Senthuran Varatharajah, BERLIN (D)

Geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka, lebt in Berlin. Studium der Philosophie, evang. Theologie und Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg und Humboldt-Universität zu Berlin. Liest auf Einladung von Meike Feßmann.

DOWNLOAD TEXT: PDF

Senthuran Varatharajah
Vor der Zunahme der Zeichen
(Auszug)

Der folgende Auszug aus einem noch unvollendeten Roman besteht aus einem Gespräch, das im Chat- bzw. Mail-Programm des sozialen Netzwerks Facebook geführt wird. Das formale Arrangement des Texts ist der Anordnung ebendieses Nachrichtenverlaufs nachempfunden. Die Personen, die ihn verfassen, Eliona Surroi, Studentin, Anfang zwanzig, wohnhaft in Marburg, und Senthil Rajasingham, Doktorand, Ende zwanzig, wohnhaft in Berlin, kennen sich zu Beginn jenes sieben Tage andauernden Schriftwechsels nicht.
Der Text enthält (modifizierte) Zitate aus Literatur und Philosophie.

Dienstag

Eliona Surroi 08:31
Ich sitze in der Bibliothek.
Der grüne Punkt neben Deinem Namen fehlt.
Wahrscheinlich schläfst Du noch.

Eliona Surroi 09:20
Gleich beginnt die letzte Seminarsitzung meines Studiums:
›Die Biographie des Asyls – Das Asyl der Biographie‹
Wir werden ein Interview mit einem Flüchtling führen.

Eliona Surroi 09:29
Damals, im Asylbewerberheim, nachdem meine Eltern fliehen mussten, weil Albaner entlassen, enteignet und vertrieben wurden, damals erhielten wir re-gelmäßig Carepakete. Auf einem gelben Karton lernte ich meinen Namen schreiben. Auch die Schrift des Filzstifts war gelb.

Senthil Rajasingham 09:38
damals, im asyllandheim, nachdem meine eltern fliehen mussten, weil tami-len vertrieben und getötet wurden, wohl aber auch, weil meine mutter, der priesterkaste angehörig, eine standesungemäße ehe schloss, einen unberühr-baren nämlich heiratete, damals, nachdem sie gegen die manusmriti, die vor-schriften, die gesetze des stammvaters, verstoßen, gegen die götter sich be-reits vergangen hatten, damals begannen sie uns zu besuchen, regelmäßig, zeugen jehovas, damals. fünfzehn jahre sollten wir bei ihnen noch bleiben, in der wahrheit aufwachsen, wie es in ihrer sprache hieß. sie wählten bewusst asyllandheime für ihre missionierungstätigkeit, den predigtdienst aus. sie wussten um die bedürftigkeit der sogenannten bewohner, die auf jemanden angewiesen waren, der ausreichend deutsch sprach und bei behördengängen zu übersetzen, zu vermitteln verstand, die auf jemanden angewiesen waren, der sie weder anschrie noch anschwieg. mein vater, der damals jünger war als ich heute bin, verbrachte viele stunden mit einer schwester, schwester ka-tharina, die ihn mit den lehren der heiligen schrift vertraut machen sollte. als er eines sonntagmittags nach dem besuch des königreichsaals das zimmer betrat, in dem die familie, in die ich hineingeboren, von der ich geborgen wurde, untergebracht war, fand er meine mutter auf einem hocker, vielleicht auch einem stuhl stehend vor, den sie an das weit geöffnete fenster gescho-ben haben musste. mein jüngerer bruder wird die milde unbestimmtheit jenes herbstwinds nicht gespürt haben können, die ihren körper womöglich be-rührte, fürsorglich und beinahe flüchtig. geschlossen wie das garbhagriha, das innerste heiligtum hinduistischer tempel, – ein höhlenartiger, unbe-leuchteter raum, den zu betreten gläubigen nicht gestattet ist – als ›mutter-schoßkammer‹ und ›schoßhaus‹ übersetzbar, mag ihre bauchdecke ihn abge-wiesen haben. aus eifersucht, sollte sie mir jahre später abwesend lächelnd erzählen, wollte sie aus dem dritten stock fallen, damals, im fünften, viel-leicht auch sechsten monat schwanger. ich schenkte ihren worten keinen glauben.

Eliona Surroi 09:45
Damals, im Asylbewerberheim, begann uns ein Ehepaar aus Irland zu besu-chen. Ich war vier und erinnere mich an den Plüschhasen, den Mr. und Mrs. O’Caroll mir schenkten. Sie besaßen keine Kinder. Meine Eltern spielten mit dem Gedanken, mich zur Adoption freizugeben. Auch heute noch sagt meine Mutter, bereue sie, es nicht getan zu haben.

Senthil Rajasingham 09:46
bereust du es?

Eliona Surroi 09:48
Ich liebe meine Eltern. Oft sagt meine Mutter, dass sie mich nie wollte, dass sie geweint hätte, Monate nach meiner Geburt noch. Weil ich da war.

Senthil Rajasingham 09:52
meine mutter redet von mir wie von einem geliebten, den sie nie besaß. ihr atmen, das senken und heben ihres entfernteren körpers höre ich noch lange nach dem beenden ihrer anrufe wie ein keuchen, das rauschen in den knorpe-ligen windungen einer ohrmuschel.

Eliona Surroi 09:56
Meine Mutter deckte den Tisch. Drei Teller standen dort. Einen vierten gab es nicht. Manchmal sprach sie nicht mit mir. Ihr Schweigen besaß keinen Grund. Es brauchte keinen. Später, als sie von Christoph erfuhr, nannte sie mich ›Putanë‹.
Sie sollte mich noch häufiger bei diesem Namen rufen.

Eliona Surroi 10:09
Er ist angekommen.

Eliona Surroi 11:47
Ismail wollte seinen Vater besuchen. Er lag im Krankenhaus der Nachbar-stadt. Die Gendarmerie winkte den Bus heraus. Sie kontrollierten die Passa-giere. In Ismails Schultasche fanden sie einen Brief. Er war an seinen Bruder adressiert, der vor Kurzem zum türkischen Militärdienst einberufen wurde. Die Gendarmen öffneten den Umschlag und fanden beschriftete Zeilen, kur-dische Sätze. Sie lasen sie. Sie nahmen Ismails Personalien auf.
Sie ließen ihn gehen.

Eliona Surroi 11:50
Er saß im Klassenzimmer, als sie ihn am nächsten Tag holen kamen. Sie ver-hörten ihn. Sie brachen seine Finger.
Eineinhalb Jahre saß er in einem ostanatolischen Gefängnis.
Seine Aufenthaltserlaubnis wurde nicht verlängert.

Eliona Surroi 13:47
Ich erinnere mich an Kosovë, 1999, mein erster Besuch seit der Flucht, über Mazedonien in einem Auto, durch Zäune und Drähte. Verwandte kannte ich nur von Fotos. Sie waren zerknittert. Sie hörten nicht auf, uns zu umarmen, uns zu küssen.
Ich werde heimkehren.

Senthil Rajasingham 14:23
ich erinnere mich nicht an norwegen, neunzehnhundertfünfundneunzig, un-ser zweiter besuch, der erste zusammen mit meiner mutter, über dänemark in einem airbus, über die nordsee und fjorde, mit sprachschuld im kindergepäck und grenzübertretungen auf grauen lufthansasitzen. als mein cousin, ihr nef-fe, siebzehn jahre jünger etwa als sie, die möblierte studentenwohnung schlüsseldrehend betrat, die er gemeinsam mit seiner jüngeren schwester vor wenigen monaten erst bezogen hatte, versteckte sie sich in einem raufaser-nen winkel jener küche, in der sie das abendessen zuzubereiten im begriff war. zum ersten mal sollte sie ihn nach vierzehn jahren wiedersehen, zum ersten mahl, seit sie beschlossen hatte, die ordnung der götter zu verletzen, das erste mal einer mutter. die hohle form ihrer handflächen, die ihre miene sekunden vorher senkrecht verbargen, behielten ihr gesicht. sie küsste ihm die füße. sie bat ihn, ihren neffen, siebzehn jahre jünger etwa als sie, um ver-gebung für die schande, die sie der familie bereitet hätte. alles, versicherte sie, während ihre furchigen finger seine weißbesockten füße, auf denen ein schwarzbezopfter kopf zu liegen versuchte, festhielten, alles würde sie dafür geben, um ihr vergehen rückgängig, es ungeschehen machen lassen zu kön-nen. mein jüngerer bruder lauschte am türrahmen, wortlos angelehnt, derweil mein älterer und ich den pulvrigen grundriss eines iglus jenseits beschlage-ner fenster in das zentimeterhohe, kaum vernehmbare knirschen zeichneten, das eine wiese gleichmäßig bedeckt hielt. schnee fiel gemächlich wie asche-regen, ohne die spur eines namens. unsere nackten hände froren nicht.

Senthil Rajasingham 14:36
es hat viele jahre gedauert, bis ich verstand, dass das wort ›asyllandheim‹, das nicht nur meine eltern mit aller selbstverständlichkeit noch heute ver-wenden, das nach schullandheim, nach wohl organisiertem ausflug und ver-dienter ausgelassenheit klingt, eigentlich ›asylantenheim‹ heißt.

Eliona Surroi 14:41
Ich weiß nicht, was ich antworten soll, auf Deine und Ismails Geschichten.

Senthil Rajasingham 14:41
es ist nicht meine geschichte.

Eliona Surroi 14:59
Zeigt das Profilbild Deines Bruders Euren Vater?

Senthil Rajasingham 15:00
er könnte auf diesem foto etwa dreiundzwanzig jahre alt gewesen sein.

Eliona Surroi 15:00
Er ähnelt Dir nicht.

Senthil Rajasingham 15:01
wenn er keinen oberlippenbart trüge, sähe er mir, nein, ich ihm durchaus ähnlich.

Eliona Surroi 15:07
Früher war mein Vater oft krank. Als Kind betete ich, dass mich ein Auto überfahren, ich einfach nicht mehr aufwachen würde. Ich wollte immer vor ihm sterben. Selbst wenn es nur Kopfschmerzen waren, ging ich nachts zu ihm, um mich zu vergewissern, dass er noch atmete.

Senthil Rajasingham 15:19
als ich erwartete, die siebte schulklasse wiederholen zu müssen, stahl ich, drei wochen vor der zeugnisausgabe im juli, das samuraibuch meines älte-ren bruders, band vierundneunzig der reihe ›was ist was‹. die doppelseite, auf der der ritus des seppuku beschrieben und bebildert wurde, las ich auf-merksam, immer und immer wieder; tagelang. meine verschwitzten hände ließen sie wellig werden und nahmen den abbildungen ihre farben. die fami-lie, in die ich hineingeboren wurde, wohnte damals am rande jener oberfrän-kischen kleinstadt, in der eine kindheit und jugend verbracht wurden. ein großes weizenfeld grenzte unmittelbar an das haus, in dem meine eltern neunzehnhundertsechsundneunzig eine zweigeschossige eigentumswohnung neuwertig erwarben. im sommer verschwand ich oft in der rauheit begrann-ter ähren wogend, die von einem wald sorgfältig fast umsäumt wurden. ich hatte bereits einen ort gefunden, an dem ich am letzten schultag sitzen woll-te, ein morscher stamm, moosbewachsen, vor dem ein rinnsal ungerührt ver-lief. etwa sechs zentimeter unterhalb des bauchnabels werde die klinge von links nach rechts geführt, sprach ich einem gebet gleich mit bereits angebro-chener stimme lautlos zu mir selbst, im bett den schlaf erwartend, etwa sechs zentimeter unterhalb des bauchnabels muss die klinge von links nach rechts geführt und leicht aufwärts gezogen werden. es hätte nur wenige minuten ge-dauert. das messer, das ich aus der küche am vorabend der zeugnisausgabe nahm, lag in meinem dunkelgrünen rucksack, zwischen brotzeitbüchse und federmappe, ungeschützt.

Eliona Surroi 15:32
Japan bereiste ich nach dem Abitur, vor allem Honshu. In Hiroshima kaufte ich unweit des Hafens in einem buddhistischen Tempel einen Daruma, einen Glücksbringer aus rotem Pappmaché. Er soll den Mönch Bodhidharma dars-tellen, einen Tamilen aus Indien. Der Überlieferung nach habe sich dieser seine Augenlider abgeschnitten, da er während einer Meditation eingeschla-fen sei. Den Darumas aber fehlen nicht nur Lider, sondern auch Pupillen. Ei-ne Pupille wird mit schwarzer Farbe in das rechte Auge gemalt, nachdem ein Wunsch ausgesprochen wurde, die andere in das linke, sobald er in Erfüllung geht. Wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt, werden die Darumas an den Ort ihrer Herkunft zurückgebracht. Im Tempel, in dem sie einst erworben wur-den, werden sie gemeinsam verbrannt. Meiner aber steht neben der Kommo-de auf den Dielen dieses Zimmers. Seine blinden Augen zeigen zu mir. Sie schauen mich an.

Senthil Rajasingham 15:46
vergangene nacht hörte ich arvo pärts ›arbos‹, während ich diesen, unseren nachrichtenverlauf las. als hegel noch in bern als hauslehrer tätig war und bereits beschlossen hatte, die hofmeisterstelle in frankfurt am main bei der familie eines weingroßhändlers anzutreten, die hölderlin, der sich ebendort zuvor schon niederließ, nach einigen erfolglosen versuchen schließlich doch noch ihm hatte vermitteln können, schrieb dieser jenem, dass seine hierher-kunft die vorrede zu einem langen und ungelehrten buche von dir und mir sei.
›an den wassern zu babel saßen wir und weinten‹, ist der name, den pärt dem zweiten stück, dieser sprachloseren sammlung vereinzelter stimmen, im ver-schwinden jenes gebrochenen verses zeilenwärts begriffen, gab, psalm ein-hundertsiebenunddreißig zitierend.
vergesse ich dich, jerusalem, so verdorre meine rechte. meine zunge soll am gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke.
doch kein jerusalem wird uns erwarten, keine hierherkunft vorstellbar sein.

Eliona Surroi 16:04
Ich möchte Dir meine Familie zeigen. Du wirst ein Foto von uns auf meiner Chronik finden. Von links nach rechts: Yllka, Nena, ich und Baba. Es wur-de vor einem Monat im Bergpark Wilhelmshöhe, am Herkules, geschossen.

Senthil Rajasingham 16:10
ihr ähnelt einander.

Eliona Surroi 16:14
Ich sei meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, soll der Arzt nach meiner Geburt gesagt haben.
Sie sagt, man hätte mich im Krankenhaus vertauscht.
Sie und ihre Geschwister durften als Kinder im Wohnzimmer nicht aufrecht gehen, wenn ihr Vater anwesend war. Sie mussten kriechen. Sie durften ihn nie ›Baba‹ nennen. Sie war die einzige Tochter, der es gestattet wurde, zu studieren und ihren Ehemann selbst zu wählen.
Sie war überzeugt, für mehr geboren zu sein.

Senthil Rajasingham 16:17
vielleicht war sie zu mehr geboren, aber hierzu nur nicht berufen.

Eliona Surroi 16:17
Vielleicht war sie zu mehr berufen, aber hierzu nur nicht geboren.

Senthil Rajasingham 17:22
ich habe einige bilder hochgeladen. sie befinden sich in einem album, das nur du wirst sehen können.
sieh dir das erste foto an, das in schwarz und weiß gehalten ist. auf diesem versammelten meine mutter und ihre geschwister sich um einen tisch, auf dem, soweit erkennbar, speisen und andere gaben sich zu befinden scheinen. ein geburtstag könnte der anlass für dieses familienbild ohne eltern gewesen sein. einige gesichter ihrer neun geschwister sind kaum mehr zu erkennen. sie gaben die farben, die sie nie besaßen, an das halbe jahrhundert ab, dessen regungslose zeugen sie waren. sie verblichen so stark, dass die linien und zü-ge, aber auch die schatten aus ihren gesichtern verschwanden. das antlitz mancher indes wurde zerkratzt und trägt ein anderes weiß, ein klaffenderes an jener stelle, an der das unbewegte mienenspiel von kindern sich hätte zei-gen können und vor der erblassung vielleicht auch gezeigt haben mag.
wer könnte sie sein, meine mutter?

Eliona Surroi 17:31
Erste Reihe, zweite von links.
Das kleine Mädchen, dessen rechter Arm auf dem Tisch liegt.
Sicheren Blickes sieht sie weg, dorthin, wo niemand sonst auf dem Bild hin-sieht.
Später wird sie jemanden heiraten, der nicht aus ihrer Kaste stammt.
Ist sie es?

Senthil Rajasingham 17:34
sie war es.

Senthil Rajasingham 17:46
sieh dir das nächste bild an, das in farbe noch gehalten ist. zwei kleinkinder sitzen auf dem schoß eines hellen körpers, auch sie regungslose zeugen. der junge im blauen t-shirt ist einst mein älterer bruder gewesen. seine linke hand umfasst die rechte eines mädchens, das kaum jünger als er zu sein scheint. es trägt rosafarbene socken und eine art rüschenkleid, rosabepunk-tet. das sanfte weiß der hände, das die rechte meines bruders wie eine schlan-ge am genick packt, die linke des mädchens allerdings nur zaghaft zu berüh-ren wagt, gehörte katharina, schwester katharina. ihr kopf fehlt. allein ein bündel kastanienbrauner locken, vom oberen rand in das foto fallend, lässt vermuten, dass jenseits der scharfen bildkanten noch etwas zu erwarten sein könnte. sicheren blickes sieht das mädchen weg, dorthin, wo dessen bruder nicht hinsieht und schwester katharina nicht hinsehen kann. dieses mädchen trug denselben namen, den auch ich erhielt, damals, unausgesprochen und unansprechbar wie es, vielleicht ich, jemand, der solch einen flüchtigeren hauch mit unvorbereiteter stimme zu erzeugen noch nicht fähig war, unter der bauchdecke einer mutter.

Senthil Rajasingham 18:13
meine mutter wünschte sich eine tochter. sie leugnete mein geschlecht. bis zu meinem dritten lebensjahr kleidete sie mich wie manche ein mädchen wohl nur kleiden würden. man hielt mich für eine prinzessin, wie auch sie für eine prinzessin gehalten wurde, damals, in jaffna, zweiundzwanzig jahre vor dieser niederkunft. meine großeltern besaßen zehn kinder. sie war das jüngste. in mir wollte sie sich selbst anschauen, ihr ebenbild erkennen und in demselben zur einheit mit sich, zur reinheit wieder zurückkehren. sie wollte im körper dieses mädchens zurückkehren, zweiundzwanzig jahre zurück, in ein anderes viertel jener stadt, in der sie es gebar, zweiundzwanzig jahre zu-rück, in eine zeit, in der ihre familie sie noch nicht verstoßen und verleugnet hatte. in dieser tochter wollte sie sich berichtigen. in diesem körper hatte ei-ne sünde zu verschwinden.

Eliona Surroi 18:27
Meine Mutter verschwieg mir ihre Schwangerschaft. Sie trug weite Kleider. Ihren Bauch habe ich nie gesehen. Ich kenne ihn nicht. Wenige Stunden nach Yllkas Geburt wurde ich von der Entbindung in Kenntnis gesetzt. Die Hebamme überbrachte mir die frohe Botschaft. Meine Schwester sah aus wie ein Luchs. Ein zartes Fell lag auf ihren Ohren.
Spät, während des Studiums erst sollte ich lernen, was Geschlechtsverkehr bedeutet. Oft heißt es, die Bewegungen meines Körpers seien sinnlich, las-ziv. Ich verstehe nichts davon.
Hier in Deutschland bemalen Mütter ihre Bäuche. Sie lassen sie von ihren Kindern, die ein Geschwisterchen erwarten dürfen, mit bunter Farbe verzie-ren. Sie begrüßen es und küssen den mütterlichen Bauch, diese Spannung der Haut.
Ich würde nie meinem Vater schwanger unter die Augen treten wollen. Ich bin die Tochter meiner Mutter. Auch ich krieche, lernte mich zu verkriechen.

Senthil Rajasingham 18:46
auch in der familie, in die ich hineingeboren wurde, wurde nie darüber ge-sprochen. es gab das verschweigen und den verdacht, dem, plötzlich und un-erwartet, jede unserer rohen regungen ausgesetzt sein sollten, allein das wo-gende geheimnis in den faltenformen jenes körpers, der meiner mutter po-rentief angehörte.
nach den ersten masturbationsversuchen schlug ich am weiß der badezim-merkacheln meine faust wund, jehova um vergebung bittend. kein blut woll-te fließen. die fugen blieben grau.

Eliona Surroi 18:48
Ich habe es nie getan.
Ich tue es nicht.
Wenn sich jemand im Fernsehen küsste, mussten wir umschalten.

Senthil Rajasingham 18:49
oder die augen verschließen, so fest, dass die lider gerade noch das verbrech-en zu beobachten gestatteten; wimpernbehangen.
bis heute weiß ich nicht, was ›miteinander schlafen‹ auf tamil heißt.

Eliona Surroi 18:52
Mit keinem anderen spreche ich über all diese Dinge.
Mit keinem anderen spreche ich.
Ich erwarte die Worte ›jetzt aktiv‹, die gerade unter Deinem Namen stehen, den grünen Punkt, der rechts neben ihm erscheint.
Sie bezeugen Deine Anwesenheit, dokumentieren Deine Wirklichkeit.
Ich schreibe Geschichten in Dich hinein, die ich für mein Leben halte.
Vergiss das nicht.

Senthil Rajasingham 18:56
immer dann, wenn du die leeren seiten dieses fremden körpers beschreibst, schreibt dieser fremdkörper auch in dich hinein. die gegenstände, die wir be-rühren, berühren uns an stellen zurück, an denen wir taub für sie sind. die dinge, die wir sehen, sehen an stellen zurück, an denen wir blind für sie sind. wir fassen sie ins auge. sie stechen uns ins auge. die blendung bleibt unbe-merkt.
wenn du das gewebe, die pixel jener seiten betrittst, betritt ihre vergilbung auch dich: an stellen, an denen wir blind und taub füreinander sind.

Eliona Surroi 18:58
Ich glaube, alles in Dich hineinschreiben zu können.

Senthil Rajasingham 19:05
zu meinem körper besitze ich kein verhältnis. die verneinung eines verhält-nisses allerdings ist immer noch ein verhältnis. schon vor der zunahme der zeichen, die an die abnahme körperlicher fähigkeiten, an das auftauchen ei-nes allmählichen gebrechens unabweisbar gemahnten, lange vor dem verlust jener eingebildeten unverwundbarkeit, an die zu glauben man in seiner ju-gend gewöhnlich geneigt ist, entwickelte ich eine sympathie für die platoni-sche einladung zur entledigung des körpers. diejenigen nämlich, die sich auf rechte art mit der philosophie befassen, mögen wohl, ohne dass es freilich die andern merken, nach gar nichts anderem streben als nur zu sterben und tot zu sein.
sokrates trank den schierlingsbecher unverzagt.

Senthil Rajasingham 19:27
vokalzeichen werden in der tamilischen grammatik ›uyir eluttu‹, ›seelen-buchstaben‹, konsonanten hingegen ›mey eluttu‹, ›körperbuchstaben‹ ge-nannt. die konsonant-vokal-verbindungszeichen heißen ›uyirmey eluttu‹: ›buchstaben mit körper und seele‹.

Eliona Surroi 19:40
Sprichst Du Tamil?
Kannst Du es schreiben?

Senthil Rajasingham 19:52
mit dem eintritt in den kindergarten hätten wir tamil zu sprechen aufgehört. noch heute führen unsere eltern dieses vergessen und verlassen der mutter-sprache, dieses einrichten in die leerzeichen des asyls auf das schwärmen deutscher mädchen zurück, die gefallen an uns gefunden hätten, am unbe-kannten braun der haut und dem ungewohnten schwarz des haars, vielleicht auch an der stummheit dunkler höhlen, in denen augen verschattet und ver-schanzt sich nicht hätten befinden können – selbst vor der flucht aus dem un-geloteten babelschacht des muttermundes, selbst vor der stotternden über-setzung an das asphaltierte ufer einer entfernteren, immer entfernten syntax. ich kann mich an sie nicht erinnern. wenn ich anrufe meiner eltern entgegen-nehmen sollte, bestehen die wenigen laute, die meinen lippen stolpernd ent-kommen, aus einer verlegenen mischung tamilischer, englischer und deut-scher wortschwellen. ich kann ihnen nicht ins wort fallen, ihnen nicht wider-sprechen. es gibt keine sprache, die zu sprechen erlaubte. es gibt nichts zu besprechen.

Senthil Rajasingham 19:58
das einzige wort, das ich in tamil noch schreiben und lesen kann, das einzige wort, das die kraft besaß, zu überdauern, heißt ›amma‹ – mutter. in dem ta-millehrbuch, das meine eltern zu unserem unterricht verwandten, war dies das erste wort, das gelernt werden, das erste wort, das eine kinderhand for-men lernen sollte. mit ihm beginnt die sprache, das sprechen und das schrei-ben gleichermaßen; stimme und schrift stehen in diesem anfang. als kind empfand ich eine vage lust daran, jene buchstaben in bewegten bögen mit zitternder, unzuverlässigerer hand zu zeichnen. das runde ihrer gestalt erin-nerte mich an die maße meiner mutter, schien ihr nachgebildet worden zu sein, ihren körper in einer jeden windung nachahmen, diesem urbild, solch einer reinen idee gleich werden zu wollen. auch diese zeichen trugen saris, deren stoffe je nach windlaut wehten: kugelschreiberschwarze seide, sechs meter lang; die schmuckborte am fußläufigen saum glänzte.

Eliona Surroi 20:32
Ich erinnere mich an früher, an meine Kindheit, 1993. Ich besuchte eine Freundin. Sie lebte in einem Haus mit bewohnbaren Zimmern. Ich ging zu ihr, um mit ihrer Baby Born spielen zu dürfen. Niemand wusste, wo und wie wir lebten, niemand sollte es sehen. Ich lief nach Hause, zurück ins Heim. Meine Mutter schlief. Ich setzte mich auf den Fußboden und rief Yllka zu mir. Sie brachte einen Katalog, aus dem wir Menschen und Möbel heraus-schnitten. Wir bastelten uns ein Zuhause, das bewohnbar sein sollte.

Senthil Rajasingham 21:00
ich erinnere mich an früher, an eine kindheit, undatiert und undokumentiert, neunzehnhundertzweiundneunzig, vielleicht, auch einundneunzig und neun-zig scheinen möglich. ich versteckte mich unter dem esstisch. die decke war größer als die kiefernplatte, auf der sie ausgebreitet lag. ihr glattes material, wahrscheinlich weißgeblümtes plastik, fiel tief herab. es bot eine art schutz vor den blicken der eltern, die schliefen, und der brüder, die fernsahen, ge-währte zuflucht, mir und dem quelle-katalog, der auf meinen oberschenkeln wie auf einem fahlen mahagonifarbenen altar aufgeschlagen ruhte. in dieser sozialwohnung, die die familie, in die ich hineingeboren wurde, nach dem letzten aufenthalt in einem asyllandheim beziehen durfte, saß ich im schnei-dersitz und betrachtete schimmernde haut. meine verschwitzten hände hin-terließen auf dem tonlos glänzenden, vom hellbläulichen, nur schwach abge-schirmten flackern des fernsehers zart beschienenen katalogpapier gewölbte abdrücke, leicht benetzte spuren, die die mit spitze behutsam bekleideten lei-ber beinahe plastisch erscheinen lassen konnten. die kuppen meiner umge-blätterten finger weichten, während ein anderes wasser sich in der mundhöh-le zeigte, die maße jener ebenen bilderkörper fast auf, die zu vermessen und durchmessen ich begehrte, ohne mir über die wildnis dieser begierde im blinden augenblick ihrer unerwarteten ankunft gewahr gewesen zu sein, sie weichten sie beinahe auf, an stellen, an denen eine sammlung gewundenen fleisches sich gewellt mittlerweile zeigte, zentimetergroß, auf einem sofa lie-gend und vor weit geöffneten balkontüren stehend, die die reine gischtlosig-keit eines stillgelegten, wie ein zerknittertes tuch leicht gefalteten meeres jenseits gusseiserner brüstungen versetzt zu sehen erlaubten, eine am hori-zont leicht gekrümmte fläche, gnädig und unbekannt, immerzu.

Eliona Surroi 21:09
Ich erinnere mich an Christophs Glied in meinem Mund. Ich dachte an mei-nen Vater. Meine Mutter hatte Recht, als sie mich bei meinem wahren Na-men rief. Ich zog mich an und lief nach Hause. Ich versuchte ihn auszuwa-schen, fast eine Stunde lang. Ich bat Allah um Vergebung.
Er hat mir nie verziehen.

Senthil Rajasingham 21:14
glaubensgeschwister, die die grundsätze der heiligen schrift verletzten, wer-den von den ältesten, den seelsorgerischen leitern, den aufsehern der ver-sammlung, bezeichnet, werden von ihren glaubensschwestern und glaubens-brüdern, die gottes wort, seinen wahren namen verkündigen, zeugnis von je-hova geben, ›bezeichnete‹ genannt. sie tragen ein zeichen auf ihrer stirn, das sich nicht schließt. nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre blut im munde.
ihr seid meine zeugen, spricht der herr.
es steht geschrieben.

Eliona Surroi 21:22
Ich erinnere mich an Markus, Markus Wahner. Nach der Immatrikulation begab ich mich auf Wohnungssuche. Zwei Wochen waren bereits seit dem Besichtigungstermin vergangen. Er fragte mich, ob ich noch in das Zimmer ziehen wolle. Ich lehnte ab. Wir begannen, einander Nachrichten über Face-book zu schreiben. Er verbrachte ein Auslandssemester in Peru. An meinem Geburtstag erhielt ich einen handschriftlich verfassten Brief von ihm. Die Schleifen seiner Buchstaben ähnelten Schlingen. Ich hing an seinen Worten. Er kam zurück und hielt meine Hand, als ich im Universitätsklinikum auf ei-ne Untersuchung warten musste. Wir fuhren auf seinem Fahrrad zu ihm. Er sang peruanische Kinderlieder. Heute, nach dem Seminar, sah ich ihn aus der Ferne in der Oberstadt. Er stand an der Wasserscheide, an der früher Re-gen- und Abwasser in verschiedene Richtungen gelenkt wurden. Er erkannte mich und gab mir ein Zeichen. Die Finger an seiner erhobenen Hand brachen das Licht der Mittagssonne für wenige Sekunden.

Senthil Rajasingham 21:35
heute morgen besuchte ich einen arzt. in der vornehmen schlichtheit seines sprechzimmers teilte ich ihm mein anliegen mit, während er, den oberkörper leicht nach vorne gebeugt, den kopf auf seiner rechten hand und den ellen-bogen auf dem schreibtisch gestützt, mich mit hellbraunen augen aufmerk-sam anschaute. nachdem ich ihm die gründe, die mich zu diesem besuch be-wogen hatten, darlegte, mich still fragend, ob die kaum merklichen veränder-ungen seiner friedfertigen gesichtszüge mir eine frühe auskunft über seine diagnose wohl verraten könnten, sagte er, eine art freundliches zeichen va-ger verlegenheit in seinem lächeln kurz bekundend, er sei kein pulmologe, sondern internist. er könne mir leider nicht weiterhelfen.

Eliona Surroi 22:02
Weshalb warst Du bei ihm?

Senthil Rajasingham 22:45
ich finde keinen schlaf.
der hausarzt vermutet, eine schlafapnoe, unerwartete atemstillstände könnten ursächlich hierfür sein.

Senthil Rajasingham 23:57
hypnos ist nach hesiod ein bruder des thanatos, nyx, die nacht, war ihre ge-meinsame mutter. einen vater besaßen sie nicht.
der mensch sei so ungern in diese welt gekommen, dass er täglich einer gei-stigen abkehr von mehreren stunden dauer bedarf, um sich von einem sol-chen verhältnis erholen zu können. freud deutete den schlaf als simulation eines pränatalen szenarios, als lichtvergessenes eintauchen in die nacht eines vorweltlichen zustands, der den schattigen anschein erweckt, allem vorge-ordnet, allem übergeordnet zu sein; warm, dunkel, reizarm. das schlafen äh-nele einer flucht in die verwaiste kammer des mutterschoßes, gleiche dem versuch einer erschöpften rückkehr in die vermeintliche uranfänglichkeit dieser mit schwarzem fruchtwasser gefüllten höhle, um in ihr, jenem unbe-tretbaren innenraum, verlassen und verfallen wie er ist, eine befristete auf-enthaltsgenehmigung, obdach für eine gegerbte handvoll stunden in kinds-lage zu erhalten. hier an unserem meerumspülten hesperischen tore soll ste-hen eine mächtige frau mit fackel, deren flamme der eingefangene blitzstrahl ist, und ihr name mutter der verbannten lautet. von ihrer leuchtfeuerhand glüht weltweites willkommen, ihre milden augen beherrschen den luftüber-spannten hafen, den zwillingsstädte umrahmen. gebt mir eure müden, ruft sie mit stummen lippen, eure armen, den elenden unrat eurer gedrängten küsten, schickt sie mir, die heimatlosen, vom sturme getriebenen.
jedes erwachen sei eine geburt, ist ein auftauchen, eine niederkunft, ein sturz.
einen vater besitzen auch wir nicht.