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Jochen Schmidt
Abschied aus einer Umlaufbahn
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Es gibt viele Gründe, die Erde zu verlassen, aber wenig Mittel. Das Schöne an der Schwerelosigkeit ist, daß man in ihr so wenig Menschen begegnet. Ich hatte schon immer gehofft, meine Gedanken im Weltraum ordnen zu können, seit ich mich als Kind flach ins Gras zu legen begann, um den Blick in den leeren Himmel zu tauchen und mich auf die wesentlichen Erkenntnisse zu konzentrieren, die ich in mir vermutete. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre in eine Zeit ohne bemannte Raumfahrt geboren worden, ich hätte ein falsches Leben geführt. Natürlich kann ich nicht wissen, ob ich nicht auch jetzt ein falsches Leben führe, weil meiner Zeit für das, was ich eigentlich bin, noch die Vorstellung fehlt. Wie jemand, der nie erfahren wird, daß er der Erfinder der Hängematte sein könnte, weil er in einer Gegend lebt, in der die Bäume nicht nah genug beieinanderstehen. Wenn ich uns am Abend in den Verkehrsmitteln sah, wo wir nicht das Recht genossen, uns wenigstens in den Kurven aneinanderzulehnen, kam es mir manchmal vor, als seien wir Geiseln, um deren Auslösung sich niemand mehr bemüht. Ich begrüße es natürlich, wenn die Menschen zu erschöpft sind, mich zu beachten, mit allem anderen habe ich schlechte Erfahrungen gemacht.
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Wir wissen, daß es bei Kosmonauten wegen der auf Langzeitflügen verzögerten Kommunikation zu depressiven Störungen kommen kann. Durch die Entfernung von Sender und Empfänger vergehen zwischen Mitteilung und Antwort mehrere Stunden, was die Neigung zum Monologisieren stärkt. Man ist deshalb angehalten, Aufzeichnungen zu machen, weil man beim Schreiben mit der Welt in Kontakt tritt, die einem über die Schulter sieht, auch wenn man nicht mit einer Veröffentlichung rechnet. Es gibt ja in Wahrheit keinen geschriebenen Satz, der sich nicht an die ganze Menschheit richten würde. Der Inhalt meiner Aufzeichnungen spielt allerdings keine Rolle, es geht mir lediglich darum, Veränderungen in meiner Handschrift festzustellen, wie sie bei Persönlichkeitsstörungen aufgrund von Extremerfahrungen auftreten. Da ich mich nun schon so lange in der Isolation befinde, fehlt mir der Vergleich. Nur ein paar Dutzend Mäuse leisten mir Gesellschaft, aber daß ich mit denen gut auskomme, muß nichts heißen. Es ist bedauerlich, daß ich so niedergeschlagen bin und soviel Kraft darauf verwenden muß, die Einsamkeit zu ertragen und meine Experimente nicht zu vernachlässigen. Auf der Erde habe ich meine Stimmungsschwankungen mit Disziplin bekämpft, was mich ja letztlich zum Kosmonauten qualifiziert hat. Wenn man immer in allem der beste ist, findet man sich zwangsläufig irgendwann in einem Raumschiff wieder. Große Leistungen hatten für mich immer etwas Bedrückendes, weil ich an die Entbehrungen denken mußte, denen sie sich verdankten. Ich habe versucht, den Empfehlungen auf emotionale Fragen spezialisierter Ratgeber zu folgen, einen Baum zu umarmen, ein Sternbild zu suchen, oder das Gesicht unter eine Wasseroberfläche zu tauchen. Diese Übungen gaben mir aber nur ein Gefühl von Vergeblichkeit. Meine Einsamkeit war ja kein Defekt, sondern eine Konsequenz der für meine wissenschaftlichen Aufgaben erforderlichen Konzentration. Es ist kein Zufall, daß sich für einen Kosmonauten vorwiegend Kontakte mit Kosmonautinnen ergeben, es scheint auf die Dauer praktikabler, wenn der Partner die eigenen beruflichen Sorgen und Nöte nachvollziehen kann. Ich will niemandem erklären müssen, warum ich das Weltall liebe. Die Frage ist, ob man Kosmonaut wird, weil einem menschliches Glück nicht genügt, oder ob einem menschliches Glück nicht genügt, weil man Kosmonaut ist. Tatsache ist, daß überdurchschnittlich viele meiner Kollegen als Alkoholiker geendet sind, sich das Leben genommen haben oder beim Versuch, sich unsterblich zu machen, auf ungeklärte Art verschollen sind. Wir eignen uns nicht als Vorbild. Man muß nur meine Labormäuse sehen, deren Verhalten in der Schwerelosigkeit ich studieren soll. Meine Einsamkeit scheint sie anzuregen, sich noch hartnäckiger als auf der Erde fortzupflanzen. Die Bodenstation wäre begeistert und würde es auf die Mutationen zurückführen, die ich an ihnen vornehme, bzw. auf die Zentrifuge, mit der für die Weibchen Gravitation simuliert wird, was die Befruchtung wahrscheinlicher macht. Dabei liegt es an mir. Ich hatte schon immer diese Ausstrahlung auf andere, oft waren sich zwei Kollegen auf einer Kongreßparty unschlüssig, und erst mein Erscheinen löste bei ihnen die Spannungen und sie verliebten sich, während ich, um dem Gespräch mit einer Festkörperphysikerin länger standhalten zu können, Anagramme aus ihrem Namen bildete, der auf einem kleinen, mit einer Sicherheitsnadel über ihrer Brust befestigten Schildchen zu lesen war. Das Glück anderer Menschen ist schwer zu ertragen, auch wenn man weiß, daß es auf Beschränktheit beruht. Eine Änderung meiner Wohnsituation hätte vielleicht eine Lösung sein können. Ich hatte, wenn jemand bei mir klingelte, ja immer das Bedürfnis, noch schnell etwas zu erledigen, eine Pflanze umzutopfen, ein Buch zu überfliegen, oder meine Möbel neu anzuordnen. Das wäre mir möglich gewesen, wenn ich im obersten Stock eines hohen Hauses gewohnt hätte, wo zwischen dem Klingeln an der Haus- und dem Klopfen an der Wohnungstür eine möglichst lange Zeit vergangen wäre, vielleicht sogar Jahre. Dann hätte man sich in Ruhe seiner Arbeit widmen können, man wäre ja nicht einsam, der Besuch war schon unterwegs. Und gerade noch rechtzeitig, bevor man stirbt, steht der Freund vor der Tür, den man die ganze Zeit im sicheren Gefühl seines Kommens erwartet hat. Man hat sein Leben in Gesellschaft verbracht und war doch ungestört.
Die psychische Belastung von Kosmonauten nimmt zu, sobald sie die Erde nicht mehr sehen. Es ist ein eigenartiges Phänomen, da die Evolution uns nicht auf das Bild des in der Ferne verschwindenden Heimatplaneten vorbereitet haben kann. Um mich dieser Streßsituation auszusetzen, hat man mich angewiesen, die der Erde zugewandten Bullaugen der Station zu verhängen, ich kann nur durch die Öffnungen gegenüber in die ewige Nacht sehen. Genau genommen wirkt es, als würden mich unentwegt zwei schwarze Augen anstarren. Beim Stöbern in der Schreibtischschublade habe ich mein altes Spielzeugmodell des Apollo-Sojus-Projekts entdeckt, mit dem Docking-Modul, das nur einmal benutzt worden ist, als die Raumschiffe beider verfeindeten Nationen in Erinnerung an die Begegnung ihrer Truppen am Ende des zweiten Weltkriegs genau über Torgau zusammenkamen. Eine der Überraschungen, mit denen man rechnen muß, wenn man für die Raumfahrtbehörde arbeitet, war, daß ich zwar auf der Erde ein halbes Jahr in einem Modell der Station zugebracht habe, um mich an ihre Dimensionen zu gewöhnen und irgendwann fähig zu sein, mich blind in ihr zu orientieren, daß ich mich aber bei meiner Ankunft im Orbit in einer weitgehend originalgetreuen, wenn auch etwas kleiner dimensionierten Kopie meines Kinderzimmers wiedergefunden habe. Zwischen diesen Wänden bin ich damals, vor Freude platzend, ganze Nachmittage lang grundlos hin und hergerannt. Diesen Grad von Einverständnis mit meiner Existenz habe ich nie wieder erreicht.
Ich bin in der Ausbildung auf jeden erdenklichen Zwischenfall vorbereitet worden, aber man hat mir nicht gesagt, wie ich den Monitor ausschalten kann, über den ich die Bilder von der Bodenstation empfange. Nicht, daß sie mich beobachten, stört mich, sondern die Plumpheit ihrer Versuche, mich emotional zu beeinflussen. Gestern waren meine Eltern zu sehen, die offenbar benachrichtigt worden sind, weil man sich Sorgen um meinen Zustand macht. Es war nicht leicht für mich, der Versuchung zu widerstehen, ihnen zu antworten, was keinem von uns helfen würde. Was steckt hinter der Hartnäckigkeit, mit der uns die Überlebenden am Sterben hindern wollen? Wie kann man mir wünschen, auch nur einen Tag länger zu ertragen, was sich vor dem Start in mir abgespielt hat? Körperlich habe ich aufgrund des harten Kosmonautentrainings und meiner disziplinierten Lebensweise eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Doryphoros des Polyklet erreicht, nur daß ich mir nicht das Schamhaar frisiere. Ich kann meine Beine beim Klimmzug anwinkeln und minutenlang in der Waagerechten halten. Wenn es mich kennen würde, könnte mein Kind darauf Platz nehmen, um sich noch im Alter daran zu erinnern. Obwohl ich so attraktiv bin, habe ich eine so unschuldige Seele, daß es mich selbst rührt. Mein Ehrgeiz war es immer, mehr Kummer zu empfinden als diejenigen, denen ich Kummer bereitete. Sobald man seine Einsamkeit verläßt und sich einem Menschen zuwendet, betritt man eine Welt, in der es weder Gerechtigkeit gibt noch Unschuld, es ist wie in einem Bürgerkrieg, man ist gezwungen, sich zu einer Seite zu bekennen, sonst gilt man allen als Feind. Ich hätte mich für Janda entscheiden können, die mir verfallen war, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, in ihr das Ende meiner Reise zu sehen. Nach so langem Warten hatte die fiktive Figur der Erlöserin einen geradezu religiösen Charakter angenommen. Außerdem habe ich mich in der Zeit meiner Zweifel, wie mir später klar wurde, innerhalb von Sekunden in Lena verliebt, als mir durch Nuancen in ihrer Wortwahl bewußt wurde, daß ihre Seele für mich verschlossen bleiben würde. Ich habe die Tatsache, daß nicht alle Menschen sind wie ich, nie ganz begreifen können und auch Lena falsch eingeschätzt. Bis dahin hatte ich sie für den Schmerz bedauert, den ich ihr mit meinem Nachgeben auf ihr hartnäckiges Werben bereitet hätte. Plötzlich war ich Opfer einer quälenden Unruhe und mußte zur Ablenkung immer wieder in die Zentrifuge steigen. Es war nicht das erste Mal, daß ich Probleme hatte, meine Emotionen zu beherrschen, selbst der Behörde war dieser Mangel in meiner Persönlichkeitsstruktur bekannt.
Die Mehrheit glaubt, theoretische Physiker, Mathematiker, Schachspieler oder Altphilologen seien emotional verarmte Menschen, weil sie Freude an Abstraktion und symbolischen Operationen empfinden. Ich bin vom Gegenteil überzeugt: wir können unseren Gefühlen so wenig trauen, daß wir ein starkes Gegengewicht brauchen. Es ist ein Irrtum, den Dichtern eine besondere romantische Kompetenz zuzuschreiben, ein Irrtum, von dem sie natürlich profitieren. Menschen wie ich flüchten sich zu den Rätseln der Technik, um sich nichts anzutun. Ohne den sachlichen Rausch der Technik hätte ich längst aufgegeben. Will man die technischen Möglichkeiten seiner Epoche nutzen, muß man die Handbücher studieren, es erfordert Beharrlichkeit, sich das Leben zu erleichtern. Eine Brille erklärt sich ja noch von selbst, man setzt sie auf und ist ein Cyborg, halb Mensch, halb Maschine. Aber schon ein Taschenmesser übersteigt unsere Vorstellungskraft, es ist unwahrscheinlich, daß man im Lauf seines Lebens in alle Situationen gerät, die die Funktionen eines Messers erforderlich machen würden. Schon als Kind hat es mich irritiert, daß sich für den gelochten Dorn an meinem Schweizer Offiziersmesser, das mir mein Vater als Belohnung für meinen ersten Segelflug geschenkt hatte, keine Gelegenheit zur Anwendung ergab, oder daß ich mir ihrer nie bewußt wurde. Manche hielten ihn für eine Ahle zum Reparieren von Schuhwerk oder zum Einfädeln von Schnürsenkeln, aber meine Schuhsohlen waren geklebt, und ich hatte Klettverschlüsse. Und im Westen hatte man längst Schnürsenkel entwickelt, die sich problemlos einfädeln ließen, weil ihre Spitzen mit einem kleinen Plasteröhrchen vor dem Aufdröseln geschützt waren. Die Evolution der beiden Gesellschaftssysteme hatte dazu geführt, daß sie in solchen Details divergierten, das System mit den präparierten Schnürsenkelspitzen hat sich als überlebensfähiger erwiesen.
Manche Menschen gehen nie an ihre Grenzen, sonst würden sie mich dort stehen sehen. Wenn eine Frau behauptet, mich nicht zu lieben, zweifle ich immer am Grad ihrer Selbsterkenntnis. Auch Lena konnte mir keinen plausiblen Grund dafür nennen, daß sie sich nicht für mich entscheiden wollte, für eine Astrophysikerin drückte sie sich sogar ziemlich esoterisch aus, in einer von Begriffen aus der Meteorologie geprägten Sprache. Ihre Instinkte seien neblig, sie fühle sich emotional vereist und könne sich nicht öffnen, seit eine unerwiderte Liebe wie ein Hurrikan über sie hinweggefegt sei. Mein erster Impuls war, ihr die Hand auf die Stirn zu legen, um sie von ihrer Unfähigkeit zu erlösen, Gefühle für mich zu empfinden. Es war mir nie möglich, aus ihrem Anblick auf ihre Innenwelt zu schließen, ebensogut hätte man versuchen können, in den Gesichtern der Urmenschen schon die Raumstation zu erkennen, die ihre Nachkommen einmal bauen würden. Lena hatte mich jahrelang aus der Ferne beobachtet und meine Publikationen über die psychischen Risiken von Langzeitflügen studiert, ohne zu wagen, mit mir in Kontakt zu treten, vielleicht auch, weil sie mich unerkannt bewundern wollte, so wie ein Attentäter die Zeit mit seinem ahnungslosen Opfer genießt. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß sie Physikerin geworden ist, um in meine Nähe zu kommen. Aber sobald sie ihr Ziel erreicht und meine Nerven sich unumkehrbar auf sie eingestellt hatten, zog sie sich zurück. Ich glaube, ich habe das schon im ersten Moment geahnt und eine fatale Sehnsucht hat mich in ihre Arme getrieben, wie in eine unbekannte Galaxie. Man muß sich Ziele setzen, die einen überfordern, sonst bleibt man im Mittelmaß stecken, so bin ich leider erzogen worden.
Warum erwarten sie, daß ich mit ihnen kommuniziere, wenn sie alle Daten über meine Körperfunktionen übermittelt bekommen? Der Dreck an unseren Schuhen enthält mehr Information als unser Reisetagebuch. Selbstverständlich würden Außerirdische sich bei einer Begegnung mit uns kaum für unsere geistigen Leistungen interessieren, sondern eher für den Salzgehalt unserer Nieren, weil er dem des Urmeers entspricht, aus dem wir stammen. Anfangs war es mir unangenehm, meine sexuellen Regungen beobachtet zu wissen, die sich nicht unterdrücken ließen. Aber schließlich hat die Professionalität gesiegt, ich bin hier nicht als Individuum, sondern als Datensonde. Tatsächlich leide ich unter unkontrollierbaren Schüben von Begehren, die mich von meinen Experimenten ablenken und meine Aufmerksamkeit immer wieder in Tagträume abgleiten lassen. Es ist immerhin tröstlich, daß sich damit in meinem Beruf ein wissenschaftliches Interesse verbindet, denn im privaten Bereich haben mir diese Zustände nie etwas genützt. Ich muß sagen, ich bin inzwischen nicht mehr sicher, ob ich wirklich dazu beitragen möchte, unser quälendes Verlangen nach Dingen, die weit unter unserem geistigen Niveau liegen, in die Weiten des Weltraums zu tragen. Was mir geholfen hat, war die Empfehlung eines Freundes, der als Manager oft auf Reisen ist. Viele seiner nomadisierenden Kollegen rasierten sich vor der Abfahrt ein Bein, man habe dann das Gefühl, neben einer Frau zu liegen, was der Einsamkeit langer Nächte in Hotels die Spitze nimmt.
Die Beziehungen zwischen Menschen werden überschätzt, wo uns doch Dinge viel mehr Trost spenden. Ich weiß natürlich, daß es ein Symptom meiner Situation ist, wenn ich mich auf enervierend manische Weise mit allen greifbaren Artefakten befasse. Man muß den Dingen mit Respekt begegnen. Ich glaube, ich könnte eher einen Menschen töten, als ein defektes Gerät wegwerfen. Manchmal schaffe ich es nicht einmal, ein Gerät abzuschalten, ich finde, das steht mir nicht zu. Was ich an Geräten schätze, ist, daß sie handlich wirken, wenn sie in die Hand genommen werden wollen, es gibt keinen Raum für Fehlinterpretationen. Raumstationen gehören zu den Geräten, in denen man sich aufhalten kann, aber im Grunde sind sie auch nichts anderes als Taschenmesser. Ihre bekannteste Funktion ist sicherlich die Möglichkeit, die Erde von außen zu betrachten, wofür man auf dem Weg der Meditation Jahre brauchen würde. Aber ist man dieser exzentrischen Erfahrung überhaupt gewachsen? Daß man in die Kirche geht, macht aus einem ja so wenig einen Christen, wie man ein Auto wird, wenn man eine Garage betritt. So lautete eine indianische Weisheit in meinem Poesiealbum. Daß Indianer sich so ausdrücken sollten, wunderte einen nicht, auch wenn man nie mit einem gesprochen hatte. Ob wir unsere Weltsicht in den Poesiealben der Indianer auch so formulieren? Daß man sich in der Erdumlaufbahn befindet, macht aus einem so wenig einen Kosmonauten, wie man ein Indianer wird, wenn man sich an etwas heranschleicht. Ein Kosmonaut ist, wer bereit ist, sein Leben seiner Fortbewegungsart zu opfern. Solange man auf Reisen noch mit einer Rückkehr rechnet, ist man ja im Grunde noch zu Hause. Es ist wie bei dieser Therapieübung, bei der man sich rückwärts von einem Tisch fallen läßt, im Vertrauen, die anderen Kursteilnehmer würden einen auffangen. Wirklich aufzubrechen heißt doch, sich fallen zu lassen, obwohl einen niemand auffangen wird, nicht einmal eine Gruppe Depressiver. Man hat ja immer noch die Hoffnung, nie aufzuschlagen, zumindest für die Zeit des Sturzes. Was Hoffnung ist, versteht man doch erst, wenn es keinen Grund mehr gibt, welche zu haben. Ich bin wahrscheinlich noch nicht in der Lage, eine solche, meines gegenwärtigen Aufenthaltsortes würdige Haltung zu vertreten, ich habe mich noch nicht vom mir angeborenen Selbsterhaltungstrieb emanzipiert. Unsere Liebe zum Leben ist wie eine alte Liaison, von der wir nicht loskommen können. Vielleicht bin ich noch nicht lange genug allein. Es ist bedauerlich, daß ich beim Stand meiner Kenntnisse über das Universum so stark unter Emotionen leide, die zur Lösung meiner Aufgaben nichts beitragen. Es will mir noch nicht gelingen, diesen Abschnitt meines Lebens aus der Perspektive eines Toten zu betrachten.
Fast hatte ich befürchtet, meine Aufzeichnungen beenden zu müssen, weil kein Platz mehr an den Wänden war, aber ich habe in einer Schublade eine Schreibtafel gefunden, die ich allerdings immer wieder abwischen muß. Ich habe als Kind von einem Tag auf den anderen begonnen, Druckschrift zu schreiben, weil ich es befriedigender fand, wenn jeder Buchstabe ein Kästchen für sich hatte, deshalb hat sich meine Schreibschrift seitdem nicht weiterentwickelt und sieht immer noch aus wie die eines Kindes. Ich bin darin sehr ungeschickt, es dauert viel länger und mir fallen wieder die Vorgaben der Lehrer ein. Bis jetzt habe ich es auch noch nicht über mich gebracht, die Orthographie zu mißachten, der Zwang richtig zu schreiben, erweist sich als erstaunlich stark.
Eine Frau, die man verloren hat, ist wie ein Sternbild, an dem man seine Position sein Leben lang ausrichten wird. Erst nachträglich erfuhr ich, daß der Grund für Lenas plötzliche Zurückhaltung Marc gewesen war, von dem ich wußte, daß er ebenfalls ihretwegen litt. Bei ihm ging es so weit, daß er sich nicht mehr wusch und Labortiere quälte. Sie hatte mich anscheinend gebraucht, um sich für ihn entscheiden zu können. Ich war für die Mission als Marcs Ersatzmann vorgesehen gewesen und hatte es nach meiner Begegnung mit Lena nicht mehr eilig gehabt, ihn von seinem Platz im Raumschiff zu verdrängen. Aber plötzlich war der Plan geändert worden und ich hatte fliegen sollen, eigentlich eine Auszeichnung. Muß man es nicht als akute psychotische Episode bezeichnen, wenn jemand wie ich, der sein Leben lang von solch einer Chance geträumt hat, sobald sie sich ihm bietet, keine Freude empfindet? Was für eine Befriedigung muß es dagegen für Marc bedeutet haben, zu verfolgen, wie ich mit der Energie von 20 Atombomben in den Orbit katapultiert wurde. Jetzt befinden sich die beiden alle 89 Minuten genau unter mir. Ich ziehe dann immer den Kopf ein, damit sie mich nicht durchs Bullauge sehen und sich einbilden, ich beobachtete sie. Dabei ist das Bullauge verhängt. Ich kann nichts dafür, wenn ich mich so lächerlich verhalte, manche Dinge sind einfach dem Umstand geschuldet, daß ich ein Mensch bin.
Da ist wieder die Bodenstation, sie haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ich sehe ihre besorgten Gesichter, den Projektleiter und den technischen Stab, sogar Lena kann ich erkennen. Obwohl ich ununterbrochen an sie gedacht habe, hatte ich mir ihr Gesicht nicht mehr ins Gedächtnis rufen können. Es macht mir nichts aus, daß sie mich sehen können. Es ist sogar angenehm, ihre Stimmen zu hören, ohne antworten zu müssen. Ich habe nicht das Gefühl, daß die Distanz zwischen uns größer wäre als am Boden. Es ist nur einfacher für mich, schon weil ich schwebe. Ich habe immer gerne rückwärts durch Ferngläser gesehen. Nachdem ich bei den traditionellen Neujahrsgrüßen aus dem Orbit geweint habe, wurde die Fernsehübertragung abgebrochen. Die Tränen eines Kosmonauten scheinen mehr zu schockieren als sein Tod. Sie haben Angst um ihre Raumstation. Man muß loslassen können. Der Projektleiter bedient sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, einer Reihe klassischer rhetorischer Figuren, um mich zu manipulieren, ein Grund mehr, nicht darauf einzugehen. Es würde so aussehen, als sei ich zur Vernunft gekommen, und das würde die Reinheit meiner Geste verwässern. Damit wäre niemandem gedient. Ich durchlebe einen emotionalen Prozeß, den man nur nachvollziehen kann, wenn man ihn durchlebt, für Außenstehende bin ich gestört. Selbst mir fällt es schwer, mich länger als für Sekunden in mich hineinzuversetzen. In solchen Momenten weiß ich genau, was ich hier mache, und dann kommt es mir besonders überflüssig vor, es zu erklären. Ich könnte mich den Berichten aus großer Gefahr Geretteter anschließen, die so gern die Gelassenheit beschreiben, die ihnen diese Erfahrung geschenkt hat. Leider verrät man seine mystischen Einsichten, sobald man zurück in der Zivilisation ist, der anästhesierende Einfluß der Gewohnheit. Sich gegen die Verführungen zur Bequemlichkeit aufzulehnen, mit denen das moderne Leben uns umschmeichelt, ist eine Sisyphusarbeit, die einem in der Antarktis vermutlich leichter fällt.
Damit hatte ich rechnen müssen, sie haben Janda und das Kind ausfindig gemacht. Ich sehe das Mädchen zum ersten Mal, es greift nach der Kamera. Ist meine Rührung mehr als mein Neid darauf, daß eine reduzierte Selbstreflexion ihm ein poetisches Dasein erlaubt? Ich habe Janda damals verlassen, weil ich es für unmöglich hielt, mein Ziel, Kosmonaut zu werden, mit einer Familie zu vereinbaren. Ich hätte vielleicht in einem kritischen Moment die falsche Entscheidung getroffen und die Mission gefährdet. Ich weiß nicht, ob das ein Fehler war. Es ist schön, im Weltraum zu sein, das darf man nicht vergessen. Man kann nicht alles haben. Ich hatte nie Angst zu sterben, aber es war immer eine beunruhigende Vorstellung, unersetzlich zu sein.
Wenn ich bei Janda geblieben wäre, hätte ich mich nicht in Lena verliebt, und das Gefühl, Lena zu lieben, hatte unabhängig von meinen Gefühlen für Janda, eine Existenzberechtigung. Hat es in mir überwintert, wie eine Spore, und nur auf günstige Bedingungen gewartet, um zu keimen? Wieviele dieser Sporen trägt man in sich? Zeitweise war meine Erschütterung so stark, daß ich für Lena am Boden geblieben wäre, aber dann habe ich gerade daraus die Kraft geschöpft, die Erde mit einem Gefühl der Erleichterung zu verlassen. Jede Entscheidung, die wir treffen, ist ein Todesurteil für eine unendliche Zahl von Leben, die wir hätten führen können. Aber das Faszinierende an Lebensgeschichten, wie überhaupt an allen Geschichten, ist die Würde, die ihnen der Verzicht verleiht. Nur daß es mir selbst immer verhaßt war, mich entscheiden zu müssen. Wenn ich an einem Sommertag durch die Stadt spaziert bin und wieder einmal den Eindruck hatte, daß überall, wo ich vorbeikam, die Rolläden geschlossen wurden - wo doch Spazieren schon so keine leichte Aufgabe war-, dann war ich dankbar über jede rote Ampel, weil sie mich für ein paar Sekunden von der Verpflichtung befreite, mich für eine Richtung entscheiden zu müssen. Sonst fragt man sich ja an jeder Kreuzung, wohin man sich wenden soll. Ich stand deshalb manchmal minutenlang bewegungslos da und wog ab. Was ich da mache, wollten die Leute wissen. "Ich warte, die Ampel ist rot." "Da ist doch gar keine Ampel." "Doch, an der Hauptstraße." "Aber die sieht man doch von hier gar nicht." "Ja, aber ob ich nun hier warte oder dort, das spielt doch keine Rolle." Man müßte einfach immer geradeaus gehen können, wie dieser Sänger, dessen Video-Clip mir vor dem Start zur Beruhigung auf den Monitor eingespielt worden ist. Ich glaube, ich habe das sogar schon in mehreren Video-Clips gesehen, es scheint zum rhetorischen Inventar dieser Ausdrucksform zu gehören. Vielleicht spricht aus diesem Bild ein tiefes Bedürfnis unserer Kultur. Der wahre Held muß sich nie für eine Richtung entscheiden, er geht immer geradeaus und biegt mit seiner Willenskraft den Raum.
In ihren letzten Durchsagen hat die Zentrale ein eher hilflos wirkendes Szenario entworfen. Ich könnte unwissentlich Teil eines Experiments sein, dessen Verlauf in jedem Fall geglückt wäre, egal, wie ich mich verhalte. Da man meine Persönlichkeitsstruktur kannte, hätte man den Zeitpunkt meiner emotionalen Affizierung durch Lena abgewartet, um mich in diesem Zustand zur Station zu schicken und die Auswirkungen der Isolation auf meinen Gefühlshaushalt zu studieren. Demnach wäre es mein Schicksal, Erkenntnisse zu liefern, egal, was ich tue. Der Gedanke, man könnte Vergleiche zwischen meinem Fall und dem anderer Individuen ziehen, ist mir unerträglich. Dabei ist jeder ersetzbar, das war einer der Leitsprüche aus der Raumfahrtakademie. Es hat so lange gedauert, hier anzukommen, und es hat mir alles abgefordert. Ich bin kein schlechter Mensch, aber wahrscheinlich bin ich der einzige Zeuge dieser Tatsache. Andererseits bin ich vielleicht dazu verurteilt, das zu denken, es ist schon schwer genug für die Angehörigen eines Verbrechers, zu begreifen, daß ihr Verwandter ein Monster ist, wie soll das dann dem Verbrecher selbst gelingen? Vielleicht ist man schon deshalb ein schlechter Mensch, weil man denkt, man sei keiner? Vielleicht sind nur Menschen, die sich für schlechte Menschen halten, gute Menschen? Ich bin nicht Kosmonaut geworden, um Kompromisse zu machen. Wenn man eine Krise durchlebt, will man allein sein, das wird jeder verstehen. Und die so plötzlichen und heftigen Gefühle für Lena müssen als Krise interpretiert werden, als Fluchtreflex meiner tieferen Bewußtseinsschichten vor den Konsequenzen meines Berufs.
Einige der Mäuse sind genetisch manipuliert, ein Rezeptor für einen Nervenbotenstoff fehlt ihnen, sie sind deshalb risikofreudiger und kommen öfter ans Licht. Es heißt auch, sie seien weniger depressiv. Ich habe die Kamera auf das Labyrinth gerichtet, damit die Bodenstation sie weiter bei der Fortpflanzung beobachten kann. Es ist Zeit, meine letzte Mahlzeit einzunehmen, mir bleibt noch eine Tube Sosiski, wobei mir jetzt einfällt, daß ich seit meiner Jugend weiß, was Sosiski heißt. Es ist schön, wenn das erworbene Wissen im Lauf des Lebens zur Anwendung kommt. Manches wird natürlich für immer überflüssig bleiben, völlige Deckung zwischen den Situationen, in die man im Leben noch geraten wird, und dem Wissen, das man bisher nicht gebraucht hat, wird wohl nie eintreten, man könnte dann vielleicht genausogut sterben. Demnach wäre für mich noch Zeit, denn zu wissen, daß man bei der Besteigung des Mount Everests um 13 Uhr in jedem Fall den Rückweg antreten muß, hat sich für mich noch nicht ausgezahlt. Wobei mir bekannt ist, daß Sachwissen und Erlebnisse vom Gehirn unterschiedlich behandelt werden, möglicherweise kann ich mich also an die Tatsache, daß man am Mount Everest um 13 Uhr auf jeden Fall den Rückweg antreten muß, erinnern, habe aber vergessen, daß ich den Mount Everest schon bestiegen habe. Das ist bei Hirnverletzungen, wie sie als Folge von Sauerstoffmangel auftreten können, keine Besonderheit. Ich kann im übrigen nicht behaupten, daß mich die Tubennahrung enttäuscht hätte. Das Zermalmen der Speisen mit den Zähnen kam mir immer wie ein zeitraubender Atavismus vor. Das Tröstliche an Tuben ist, daß man sie auf- und zuschrauben kann, das macht Spaß. Solchen Spaß, daß Spaß nicht das richtige Wort ist. Ich kann mich gut erinnern, lange Nachmittage meiner Kindheit damit verbracht zu haben, Tuben mit aller Kraft und mit Hilfe von Werkzeugen zuzuschrauben, um mich anschließend der Herausforderung zu stellen, sie wieder zu öffnen. Es war immer mein Anspruch, es mir so schwer wie möglich zu machen. Außerdem gefällt es mir, wenn sich Dinge um die eigene Achse drehen lassen, soviel kann ich sagen.
Es hat mir Freude gemacht, den Raumanzug über den Schlauch an die Rohrleitung anzuschließen und aufzublasen. Wenn man die Luft wieder entweichen läßt, klingt das wie ein resigniertes Seufzen. Ich habe das mehrmals getan, wie ich fast alles gerne mehrmals tue. Es ist seltsam, von außen durch ein Fenster zu blicken, wenn man den Raum eben erst verlassen hat. Man fürchtet dann, dort drinnen sich selbst noch zu sehen, als hätte man sich geteilt. Der Doppelgänger würde vielleicht ein so friedliches Bild abgeben, daß man aus Angst, ihn bei einer Begegnung zu Tode zu erschrecken, auswandern müßte. Aber das wird für mich nicht nötig sein, im Innern der Raumstation ist niemand zu sehen, nur das Labyrinth, in dem sich zu meiner Überraschung eine der Mäuse auf die Hinterpfoten gestellt hat und den Kopf hin und herwendet. Die Verhaltensbiologen sehen darin ein Zeichen für Risikofreude, denn in dieser Haltung gibt sie ihren Körper schutzlos preis. Es scheint, als würde sie mich suchen. Warum müssen es einem immer alle so schwer machen?
Bin ich der Erde schon so nah, daß man nicht mehr von Entfernung, sondern schon von Höhe sprechen könnte? Ihr Anblick rührt mich nun doch zu Tränen. Sie war immer viel zu groß für mich, ich wußte nie, ob ich versuchen sollte, mir einen Überblick zu verschaffen oder mich lieber den Details zu widmen. Am schmerzlichsten ist unsere Sehnsucht nach Dingen, die ohne uns besser funktionieren. Der Mensch ist nicht dazu gemacht, glücklich zu sein, sonst hätte er nicht so viel erreicht. Ich weiß, daß der Genuß, den mir der Anblick der langen, glatten Küstenlinien verschafft, eine romantische Projektion ist, von solchen Quellen des Glücks wird man bei erster Gelegenheit im Stich gelassen. Schönheit zu empfinden ist ein degradierendes Gefühl. Ich habe den richtigen Moment gewählt, Lena könnte mich jetzt sehen. Bald werde ich in die Atmosphäre eintreten und verglühen, so geht es einem, wenn man sich der Erde von außen nähert. Aus der Sicht eines Meteoriten ist sie ein ziemlich autistischer Planet. Im Grunde ist die Erde ein bißchen wie ich. Eben habe ich mit meinem Schweizer Offiziersmesser die Sicherheitsleine gekappt. Man muß loslassen können. Nun bin ich wirklich aufgebrochen. Ich empfinde keine Angst mehr. Es ist schade, daß ich dieses Gefühl erst jetzt kennenlerne. Nein, es ist nicht schade, nichts ist schade. Ich sehe meinem Taschenmesser nach, das ich nie ganz verstanden habe. Jetzt warte ich auf den Sauerstoff, um darin zu verbrennen. So will es die Physik, das ist alles leicht zu modellieren. Aus einer gewissen Entfernung betrachtet, kann dieser Vorgang als schön empfunden werden, so ist es oft mit Dingen, über die man zu wenig weiß. Ich werde nie erfahren, was mein letzter Gedanke gewesen sein wird. Wäre es sentimental, an ein Mädchen zu denken, das eine Sternschnuppe am Himmel sieht und sich wünscht, einen Vater zu haben? Aber bei welcher Gelegenheit wäre es verzeihlicher, sich ein wenig gehenzulassen, als beim eigenen Tod?
© Jochen Schmidt
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