"Vom Lautwerden der Literatur"
"Gelegentlich treffe ich Leute, die mir bezüglich der Durchführung des Wettbewerbs um den Bachmannpreis Verbesserungsvorschläge machen. Besser sagte ich vielleicht: Dauernd treffe ich Leute, die mir bezüglich der Durchführung des Wettbewerbs um den Bachmannpreis Verbesserungsvorschläge machen. Und eigentlich sollte ich wahrheitsgemäß sagen: Alle Leute, die ich treffe, machen mir bezüglich der Durchführung des Wettbewerbs um den Bachmannpreis unablässig Verbesserungsvorschläge.
Zu diesen Verbesserungsvorschlägen gehört es auch immer wieder, die vollständige Lesung des zur Debatte stehenden Textes abzuschaffen. Denn erstens, sagen die Einbringer der Verbesserungsvorschläge, erstens spare man so Zeit, könne länger diskutieren oder gegebenenfalls auch mehr Kandidatinnen und Kandidaten zum Zuge kommen lassen. Die Texte selbst seien ja übers Internet zu erhalten, und, so die Verbesserer, wer kein Internet habe, der kenne doch wenigstens einen, der eins habe, und wenn er nicht einmal einen solchen kenne, dann sei er vermutlich kein Mensch, der sich wirklich für Literatur und erst recht keiner, der sich für den Bachmannpreis ernsthaft interessiere. Basta.
Zweitens, so die Verbesserer, und dann bekommen sie immer so einen besonders gerechten Zug um die Mundwinkel, zweitens sei ja der Umstand, dass der Autor bzw. die Autorin seinen bzw. ihren Text selbst vorlese, ihm, also dem Text, nicht immer zuträglich, sondern im Gegenteil; bzw., so die Verbesserer, werde durch die unterschiedliche Qualität der Vorträge dem einen Text etwas hinzugefügt, dem anderen aber etwas genommen, was auf eine Ungerechtigkeit hinauslaufe. Und auch wenn Ungerechtigkeiten, so die Verbesserer, beim Wettbewerb um den Bachmannpreis nichts Seltenes, sondern möglicherweise sogar die Regel seien, müsse man doch alles tun, um solche Ungerechtigkeiten nach Möglichkeit zu reduzieren.
Während die Verbesserer so reden, pflege ich zu nicken wie ein Wackeldackel auf der Hutablage. Aber das bedeutet nicht, ich würde zustimmen. Im Gegenteil.
Für mich sind die live übertragenen Lesungen ein wesentlicher Bestandteil beim Wettbewerb um den Bachmannpreis. Zum einen, weil sie nachdrücklich an das Vorlesen von Mensch zu Mensch als einen kulturellen und sozialen Akt erinnern, der allmählich ins Vergessen zu geraten droht. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich habe nichts, rein gar nichts gegen Hör-CDs einzuwenden. Hör-CDs sind etwas sehr Schönes. Aber wenn ich lese, dass in 40 % der deutschen Haushalte Kindern nicht mehr vorgelesen wird, dass also 40 % der deutschen Kinder Texte nicht mehr kennen lernen als etwas, das in einem sozialen Akt vermittelt wird, sondern – bestenfalls – als etwas, das als Konserve erscheint und also immer Gefahr läuft, bloß konsumiert zu werden, wenn ich das höre, dann bin ich froh über jede Erinnerung ans Vorlesen als die Begegnung von Sprecher, Text und Hörer, ans Vorlesen als diesen auratischen Akt, wie er hier im Wettbewerb um den Bachmannpreis praktiziert, ja zelebriert wird.
Und zweitens möchte ich hier in Klagenfurt nie und niemals darauf verzichten, die Autorin oder den Autor den eigenen Text sprechen zu hören. Nicht dass es darum ginge, den Vortrag als solchen zu beurteilen und dieses Urteil als B-Note für die Performance in die Bewertung des Textes einzubeziehen. Das würde nur dazu führen, dass immer der im Vorteil wäre, der entweder eine Sprechausbildung absolviert hat oder von der Natur mit einer einschmeichelnden Stimme ausgestattet ist.
Nein. Das nicht. Aber wenn ein Autor seinen eigenen Text liest, dann ist es, als würde ein Komponist seine eigene Komposition spielen und sie dabei im doppelten Wortsinne interpretieren. Er oder sie mag kein Virtuose am Instrument Stimme sein. Aber wenn man bereit ist, sich auf die Interpretation des Autors ein wenig einzulassen, dann kann man viel über den Text erfahren, viel über das Bewusstsein, aus dem er entstanden ist und auch einiges über seine Hoffnungen und Absichten.
Und schließlich noch dies: Die ausführlichen Lesungen beim Wettbewerb um den Bachmannpreis versichern uns immer wieder der Körperlichkeit von Literatur. Sie erinnern uns als Leser daran, dass die gedruckten Texte auch eine Stimme haben. Und nur wenn wir ihnen beim stillen Lesen eine Stimme in unserem Kopf geben, entfalten sie sich zu dem, was sie sein können.
Und deshalb sage ich den Verbesserern jetzt endlich offen, dass ich für keinen ihrer eben erwähnten Verbesserungsvorschläge bin und mir hingegen sehr wünsche, der Wettbewerb um den Bachmannpreis möge auch in Zukunft laut sein und laut bleiben".