In der Suppe, die die Frau bringt, schwimmen Nudeln und Kohlblätter. Sie wird eine Schale voll
für Maia mit aufs Zimmer nehmen. Sie setzt sich zur Frau an den Ofen, so nah, dass sie sie berührt. Sie sitzen nebeneinander und schweigen und schauen über den gestampften Boden, über den niederen Metallofen, der zu glühen beginnt, zu den Bänken, auf denen

Männer unter groß geblumten Kunststoffdecken liegen. Es tut gut, die Frau so warm zu spüren. Die Frau legt ihr den Arm um die Schulter.
In der Früh ist der Himmel sehr klar. Bright sky, sagt der Fahrer und wischt der Figur über die Brust mit dem Finger. Men seem to like her, sagt die Frau, die neben ihm sitzt. Der Fahrer nickt und sagt, women also und spielt Om Mani Padme Hum wieder, Anna weint nicht, sitzt still. Der Fahrer beginnt zu summen.

Sie steigen aus, gehen langsam durchs karge Tal, die Klarheit hebt die Herzen, die Schritte.
Die Zeit verschwimmt im Raum. So klar ist der Raum, dass sie ihm nichts beilegen müssen.
Nichts liegt ihm bei. Kein Selbst liegt ihm bei. Zärtlichkeit entspinnt sich zwischen ihnen.
Married, fragt der Fahrer, als sie ins Auto steigen, no, sagen Anna und die Frau. Me, married, sagt der Fahrer und zieht sich Handschuhe an und wischt der Figur über die Brust wieder. Children, fragt der Fahrer. No, sagt die Frau, die neben ihm sitzt. One child, sagt Anna, where, fragt der Fahrer. Drüben, sagt Anna, abroad. Dort wird Maia dann sein. Die Hand wird sie Maia auf die Schulter legen, den Scheitel wird sie berühren und geh, sagen, geh, zu ihrem Kind. Die Frau, die vorne sitzt, dreht sich um, hebt die Thermosflasche, die ähnlich geblumt ist wie die Kunststoffdecken, unter denen die Männer gelegen sind. Tee, fragt sie besorgt.

Bitte, sagt Anna. Die Frau öffnet die Thermosflasche, um Tee in den Deckel zu gießen und verschüttet ihn über den Fahrer, der polternd den Jeep über eine Felsplatte manövriert. Hot, sagt der Fahrer und wischt sich über den Schenkel, sorry, sagt die Frau und kramt ein Tuch aus der Tasche, no, sagt der Fahrer.

Alle müssen im gleichen Raum schlafen. Alle liegen auf dreckigen Betten, alle haben ähnliche Kunststoffdecken. Alle hocken sich hinter die Mauer zum Kacken, die aus dem Westen mit Lampen, ohne Lampen die, die heimisch sind. Sie breitet den Schlafsack aus. Maia will draußen bleiben, Maia ist nicht kalt unterm blühenden Himmel.

Sie sehen die Schneeberge jenseits der Dünen wieder, sie streichelt Maia. Das Gepäck ist auf die Rücken der Tragtiere geschnallt. Sie trägt nur Maia. Sie trägt sie wie die Nomaden in einem Tuch, das ihr um die Brust und über den Rücken läuft. Die Glöckchen der Nomaden
klingen hell. Die Frau taucht immer wieder auf, berührt sie, sagt schau. Schau, wie die Berge im See sich spiegeln, oder schau, die Wildesel, die drüben an der Talsohle grasen. Meistens geht die Frau weit vorne, sie sieht den Kopf der Frau sich auf und ab bewegen.

Die Zelte werden aufgebaut. Die Nomaden stellen dunkelbraune Zelte aus gewebten Bahnen auf, der Fahrer und die Frau aus blauem Kunststoff Zelte. Sie geht auf den Hügel, sieht sich um und winkt, und summt für ihr Kind, das ihr im Tuch am Rücken liegt. Sie sehen scharf
gezogen Grate, sie sehen Schultern, Brüche, Schöße, Kaskaden. Sie sehen türkis den See und am Ufer die Zelte, sie hören die Glöckchen, wenn der Wind in ihre Richtung weht. Laufen will Maia dann. Sie sieht Maia als Schemen, wenn sie vor den Felsen steht, dann verschwindet
Maia und sie sieht sie als Gespinst. Sie muss schnell gehen, manchmal muss sie die Hand an die Augen legen, weil ihr Kind weit vorne über ihr im Gegenlicht liegt. Nach Osten in den Schatten führt der Weg. Kleider, Hosen, Schuhe liegen verstreut und verschlissen auf dem steinigen Grund zu beiden Seiten des Weges, leere Flaschen, Folienstückchen, Papier. Um eine Steinplatte herum führt der Weg. Die Platte ist mit Kalk bestreut, Büschel von Haaren liegen in den Furchen der Platte, Haare hängen an den Steinen, die um die Platte liegen, ein Häufchen Haare liegt an der Krümmung vom Wind dort zusammengeblasen. Maia verharrt
nicht und sie ist froh darüber, sie folgt Maia, sieht Knochen über das Plateau verstreut, der Weg führt steil in einer Kehre nach Westen, auf den Gipfel des Hügels.
Maia bleibt stehen. Sie kann sie nicht an der Hand nehmen. Sie verharrt neben Maia und schaut übers Tal, das zwischen den Bergen in den Nachmittag läuft.

Breit ist der Weg am Ufer entlang, lehmig und feucht, dann wieder trocken und steinig, schmal; kleine Polsterpflanzen wachsen dort, über die sie immer wieder mit dem Finger streicht. Sie bückt sich leicht, weil ihr das Tuch nur lose jetzt am Rücken liegt.
Steine, über die zwei Linien laufen, hebt sie auf und wischt sie an der Hose ab, die davon schon braune Streifen an der Seite hat. Sie hält einen Stein in der Hand, bis sie einen anderen aufhebt, der ihr schöner erscheint. Dann vergleicht sie die Steine und legt den schöneren auf eine Polsterpflanze. Dabei läutet das Glöckchen, das sie von der Nomadenfrau
hat; mit dem Handrücken fährt sie über die Wangen, die Tränen abzuwischen und hebt den unteren Rand der Sonnenbrille. Sie lässt das Nomadenkind die Sonnenbrille nicht probieren, obwohl es insistiert und lange nicht von ihrer Seite weicht. Sie kann die Brille nicht abnehmen und ihre verquollenen Augen herzeigen und spürt, wie fremd sie den Nomaden
wird dabei.

Da ist der Arm der Frau, der sich um ihre Schulter legt, sie leicht an ihren Körper zieht und ganz sacht drückt. Nach vergorenen Zwetschgen riecht die Frau, süß, ganz anders als Maia riecht die Frau. Oder sie berührt sie sacht an der Achsel.
Da ist der Himmel, gleich gültig, ob er wolkenlos ist oder Wolken über ihn ziehen, die weißen Riesen entlang oder als Fahnen über die Bergkämme fliegen; da ist der Himmel, gleich gültig, ob Wolkenlinsen über ihn fahren, Walzen über den Gipfeln stehen oder ein Schleier über ihm liegt, der sich auflöst bis Mittag, ausdünnt über den Bergen im Westen schon früher.
Der Himmel ist immer gleich gültig, und manchmal erscheint er ihr gütig darüber.
Mit jedem Blick anders erscheint ihr das Wasser, immer anders die Kräusel, die zitternd sich heben und hüpfen und tanzen, und manchmal weit draußen, wenn der Wind drüberstreicht, Krönchen zu tragen scheinen; immer anders die Wellen, die ans Ufer schlagen und Rüschen
aus Schaum über die Steinchen legen, immer anders die Kreise, die verlaufen, wenn Fische aufschwimmen und abtauchen.
Wenn sie tagsüber den Himmel sieht, der strahlend und hell über ihr liegt, ist es ihr leichter.
Weinen muss sie, wenn sie Steinchen auf die grünen Kissen legt, da verschwindet ihr Kind.
Den klaren Himmel beginnt sie zu lieben. Er bedeutet, dass ihr Kind dort ist. Immer aber muss sie die Steine auflesen und anschauen und ablegen oder ins Wasser starren: wie ihr Kind verschlupft. Sie kann dann kaum atmen. Es wird anders, sagt die Frau, die sie streichelt,
die sie hält. Es vergeht. Sie kann dann wieder in den Himmel schauen, muss nicht Steinchen auf die grünen Kissen legen.
Dann wächst ihr der Raum wieder zu und sie hebt Steine auf und wischt sie an der Hose ab, presst sie sich in die Hand und spürt das Brennen in der Kehle. Doch es vergeht. Sie sieht den Kopf der Frau weit vorn sich auf und ab bewegen. Sie sieht Korallen und Türkise um den Hals
der Nomadinnen, sie sieht lichtgrün Grashügel und Steinhäuser am Fuße der Hügel.
Sie kann ins Wasser schauen, ohne zu verschrägen. Sie bleibt lange sitzen auf der Matte am Ufer neben der Frau.