Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Christoph Simon (Bild: Johannes Puch)
Christoph Simon
Planet Obrist

Christoph Simon (Bild: Johannes Puch)
Mein Name ist Franz Obrist, gestern war ich Kleinstadtbengel, dann
Gelegenheitsarbeiter, heute bin ich der Reisebegleiter von MC dem Dachs,
morgen Tagemelker, übermorgen Dorfpfaff und später vielleicht ein
biederer Familienvater, eine Luftspiegelung, ein Narrenschatten,
irgendetwas Schlichtes, Ruhiges, Schönes. Ein Dachs kann natürlich
schlecht ohne menschlichen Schutz auswandern.

Wir verlassen Bern, so wie wir sind. Wussten bis gerade eben nicht, dass
wir fortgehen.

Unterwegs sagt MC der Dachs: „Was Sie angeht, hätten Sie einen Koffer
mitnehmen sollen, Herr Obrist.“

Aber was sollen wir mit einem Koffer anfangen, dort, wo wir hingehen
wollen: vielleicht Zürich-Oerlikon oder Österreich oder, wieso nicht?,
die Mongolei. Mit einem Koffer sehen wir aus wie Exilanten, und das
würde auffallen. Mit einer Umhängetasche hingegen – wer ahnt da was? Das
ist einer, der herumläuft wie alle anderen, vielleicht geht er zur
Arbeit oder holt Zigaretten oder führt seinen Dachs spazieren. Ich trage
Turnschuhe, einen Trainingsanzug, darüber eine rot-schwarz karierte
Jacke. Der Trainingsanzug ist blau und trägt das Emblem eines
unbedeutenden Sportvereins. MC geht nackt. Meine augenblickliche Lage
(ich befinde mich mit einem Dachs und rund sechzehn Franken auf der
Landstraße Richtung Zürich-Oerlikon) lässt sich kurz zusammenfassen:
Beschissen, aber besser. Heute ist genau der richtige Tag, um alles
hinter sich zu lassen: die von milchigen Nebelschwaden umhüllte Stadt,
den Trübsinn, den Liebesverdruss, die Gelegenheitsjobs, bei denen es
immer darum ging, irgendetwas irgendwo hinaufzuhieven, in die Mitte zu
schieben, auf der anderen Seite wieder aufzustapeln.

Ich habe einen Dachs, damit etwas Lebendiges um mich ist, das größer ist
als ein Wellensittich, und Pferde sind in den Wohnungen, in denen ich
bislang gelebt habe, nicht gestattet.

So verlassen wir Bern: Waffenweg, Scheibenstraße, Breitenrainplatz, wo
mein Mitbewohner Nicolas und ich eine halbe Stunde zuvor noch mit
schlenkernden Beinen auf dem Geländer saßen und uns der romantischen
Vorstellung hingaben, dass wir früh sterben werden. Eigentümlicher
Handlinien wegen rechnen wir fest damit. Rodtmattstraße, Guisanplatz,
Messegelände, Stadion Wankdorf, über die grasbewachsene Allmend, die
Fernmeldeantenne auf dem Bantiger im Auge. Es dauert eine Weile, bis mir
die Gegend unter dem verhangenen Himmel fremder wird. Zu Fuß und per
Anhalter zu reisen bevorzuge ich, selbst wenn ich mir den Zug nach
Zürich leisten könnte – was ich mit sechzehn Franken nicht kann.
Sechzehn Franken – meine gesamten Ersparnisse – entsprechen dem Preis
einer Tageskarte fürs Berner Verkehrsnetz.

Es ist ganz einfach, ohne Geld loszugehen. Sich einzureden, man sei ein
mutiger und abenteuerlicher Mensch. Fähig, mit den Schwierigkeiten
unterwegs ganz leicht fertig zu werden. Loszugehen, ohne zu wissen
wohin. Nur mit fernen Zielen vor Augen, an die man selbst noch nicht so
richtig glaubt: Zürich-Oerlikon, Österreich, die Mongolei. Spontan
gefasste Ziele, vielleicht aus Schwermut oder aus Sehnsucht nach
belebender neuer Erfahrung – um zu sehen, wies anderswo ist. Und dann,
eine Stunde vor Krauchthal, ein erster Regenschauer und ein
widerspenstiger Dachs, der sich aus deinen Armen windet und geradewegs
nach Süden läuft – nach Hause. Plötzlich erscheint es auch dir viel
angenehmer, daheim zu sein. In der Küche zu sitzen, mit Mitbewohnerin
Sarah und Mitbewohner Nicolas traulich das von der bekannten Firma
Heineken produzierte Felsenaubier zu trinken, gelangweilt
Versandhauskataloge und Werbeprospekte durchzublättern, lustlos
Schokocreme zu löffeln, aus einer gesprenkelten Schale, die nicht zu den
übrigen passt. Unentschieden in der Eintönigkeit der gewohnten Welt zu
verharren.

In den letzten Wochen habe ich mich verloren in einer einzigen Suche
nach Auswegen, nach Abstand zwischen mir und den Jobs, den Kneipen, den
Leuten, diesem ganzen Sumpf um mich herum. Nach Zeiten übermäßigen
Beisammenseins versuchte ich, das Telefon nicht abzunehmen, niemanden zu
treffen und niemanden zu sprechen. In Nebenstraßen auszuweichen, wenn
eine einstige Liebschaft oder die Zwillinge aus der Flurstraße
auftauchten. Eine dunkle Brille zu tragen und die Kapuze ins Gesicht zu
ziehen. Mich von Sarah ohne viel Gegenliebe lieben zu lassen und mich im
Buch /Im Land der zornigen Winde – Geschichte und Geschichten der
Tuwa-Nomaden aus der Mongolei/ blätternd aufzufangen. Eine zappelige
Ungeduld hatte mich regelmäßig in den Bremgartenwald oder an die Aare
getrieben, wo Alleinsein war und Luft. Meistens war ich
niedergeschlagen. Und verstimmt, auch wenn es mir gut ging. Es war
wieder eine Zeit, in der ich auf die Frage „Nennen Sie fünf Vorteile
Ihrer Lebensweise“ keine Antwort wusste. Die beängstigende Wiederholung
einer mir wohl bekannten Geschichte.

Wenn ich jetzt weggehe, versuche ich vielleicht, dem Zufall, der
glücklichen Fügung so weit wie möglich den Weg zu ebnen. Weil ich mich
im Grunde nicht noch einmal umbringen möchte. Oder ich versuche, zum
ersten Mal in meinem Leben in einer Gesellschaft zu sein, die ich bis
jetzt noch gar nicht so richtig kenne – meine eigene.

MC der Dachs bewegt sich auch an der Leine würdig, mit einem leichten,
dandyhaften Wiegen der Hüften. Mitunter braucht es einen wohl gezielten
Tritt von meiner Seite, um den Dachs in die richtige Richtung zu lenken.
Solide Eleganz zeichnet ihn aus, als ob er in den besten Kreisen
aufgewachsen wäre. Was er auch ist. Es stimmt schon, mit zärtlicher
Liebe und Hingabe hat Obrist ihn großgezogen, hat ihm Gemüsebrei
eingelöffelt, ihn in Lappen gewickelt, im Arm gewiegt und so weiter.
Allerdings wirkt er ein wenig unfein, von hinten gesehen, mit den zwei
so schamlos zur Schau gestellten männlichen Drüsen.

„Sie sind kein schönes Tier, Herr Dachs.“

„Schönheit ist ein innerer Wert, Herr Obrist.“

Ich gehe mit den Zehen nach innen und bin eine Spur o-beinig. Auch heute
noch gleiche ich dem schlaksigen zwanzigjährigen Burschen, der auf dem
Maturafoto eine schiefe Nase und einen ängstlichen Gesichtsausdruck hat.
Eine Unschuldsgestalt. Die Leute neigen dazu, mir auf den ersten Blick
zu vertrauen.

In Krauchthal sehe ich, dass in Venezuelas Wohnung Licht brennt.
Venezuela heißt ursprünglich Aureliana Gerinelda Elera Amor, niemand
nennt sie so, sie ist Kinderspielplatzbauerin, wir hatten mal was
miteinander, genauer: Sie war die erste und bisher größte Liebe meines
Lebens. (Und irgendwann stehst du da, als hätte dir einer mit der Faust
mitten auf die Brust geschlagen. Du versuchst zu begreifen, dass sie
einen anderen liebt und dass du die beiden nicht aufhalten kannst. Es
gibt nichts, aber auch gar nichts, was du tun kannst. Doch, da gibt es
etwas: Du kannst akzeptieren, dass jemand dich verlassen kann, egal, wie
sehr du ihn liebst.)

Unschlüssig bleibe ich einen Moment auf dem Abtreter stehen, dann
klingle ich. Venezuela öffnet in ihrer gewohnten Kluft: dicke
Männersocken, T-Shirt, kein Büstenhalter und gefärbte Latzhosen, die
wahrscheinlich von Xhosa-Frauen in einem Selbsthilfeprojekt in Soweto
genäht wurden. Tatsächlich wirkt Venezuela auch in den schrecklichsten
Kleidern gut gekleidet.

„Franz? Ist was passiert?”

Meine Hosenbeine sind schmutzig und regennass bis zu den Knien hinauf.

„Ist Christian da?“, frage ich.

„Nein.“

„Kann ich eine Minute reinkommen? Ich gehe fort und will mich
verabschieden. Ich wandere aus.”

„Ja, klar.“ Sie winkt mich herein. „Du tust was?”

„Es wäre mir unangenehm zu gehen, ohne Bescheid zu sagen.”

„Was soll das heißen, wovon sprichst du? Du willst dir doch nicht etwas
antun, oder?”

Sie mustert mich. Ihre walnussfarbenen Augen – auch ein Idiot wie
Christian Kerbel hat gemerkt, dass Venezuela umwerfend schön ist.

„Ich denke nicht daran, mein Leben zu beenden“, antworte ich und sehe
sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Ich erlaube mir den Luxus,
es noch einmal neu zu beginnen.“

„So ein Blödsinn.“ Aber sie atmet erleichtert auf. Sie bückt sich und
tätschelt MC. „Was hält MC davon? Vom Auswandern?“

„Er fände es schön, wenn ich auch so einen schicken Koffer hätte, wie
sie jetzt modern sind. Wenn du in die Küche gehst, könntest du uns etwas
mitbringen. MC hat Hunger. Ich auch.”

Venezuela gibt uns eine Schlafstatt für die Nacht. Ich liege auf dem
efeubehangenen Balkon in ihrem Daunenschlafsack, kann ihren Geruch
herausriechen und habe das Gefühl, wach bleiben zu müssen, um ihn zu
bewahren.

Erzähle MC eine Gutenachtgeschichte: Unter der Qual einer unbestimmten
inneren Unruhe sagte sich Gymnasiast Obrist: „Ich will geliebt werden”
und blickte sich suchend um. Erinnerte sich der Nachbarn, Bruno und
Kathrin Lüthi-Brawand und deren umwerfend schönen Adoptivtochter
Aureliana Gerinelda Elera Amor, von allen Venezuela gerufen. Gymnasiast
Obrist warb um ihre Gunst und gewann sie. Er fand es wundervoll,
verliebt zu sein: Händchen haltend Rad zu fahren, Verabredungen zu
treffen, bei denen man Herzklopfen verspürt, im Dunkeln über Dinge zu
reden, die sonst niemanden etwas angehen, unendlich behutsam einander zu
masturbieren. Die ersten gemeinsamen Wochen waren eine Zeit ungetrübten
Glücks. Obrist strickte, während Venezuela Lüthi aus einem Buch
leichtfertige Wirtschaftstheorien vorlas, bis sie das Buch weglegte, ihm
die Stricknadeln sanft aus den Händen wand und sich auf seinen Schoss
setzte. Die erste Liebesnacht verbrachten sie auf dem feuchten Gras im
Schadaupark am Thunersee, ihr gemeinsamer Orgasmus war ein Sturmwind,
der aus der Seele alles, woran sie sich als sich selbst erkannten,
fortwehte. Venezuelas Körper strebte empor wie der Stängel einer Blume,
Obrist war, als schritte er auf einem Meer von flutendem Mondschein.
Venezuela Lüthi, die Offenbarung des Jahres. Was will man von Gefühlen
mehr, als dass sie einen mitreißen und keine Zeit zum Nachdenken lassen?

„Haben Sie aufgepasst, Herr Dachs?“

„Ja.“

„Und was ist Ihre Meinung dazu?“

„Dass Ihre Gutenachtgeschichte peinlicher Schund ist.“

„Ich will bestimmt kein Lob herauspressen, aber finden Sie nicht, dass...“

„Eine Gutenachtgeschichte, vor der mein sittliches Gewissen schaudernd
zurückschreckt, Herr Obrist.”

Verzauberung, Verliebtheit, alles hinwegfegende Leidenschaft. Venezuela
war eine Frau, die ich liebte und bewunderte – einmal, bei einer
Demonstration, ohrfeigte sie einen Polizisten, der meinen Bruder
„Doofgeburt“ genannt hatte. Irgendwann, mitten im siebenten Himmel,
entdeckte ich, dass die Angebetete mit einem anderen anbandelte. Oder
vielmehr: Ein anderer hatte sie verzaubert. Eine Welt brach zusammen.
Und weil dieser andere anziehender war als ich, gesprächiger, schöner
gekleidet, unternehmungslustiger, weil er fantastisch tanzte, weil er
sich politisch engagierte, weil er /Element of Crime/ hörte, weil seine
Eltern ein Rückzugshäuschen im Jura hatten, weil er nicht, wie ich,
unsinnig Sandhaufen umschaufelte, sondern begeistert Architektur
studierte, fühlte ich mich noch unglücklicher, noch mehr zurückgesetzt,
hinabgeschleudert in grässliche Finsternis, verzweifelt wie Hiob,
nachdem er sein Vieh verloren und unzählige Furunkel bekommen hatte. Ich
wollte Venezuela nicht zurückerobern, aber ich hoffte, schwer krank zu
werden, damit sie heulend an mein Sterbelager käme. Und ich wartete ein
paar Mal vor Christian Kerbels Haus mit dem Messer in der Jackentasche.
Nach einem kurzen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik (der noch
mit anderen Dingen zu tun hatte) ging ich in den Schadaupark, grub ein
Loch und warf sämtliche Zettel hinein, die mir Venezuela je geschrieben
hatte, die Automatenfotos, den Stop-the-Army-Schal, die Karpat- und
Cleopatra-Zigaretten, die sie mir von ihren Reisen nach Rumänien und
Ägypten mitgebracht hatte, den Traumfänger, den sie mir geschenkt hatte,
als meine Mutter starb.

Venezuela erklärte mir: „Auf eine attraktive Art unsicher. Ich verliebte
mich in dein Potenzial, nicht in den Jungen, der du warst. Als Potenzial
sah ich deine Fantasie und deinen unglaublichen Eigensinn. Aber ich will
Christian, weil er den Sinn auf seiner Seite hat. Nicht weil er als
Architekt viel Geld verdienen oder etwas darstellen wird, sondern weil
er von seiner Sache begeistert ist – genau das ist es, was dir abgeht.“

Begeisterung – so was imponiert immer. Was ich gern einmal sein würde:
begeistert. Begeisterter Sandhaufenumschaufler, begeisterter
Was-auch-immer, Einbrecher, Schwerverbrecher. Ein Desperado, der aus dem
Nichts auftaucht, um Schlagzeilen zu machen. Bloody Obrist the Kid,
berühmt dafür, dass er Panzerschränke sprengt und gut mit verwegenen
Dachsen umgehen kann. Der Tankwarte nur anschaut, und schon werden sie
klein und werfen ihm das Geld hinterher.

„Gut geschlafen?”, fragt Venezuela.

„Wie ein Stein.“

„Und wohin solls jetzt gehen?”

Das würde ich wissen, wenn ich angekommen sei, sage ich. „Im Augenblick
bin ich gerade erst aufgebrochen.“

„Los, komm.“ Sie hebt MC hoch, er reibt seinen Kopf an ihrem Ellbogen.
„Winken wir denjenigen zum Abschied zu, die der letzten großen Illusion
nachjagen.“

„Die wäre?“

„Das Leben neu zu beginnen.“

Ich bin in bester Laune, unsere Reise fängt gut an. Venezuela hat uns
eine Schlafstatt, einen Kaffee, hundert Franken, eine Umarmung und drei
Küsse auf die Wangen gegeben. Hundert Franken entsprechen dem Wert einer
Kaffeemaschine auf dem Gebrauchtkaffeemaschinenmarkt in Zürich-Oerlikon.

„Was willst du denn in Zürich-Oerlikon?”, fragt die Fahrerin in
sommerlichen Bürokleidern, während ich in den Audi steige.
„Zürich-Oerlikon wär mir zuwider. Ich fahre bis Burgdorf. Ist das ein
Dachs?“

Neben der Straße erscheint ein Flusslauf, die Emme, in der ich als Kind
schon mal geschwommen bin. Wir fahren weg, wir fahren weg, singe ich
lautlos, zur Abwechslung machst du einmal etwas richtig. Ein Augenblick
des Selbstvertrauens. MC ist mit eigenen Kümmernissen beschäftigt, die
mit dem Putzen seines Fells zu tun haben.

Burgdorf. Wo um sieben Uhr Leben in die Häuser kommt. Frauen lüften die
Bettdecken. Stelle mir vor: Schlaftrunkene Kämpfe um den Vortritt ins
Badezimmer, wilde Jagd nach verlegten Socken, Haare striegeln, Milch
schwappt über. Die Tischdecke wird glatt gestrichen und hastig ein Knopf
an der Strickjacke angenäht. Bunte Litfasssäule beim
Franz-Gertsch-Museum, an Burgdorfer Kultur verpassen wir diese Woche:
PETERS DIA-ABEND – JEDER BRINGT EIN DIA MIT UND ERZÄHLT EINE GESCHICHTE.
Die beliebte Disco OLDIES FÜR OLDIES/ /unter dem Patronat von BIERGENUSS
EGGER BIER KULTURGENUSS/. /Schulkinder laufen über eine Wiese, ein
verträumtes Mädchen, das zu spät kommen wird, bindet einen
Löwenzahnkranz. Die Luft ist rein, und MC denkt ans Essen.

„Wir gehen wirklich nach Oerlikon, Herr Obrist?“

„Ich weiß es nicht.“

Einen Moment lang will ein Teil von mir einen Rückzieher machen, die
Reise abblasen, nach Hause zurückkehren. Mit dem Zug sind wir in zwanzig
Minuten in Bern. Ich könnte Sarah und Nicolas erzählen, dass ich einen
kleinen Aussetzer gehabt hätte und nie ernsthaft vorhatte, wegzugehen.
Aber während ich das denke, weiß ich, dass ich nicht zurückgehen werde.
Ich versuche mir ein Reiseziel zu setzen, ich glaube, dass es wichtig
ist, die Illusion eines Reiseziels aufrechtzuerhalten.

„Wir haben etwas über hundert Franken. Mit dem Geld könnten wir eine
Jurte anzahlen, eine eigene Jurte an einer windgeschützten Stelle in der
Mongolei. Mit einem Stückchen Land, wo wir Blumen und Gemüse ziehen. Wo
wir an sonnigen Tagen mit Blick auf unsere Kamele und die Schneeberge
des Altai dahinter frühstücken. Oder uns abends mit einer Schale Tee
hinaussetzen. Eine Jurte, in der wir allein sein oder in die wir uns
Gäste aus bewegteren Tagen einladen können.“

„Sollten wir nicht doch beim heimatlichen Stamm bleiben, Herr Obrist?
Sollten nicht besser andere bei der lächerlichen Glückssuche ihr Leben
wagen?“

„Wenn Sie darin nur etwas anderes sehen könnten als, wie nennen Sies?,
lächerliche Glückssuche!”

„Schon gut, Herr Obrist, es ist nur... Werden wir mutig genug sein, den
Gefahren ins Auge zu sehen? Werden wir sie überstehen?”

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die Ungewissheit interessanter
ist als die Gewissheit, aus jeder Situation heil herauszukommen. Haben
wir Angst oder was?“ Das zieht immer.

Vor Wynigen, an Stelle zubetonierter Flächen safttriefende Felder und
Wiesen. Ein Bauer mit einem sorgfältig geschnittenen Schnurrbart schiebt
eine Schubkarre über den Hof. Mit meinem praktischen Verstand für derlei
Dinge versuche ich ihn von dem Erfolg eines Rodeo-Clubs auf seinem Hof
zu überzeugen. „Woran Sie denken müssen: ein Western-Saloon,
Spielhallen, Bar und Zureitkoppel, Shetlandponys für die Kleinen,
Kettenkarussell, gespielte Banküberfälle für Möchtegern-Desperados...“

„Und eine Imbissstube“, ergänzt der Bauer lachend, stellt die Schubkarre
ab.

„Sie habens kapiert. Sie sind ein Mann, der Ideen in etwas Wirkliches
verwandeln kann. So was sieht man sofort.“

Immerhin verhilft die Skizzierung eines Rodeo-Clubs zu einer stärkenden
Brot-, Käse- und Milchmahlzeit in der Bauernstube.

„Lisi, bring was von der Katze für den Dachs. Und mach Kaffee.“

„Er hat doch gesagt, er will keinen.“

„Nun, bring halt einen“, der Bauer schwenkt eine Scheibe Brot. „Er wird
ihn schon trinken.“

Wieder unterwegs – MC und ich auf einer endlosen Landstraße mit vollem
Magen und einer Überdosis Koffein, auf dem Weg zur letzten Grünfläche in
Zürich-Oerlikon, wo wir schließlich Ziegen, Schafe und Lamas züchten.
Lamas fallen mir ein wegen Mitbewohnerin Sarah, die in Argentinien
welche züchten wollte. Sie hielt es für eine großartige Sache, während
sie mich einen Lauen schimpfte, einen Kerl ohne Träume und Ziele. Sarah
ist Bankangestellte, erlaubt sich in der Freizeit, ein bisschen freier
Mensch zu sein, da baut sie Skulpturen, über die Nicolas und ich im
Stillen Tränen lachen.

Auf unserem Sprint nach Osten werden wir die Weltzeit um Stunden
überrunden. Die umgekehrte Richtung wäre mir lieber: Stunde um Stunde
geschenkt. Ob man die Zeit einholen kann, wenn man immerzu nach Westen
fährt? Sich selbst einholen, Tag um Tag das missglückte Leben
zurückspulen – schon ist nicht mehr wahr, was passiert ist, ich habe
mich nicht in Gelegenheitsarbeiten verbraucht. Habe nie Selbstmord
versucht. Mutter ist nicht gestorben, Venezuela hat Christian Kerbel nie
getroffen, mein Bruder hat die Mäuse nicht zersägt. Wäre doch toll, wenn
man die Zeit zurückdrehen könnte: Noch einmal von vorne beginnen, eine
zweite Chance, vier kahle Wände, in denen Ratten hausen. Wo sich Mutter
auf einer Schütte Stroh in den Wehen windet. Vater hat Mutter in großer
Aufregung entbunden, er wäscht mich mit heißem Wasser, während ich mich
violett schreie. Baby Obrist kann noch nicht gehen, aber die Beine hat
er schon am richtigen Fleck. Es ist wieder der 15. oder 16. August 1974.
Die amtlichen Eintragungen unterscheiden sich von den Angaben der Eltern.

Wo ich bin? In Fulenbach bei Rothrist, in einer dieser mobilen
Plastiktoiletten. Kenne keinen andern Ort, der mit so obszönen Sprüchen
voll gekritzelt ist. Ficklyrik, in der Wörter vorkommen, die ich
irgendwie verstehe und irgendwie auch wieder nicht. Die üblichen
Mobilnummern, ein paar Witze. Ein angeblich hoch begabter Mann will sich
donnerstags hinterm Jugendtreff in Rothrist verabreden.

Hoch begabt und ein abnorm frühreifes Kind war auch der junge Franz
Obrist: Er verlor die Milchzähne viel früher als seine Altersgenossen,
sprach als Achtjähriger mehrere Sprachen, versuchte, noch ehe das erste
Schamhaar gewachsen war, eine Oper zu komponieren und schrieb, als seine
Stimme brach, ein Buch mit dem Titel /Maximen und Reflexionen/, das nur
im Fragment erhalten ist. (Ich schrieb die erste Zeile: „Mein Bruder
heißt Julian.“ Dann sah ich zu den Eltern auf und fragte: „Wie schreibt
man Downsyndrom?“)

Vielmehr der junge Obrist: ein ziemlich einsames, vor sich hin brütendes
Kind, das die zweite Klasse wiederholen muss, weil es nicht lesen kann
und sich an der Kletterstange in der Turnhalle in die Hose macht. Ein
Bursche, der seinem Bruder glaubt, wenn dieser behauptet, Babys kämen
aus dem Mund, dem Arsch, dem Bauchnabel, nur nicht von dort, wo sie
wirklich herkommen. Ein geschlechtsreifer Junge, von dem kein Mädchen in
der ganzen Schule ein Foto haben will, einer, der im Spiegel das Küssen
übt und dessen bester Freund eine Spinne ist, die in einem
Haselnussstrauch hinter dem Elternhaus ihr Netz hat.

Rothrist. Strecke den Daumen raus, aber die Autos rauschen vorbei, immer
wieder schauen sich Fahrradfahrerinnen und Fußgänger nach MC um, ich
friere vor Müdigkeit, ziehe die Schultern bis zu den Ohren hoch, ein
fremdsprachiger Bauarbeiter bietet mir völlig unerwartet eine starke
Zigarette an. Die ich annehme und rauche – noch ist es erlaubt, auf der
Straße zu rauchen.

„Was unternehmen wir hinsichtlich der Welt, Herr Dachs?“

„Der Welt? Die Welt soll für sich selbst sorgen, Herr Obrist. Es genügt,
wenn wir uns um uns kümmern.“

„Sehr gut. Aber was wird mit Rothrist?“

„Was soll damit werden?“

„Das ist ja das Problem mit Rothrist, was wird damit?“

„Ich verstehe Sie nicht, Herr Obrist.“

„Rothrist ist eine Lärmschutzwand. Eine schmutzige Lärmschutzwand
zwischen Bern und Zürich. Wir könnten sie vielleicht sauber machen.“

Der Mann im silbrigen Renault Espace fährt uns geradewegs zu einer
billigen Pommes-Bude in Aarau. Hinterher kaufen wir eine Cremeschnitte,
um auf einen anderen Geschmack zu kommen. Und eine Tasse angeblichen
Kaffees (das Rähmchen für MC), damit die Cremeschnitte runterrutscht.
Wir ernähren uns unterwegs genau wie in Bern. Wenn wir schon an zu Hause
denken: Was ist mit Nicolas und Sarah, werden sie sich Sorgen machen?
Werden sie sich fragen, ob ich mich unter den Zug geworfen habe? Geben
sie eine Vermisstenanzeige auf? Ein unnötiger Gedanke, vorher werden sie
Venezuela anrufen. Vielleicht werden sie sauer sein, weil ich mich
klammheimlich auf und davon gemacht habe. Aber ich bin weggegangen, und
damit hat sichs.

Schlafplatzsuche in Aarau – Asylstraße, Badergässli, Oberer Turm mit
Oberem Tor. Schließlich liege ich im Schwanengarten der Kantonsschule.
Erleide einen Anfall tiefster Selbstzweifel, ohne im Geringsten darauf
vorbereitet zu sein. „Was für ein Idiot sind Sie, Herr Obrist”, so geht
es, „wie können Sie glauben, auf diese Weise die Mongolei oder auch nur
Zürich-Oerlikon zu erreichen?” Halte mich einen Moment lang für so
bescheuert, dass ich fast weine. Franz Obrist, Freigänger aus Berner
Nervenheilanstalten, in die Welt gezogen, um seine Nerven zu schonen,
was ihm im Augenblick völlig misslingt.

„...eine mächtige Artischocke, man muss sich durch einen ganzen Berg
fader Blätter durchlutschen, ehe man zum Herz kommt, das ohnehin viel zu
klein ist.“

„Was noch mal, Herr Obrist?“

„Die Mongolei, Herr Dachs.“

„Ach so, ja, die Mongolei.“

Diese kurzweiligen, erbaulichen Gespräche mit meinem Kumpel Dachs, ohne
die ich es niemals schaffen werde durch Sarajewo bis nach Istanbul und
Teheran und Kabul, durch Krisen- und Kriegsgebiete (vorbei am Chaos, das
die Nordamerikaner hinterlassen haben), Tadschikistan und Kirgistan
(/locals only/) bis ins Vierländereck Russland, Kasachstan, China,
Mongolei. Wo die Grenzer uns mustern werden: den Wanderer in staubigen
Kleidern und das hundähnliche Tier an seiner Seite. Wo wir vom
Zuständigen im IMMIGRATION OFFICE Wertmarken und einen Stempel aufs
Visum erhalten und endlich unter dem rot-blau-roten Tor durchgehen und
die Mongolei aufreizend langsam betreten werden. Wir werden einen
prächtigen Gemüsegarten haben und in einer Hängematte schaukeln, und
zwölf Eunuchen müssen fächeln, damit keine Fliege stört.

Jemand klopft mir auf die Schulter.

„Tu bloß nicht so, als würdest du schlafen, das zieht bei mir nicht.”
Ein Obdachloser brüllt mir mit einer schrillen Stimme ins Ohr, nicht
gerade ein angenehmes Erwachen. Gebe ihm den Hunderter, um ihn
loszuwerden, und döse weiter.

Wegen dieser Tat werde ich einmal in den Himmel kommen.