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Aus: Der Savant (Arbeitstitel)
Oft ist er unter den Menschen hinweg geschlichen, hinauf und wieder heraus aus dem Ort, den er nicht verlassen konnte. Er ging von der Kottmüllerallee, wo die Maler in Murnau wohnten, in den Lourdesgraben hinab. Immer tiefer führt er unter das Dorf zur Lourdesgrotte. Noch tiefer darunter, dort, wo der herabstürzende Bach alles Geräusch, alle Gedanken übertönt, liegt eine kleinere, muschelförmige Grotte. Dort ist sein Ort gewesen. Als Kind hatte er sie entdeckt. Sie war gerade so groß, dass er aufrecht darin stehen konnte. Das gleichförmige Rauschen des Wassers dringt in die Grotte ein, bricht und potenziert sich, schirmt alles Gelärme der Menschen und der Erde ab. Es ist dunkel im Graben, aber nicht so wie in der Grotte, in die selbst an sonnigen Tagen kein Lichtstrahl den Weg durch das Dickicht aus Wurzeln, Erde und Gemäuer findet. Die Menschen in Murnau haben diesen Ort vergessen. Sie bringen der Mutter Gottes über der Muschelgrotte Gebete und Rosenkränze, aber niemand steigt tiefer hinab. Der Graben ist so alt und dunkel wie die Seelen der Bauern, es ist eine zweite Ebene des Dorfes unterhalb des Dorfes, kalt und wässrig wie der Löß, auf dem die Höfe und Häuser stehen, es ist das zweite Gesicht seiner Bewohner. Ein sehnsüchtiges, abergläubiges, flehendes Gesicht. „Beseelt von Vertrauen, o Jungfrau der Jungfrauen Maria, zu dir, Gebieterin der Welt, nehme ich Zuflucht, höchste Herrin der Engel, die du die Macht hast, den Kopf des Satans zu zertreten. Sende deine Legionen, Zärtliche, damit sie unter deinem Befehle die höllischen Geister in den Abgrund zurückstoßen“, beten die Menschen dort noch heute. In diesem Abgrund saß er. Schon als Kind fing er sie auf, die Stoßgebete und Seufzer und trug sie ins Moor hinaus, in das ockerne Meer, das am Ende des Lourdesgrabens beginnt. Der Mann geht vom Ende des Lourdesgrabens in das Moor hinein. Er trägt einen sackartigen Mantel aus dunklem Fell und einen Hut mit breiter Krempe, die er in der Dunkelheit tief in das noch jugendliche Gesicht gezogen hat. Er ist eine hünenhafte, tapsige Gestalt, wenngleich er sich ungewöhnlich behend abseits des sicheren Pfades bewegt. In der Hand hält er etwas, das aussieht wie ein Ast, mit dem er in die Ränder der Mooraugen sticht. Er scheint aus seiner Zeit gerückt, aus diesem Ort und dem Jahr 1981.
Ich hör sie. Ich will nix mehr hörn. Ganz deutlich hör ich sie. Noch immer. Aufhörn. Stille muss werden. Aus! Ich halt´s nicht mehr aus! Aber sie hören nicht auf. Sie dringen einfach in mich ein, zu den Ohren kommen sie hinein wie Summsgeschmeiß durchs Fenster. Es nützt nichts, dass ich sie zuhalte. Es muss aufhörn. Stille soll werden, alles schschscht! Unter den Füßen federndes Moos, wie es quatscht, wie es sabscht! Gräser daraus empor, ein kleiner Steg. Kein Atem. Sei Dank. Kein menschlicher Gedanke mehr. Vertraute Gräser und Bäume im Wasser. Horch: die Erde. Wie sie schnauft, wie sie schläft. Ich habe noch nie ein Geräusch vergessen. Ich behalte jeden Ton, jeden Klang, jede noch so schwache Schwingung. Jedes Rähen, schwarzes Rachen, Gewins und Gratter, jedes Dieselschnattern, Hämmern, Nageln und Flattern, gelbes Rauschen, Rattern und Zirpgezette ist in meinem Kopf für immer gespeichert, alles Baumknarz, Eulgeheul und grünes Turmgedding. Es ist alles an einem Platz meiner Erinnerung angeordnet. Jedes hat seinen Namen, seine Farbe. Wie in einem Lagerhaus, einem unermesslich großen Lagerhaus. Kein Satz, den ich gehört habe, keine Silbe ist mir je verloren gegangen. Ich habe zu allem Gesagten und Gehörten uneingeschränkt und zu jeder Zeit Zugang. Mein Gehirn ist anders als andere Gehirne. Andere Gehirne haben einen Lagerverwalter, sagst du. Einen kleinen geizigen Lagerverwalter, der nur das nötigste aus der Unendlichkeit seiner Regale herausgibt, sagst du, und nur dann, wenn es zum Überleben absolut notwendig ist. Ich bin ein Savant, sagst du. Ich habe keinen Lagerverwalter in meinem Kopf. Ich bin ein Phänomen. Du hast ein Wissen und doch kein Wissen, sagst du. Ich bin ein seltenes Tier. Eine Jahrmarktattraktion. Ich habe die Gabe, und ich soll schweigen, sagst du. Weil mich niemand versteht, sagst du. Deshalb soll ich schweigen. Schweig, sagst du, schweig. Warum soll ich immer schweigen, sag? Die Büsche wie Felsen im ockernen Meer. Kahl bis zu den Knien, wie sie kratzen, wie sie schleifen, reiben an jedem Schritt. In der Ferne Hoher Moosberg. Stämme wie Gerippe von phantastischem Tier. Schwarzes Geäst befallen von schmatzendem Schwamm, meine schönen Fabelbäum. Es muss heraus. Alles muss raus. Damit es aufhört. Schschscht! Endlich. Einen Moment noch; schscht! Es ist ruhig geworden. Die Stimmen sind weg. Es ist vorbei. Für den Moment. Ich will es erzählen. Ich fang von vorne an. Ganz von vorne. Bei meiner Geburt.
Das ist nicht schön, so eine Zangengeburt. Die gleichen einer Kreuzigung. Der Kreuzigung eines weißen Vogels. Mit ausgebreiteten Schwingen und aufgeschnittener Kehle hängt er von den Beinriemen des Stuhls, sein Kopf liegt im Nacken, und der Lebenssaft fließt die blendende Brust hinab und sammelt sich tropfend in einer kupfernen Schüssel auf dem Kachelboden. Die spüren das nicht. Die Geburt. Das ist jetzt alles taub da unten. Das ist bereits weg vom Leib, das gehört nicht mehr dazu, obwohl es doch da drin ist und darauf wartet, herausgeholt zu werden. Diese werden herausgerissen. Herausgemeißelt. Ihr Leben beginnt als Fluss. Die alte Hebamme knickst und bekreuzigt sich, als sie den Kreissaal des Nymphenburger Krankenhauses betritt. Valentin von Zach. Schweiß fließt bereits über die Stirn des Arztes. Das Schicksal des Menschleins da drin fließt aus diesem Körper, das Laken hinab und gerinnt im Bottich. Vera Agatha Vantin von Zach. Taub, teilnahmslos. Zwei Laken hängen von Mutters gespreizten Beinen und eines unter ihrem Gesäß herab. Blutüberströmte Schwingen und Vogelbrust. Es ist, als habe die Frau, die da liegt, mit der Geburt ihres Kindes nichts mehr zu tun. Als wäre sie nicht mehr Teil des Geschehens, gar nicht Teil des Geschehens gewesen, als habe das Fremde in ihrem Wirtskörper gar nie existiert. Mutter ist schon vierundvierzig. Die Hebamme schaut auf einen Plan. Vera Agatha Valentin von Zach. Geboren Siebter Zwölfter Neunzehnelf. Von zehn Geburten in den letzten zwei Tagen war die Hälfte problematisch. Ein Wasserkopf, ein Kaiserschnitt, zwei Zangengeburten. Das passiert immer um den Georgi. Der Doktor reibt sich den Schweiß von der Stirn. Eine Adoption direkt von der Nabelschnur weg. Das ganze Spektrum. Aber diese mag sie nicht. Diese sind ihr unheimlich. Des Doktors aufgekrempelter Arm befindet sich jetzt beinahe bis zum Ellenbogen im Schoß der Frau. Schmatzend ruckelt der Arm hin und her. Wie bei einer Kuh. Er stöhnt, er ächzt, er flucht. Das Kind liegt falsch herum. „Es ist entscheidend, welche Beziehung d´Mutter zum Vater hat“, sagt die alte Hebamme, leis. Da ist was falsch. Das weiß sie. Der Doktor betastet, dumpf pochend, den Bauch der Frau. „Forzeps!“ ruft der Doktor. „Wo die Beziehung ned stimmt, da gibt´s Probleme“. Die Hebamme beugt sich über den Operationstisch und greift in eine Nierenschale. Diese mag sie nicht. Sie reicht dem Doktor das Instrument. Diese gehen meistens schief. Er zieht den Arm aus der Scheide, die sich zusammenzieht und Luft ausstößt als furze sie. „Verkehrt rum liegt´s. Ich muss es zuerst drehen. Schwester, drücken´S!“ Die alte Hebamme läuft um den Geburtsstuhl herum, ihr Schritt hallt von den Kacheln, und legt vorsichtig ihre Hände auf den Bauch der Frau, dicht unterhalb des Brustkorbs. Der Arzt führt die Zange in den Unterleib ein. Sein Arm ist bis zum Kragen mit Blut verschmiert. Diese wollen nicht raus. Sie fühlt den weichen Kopf des Kindes zwischen ihren Händen. Sie hört die Löffel der Zange klopfen. „Da ist er“, sagt der Doktor. „Na, weiter droben“, sagt die Hebamme. Als wüssten´s was, was neamands weiß. Sie spürt, wie die Zange greift. Mit einem leichten Ruck versucht der Doktor den Körper des Kindes in der Fruchtblase zu drehen. Ich habe gesehen, wie die Zange schnalzte. Es ist ein dumpfes, ein metallisch rotes Geräusch gedämpft vom Fruchtwasser. Die Zange ist abgerutscht. „No weiter droben“, sagt die Schwester. Heilige Maria hilf. Gebenedeit bist du unter den Weibern Die Zange packt den Kopf des Kindes bei den Ohren. Die Hebamme spürt den Griff genau. Ihre Hand liegt jetzt auf der Stirn des Kindkopfes, der in den Nacken rutscht, der Doktor schnauft schwer und stemmt sich mit einem Bein vom Stuhl weg gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus Christus und reißt mit großer Kraft an der Zange. „Kruzifix, der sture Bub!“ ruft der Doktor, als könne sich nur ein Junge derart wehren, und zerrt an den Zangenhälsen, während er mit der Linken ein Stangenwerkzeug einführt, um die Drehung des Kindes von den Füßen her zu unterstützen. „Da kann die Lieb ned groß sein.“ „Schwester! Drückens!“ Die Mutter stöhnt, die alte Hebamme schiebt den Kopf des Kindes zum Schoß, während der Doktor das Kind dreht. Wieder rutscht die Zange ab. Der Arzt stochert dumpf mit dem spitzen Stangeninstrument herum, bis er Widerstand spürt. Erneut schnappt die Zange lauthals zu, immer wieder träume ich, wie sie mich packt, wie sie schnappt, wie sie greift bei den Ohren und reißt Marandjosef! „Quer liegt er jetzt! Schnell! Messer!“ Der Doktor nimmt das Skalpell, das ihm die Schwester flink gereicht hat und durchtrennt, es klingt als reiße grober Stoff, den Steg zwischen Scheide und After. Mit der Linken greift er in die rotpulsierende Öffnung gebenedeit bist du unter den Weibern, gebenedeit die Frucht deines Leibes und reißt mich, rechterhand meinen Kopf im Zangenzeug, in der Linken meine Schulter, mit einem gewaltigen Ruck aus Mutters Leib heraus, die Zange fällt derb platschend in den Bottich, Blut schwappt über und klatscht auf den Boden, zäh und zornig fließt es über die Kacheln und sickert in den Ausguss.
Nebenan ging schon die nächste Geburt. Getrennt nur durch ein Laken. Vera Agatha Valentin von Zach. Vierundvierzig ist sie schon. Wo die Beziehung nicht stimmt, gibt es Probleme, so einfach ist das. Eisen und Brechwerkzeug. Geschlagen und geschnitten aus taubem Fleisch, aus dem Plasma, der blutenden Masse heraus, mit der Zange bei den Ohren gehoben, und nebenan geht alles gut, ganz glatt, so einfach ist das. Hinter dem Vorhang stimmt das. Die Beziehung. Der Arzt sieht auf den Patientenplan. „Frau Valentin von Zach. Kein Vater da?“ fragt der Arzt. „Doch“, sagt die alte Hebamme. „Er wartet unten. Im Wagen.“ Und dann leis: „Es ist der Chauffeur.“ Herausgemeißelt die Frucht und separiert das bereits vom stumpfen Wirtsschoß Separierte, Abgesonderte und Ausgeschiedene. Das ist Schwerstarbeit. Von der Mutter getrennt. Sie verlangt das Kind nicht. Fragt nicht nach ihm. Es ist da gewogen zu werden, gewaschen, gemessen, gewickelt, der Mutterkuchen ist noch zu untersuchen. Da kann d´Lieb wirklich ned groß sein, flüstert die Hebamme und untersucht das Kind. Es ist ein Junge, ein Bub, sagt sie zur Plasmamutter, die nicht reagiert, die nur stiert, unablässig an die Decke sieht. Komisch. Das Kind reagiert auch nicht. Normalerweis hat es eine Anstrengung im verquollenen Gsichterl. Ein Murren, ein Knurren. Sie sind nie glücklich, wenn´s angekommen sind. Aber dieses? Dieses trug nur Taubheit im Gesicht. Dieses sah aus, als habe es noch gar nicht begriffen, dass es angekommen war. Die Schwester hob es hoch und horchte an seiner Nase. „Es atmet nicht!“ „Geben´S her, Schwester“, sagte der Arzt. Er hob das noch tropfende, feuerrote Neugeborene an den Füßen hoch. Es hielt die Augen fest geschlossen und machte keinen Mucks. Vielleicht hat es noch nicht gewusst, dass es mucken sollte? Der Arzt schlug ihm auf die Hinterbacken, rutschte ab am glitschigen Fruchtwasser, der Junge baumelte leblos von seinem Arm herab. Vielleicht hat er noch nicht gewusst, dass er leben sollte? Wieder holte der Doktor aus und schlug zu. Diesmal traf er, dass es knallte. Nichts. „Kreizkruzifix! Leb!“ donnerte der Doktor. Und plötzlich schrie auch das Kind, wand sich nach allen Seiten, zappelte und zitterte, nieste, quiekte, hustete, spuckte, greinte und antwortete mit einem festen Strahl, der den Arzt zuerst mitten ins Gesicht traf, dann seinen Kittel durchnässte und zuletzt die Haube der Hebamme streifte. „Na bitte“, sagte der Arzt und wischte sich mit einem Handtuch den Urin aus dem Gesicht. Er nahm den Jungen, wickelte ihn ins Laken, und legte ihn der Mutter vorsichtig auf den erschlaffenden Bauch. „Frau Valentin von Zach?“ Die Mutter schien ein Augenlid zu heben. „Sie haben einen gesunden Sohn“. Die Frau stierte wieder an die Decke. Das Kind hörte nicht auf zu schreien. Die Mutter hob nicht ihre Arme um es zu wiegen, um es zu streicheln und zu beruhigen, und in das knurrende Gebrüll fiel ein zweites Lautgeschrei ein, ein helleres, fröhlicheres Stimmchen, die glückliche Nachbargeburt. „Sie, schauns doch a mal dem Kind ins Gsicht“, sagte die Hebamme. Der Arzt stutzte. „Ach ja?“ Er nahm den schreienden Jungen vom Bauch der Mutter. Mit einer Hand fuhr er ihm am Rücken unter die Arme und hob ihn prüfend ins Licht. Dann ließ er den Zeigefinger langsam vor den verkniffenen Äuglein des Säuglings kreisen. Er zwickte ihn einmal in jedes Bäckchen und kräuselte eine Braue auf der Stirn. „Frau Valentin von Zach. Links hab ich, scheint´s, am Kopf an kleinen Nerv erwischt. Aber das macht nichts. Das lässt sich später einmal ganz leicht korrigieren“. Er legte ihr das Kind wieder auf den Bauch. Ihr Herz schlug langsam und gleichförmig. Die Frau sah weder den Arzt noch das Kind an. Ausdruckslos blieb ihr Blick an der Decke haften. Die Schwester nahm das Kind und brachte es in einen Raum zu den anderen Neugeborenen. Ihre Schritte hallten von den Wänden, eine Tür krachte ins Schloss. Ich schrie. Unter meinen Füßen triefender Torf. Über die Köchel will ich. Über die Wiesen hinweg und das hohe Schilf hindurch, zwei und eine halbe Stunde. Matsch, matsch. Gern hab ich sie gern gehört und oft, meine Stille. In der Nacht. Wenn die Tiere streunen und die Räuber rauschend Kreise ziehen, ihre Flügelschläge über dem ockernen Meer, wie sie fallen, wie sie tauchen, pfeilgrad. Ich höre das Wasser, wie es räumt, wie es fließt in seiner Tiefe, es weist mir den Weg zur Stelle der Stille. Horch: Der Iziwi. Iziwi Iziwi Iziwi! Zwei Tage hat der Mayerbär im Wagen gewartet. Er schlief auf der Rückbank, einmal quer und in sich eingerollt, einmal in Fahrtrichtung mit den Füßen auf dem gegenüberliegenden Rücksitz. Es war der braune 260er. Der hatte damals sieben Sitze. Zwei vorne und fünf hinten. Ein luxuriöses Vorkriegsmodell. Das Dach der Gastkabine konnte man öffnen. Landaulet. Heute würde man sagen: Cabriolet. Der Kühlergrill maß in der Länge über einen Meter. Über dem Schwung des rechten Kotflügels war der Ersatzreifen an der Motorhaube angebracht. Im Innern ist der kastenförmige Wagen sehr geräumig. Die eierschalenfarbenen Ledersitze in der Gastkabine frisch gefettet. Am hellen Edelholz der Fahrerkonsole prangen verchromte Knöpfe, es gibt ein Radio. Das Geld, das Mutter ihm gegeben hatte, bevor sie allein über die Straße und die Treppen hinauf gegangen war, reichte für Würstchen und Semmeln und zwei Halbe Bier am Tag. Fünf Mark. Der Mayerbär teilte sich das ein. Er wußte ja nicht, wann sie wieder kommen würde. Gern wäre er ins Wirtshaus gegangen. Aber er traute sich nicht weg vom Wagen. Warte hier, hatte sie zu ihm gesagt. Und der Mayerbär wartete. Seit er nicht mehr lebt, nenne ich Vater so, wie ihn alle nannten. Der Mayerbär. Eigentlich hieß er nur Mayer, und Mutter wollte, daß ich ihn Onkel nenne, Onkel Mayer. Aber mir gefällt Mayerbär. Das passt am Besten zu ihm. Er ist ein großer, hagerer Mann gewesen. Seine Schultern waren breit und knochig. Seine dünnen, sehnigen Beine stachen aus kurzen schwarzen Lederhosen hervor. Ich habe nie erlebt, daß er etwas anderes trug. Um die Waden klebten schmutzige graue Wärmer. Socken trug er nie, auch im Winter nicht. Seine Haferlschuhe waren mit Stahlkappen versehen. Ich stelle mir vor, daß er an diesem Tag sein weißes Rüschenhemd anhatte, darüber die mit Edelweiß und königlichem Wappen bestickten Hosenträger und den schwarzen Lodenjanker, als wolle er zur Kirchweih. Nur den Hut hatte er von seiner Alltagstracht behalten. Den nahm er nur zum Schlafen ab. Sein alter Filzdeckel. Er trug ihn bis zu seinem Tod. Schwarz und speckig war er, mit einem niedrigen Schaft und grobem Seil darum, das die Witterung an manchen Stellen aufgespleißt hatte. Der Mayerbär hatte den Hut schon so lange auf dem Kopf, daß er mit seinem knöchrigen Schädel längst verwachsen schien. Manchmal steckten Eicheln zwischen Schaft und Seil, Weizenähren oder eine Kornblume. Die breite Krempe des Hutes war zu beiden Seiten des Kopfes gebogen, auf der einen nach oben und der anderen nach unten, so dass der Hut dem Mayerbär etwas von einem Wilderer verlieh. Immer wieder lief er das gleiche Stück von einer Straßenecke zur anderen auf und ab. Manchmal sah er zu dem roten Klinkergebäude hinüber, in dem Mutter gebar. Nie wäre er hineingegangen. Der Mayerbär schritt den Wagen ab. Er lief um das Chassis herum und betrachtete den 260er von allen Seiten. Er polierte den Lack. Er entfernte Krümel, Laub und Steinchen mit spitzen Fingern von Sitzen und Bodenmatten. Er kroch ins Heck, in den Motor, kratzte Dreck und getrockneten Kuhmist vom Unterboden. Er blies die Zündkerzen sauber, spuckte aufs Chrom und wienerte es mit einem Lappen blank bis es geblitzt und geblinkt hat von allen Stangen und Kappen. Nie wäre er auch nur auf die Idee gekommen, in das rote Gebäude hineinzugehen. Der Mayerbär war kein Chauffeur. Er war ein einfacher Taxifahrer. Der Taxler von Murnau. Der Mayerbär, so nannte ihn auch Mutter. Aber sie betrachtete ihn als einen Chauffeur. Als ihren Chauffeur. Der Mayerbär war in diesen beiden Tagen nicht unruhig geworden. Er wußte, daß die Frauen länger lagen, wenn die Geburt sie zu sehr geschwächt hatte. Wär sie gestorben oder das Kind, hätt man ihn draußen schon benachrichtigt. Der Wagen. Sie würde es gern sehen, wenn der Wagen schön sauber wär, wenn sie wiederkäm. Glänzen soll alles, Vater war so stolz auf den Wagen. Von allen Erinnerungen meiner Kindheit ist mir die an den Mayerbär und seinen speckigen alten Deckel die Liebste. Seine Haut war von der Sonne dunkel gegerbt. Risse durchzogen seinen Hals und Nacken. Er hatte die Ohren eines Elefanten und eine krumme Nase, deren Spitze rötlich schimmerte. Furchen lagen unter seinen blauen Habichtaugen. Sein Gesicht war wie eine Holzschnitzerei. Es strahlte etwas Ausgemergeltes, etwas Heiliges aus. Der Mayerbär lief um den Wagen herum und wienerte und polierte und war überzeugt davon, daß sie ihm einen Jungen gebar. Er sah sie im Rückspiegel. Sie stieg die Treppe hinab und trug das Kind in eine Decke gewickelt auf dem Arm. Sie ging schwer. Sie humpelte. Sie schleppte sich die Stufen hinab. Ich schrie. Zwei Tage, hieß es, hab ich nur geschrien. Malträtiert hat sie mich damit, jahrelang. Der Mayerbär schob sich mit dem Zeigefinger den Hut in den Nacken, lief einmal um den Wagen herum und öffnete den Schlag. Die Tür quietschte. Mutter stöhnte. Ihr Platz war die Rückbank in Fahrtrichtung. Mutter ließ sich in den Sitz fallen und stöhnte. Mutter stöhnt entsetzlich. Sie ist Schmerzen nicht gewohnt. Der Mayerbär schloss die Tür, lief umständlich um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. „Was iss´n´?“ „Was?“ „Was iss´n´? A Bub?“ Mutter sagte nichts. „Koa Madel ned?“ „Wie bitte?“ „Ja was iss´n´ jetzt?“ „Ach so. Ein Junge. Es ist ein Junge. Er schreit dauernd.“ „Des her I. A Bub! Gott Sei Dank! Gut schreit er! Gsund schreit er!“ Der Motor sprang an, wie er gnagt, wie er glüht, ich schrie noch lauter und grub die Fäuste in Mutters Mantel. Das Chassis erzitterte, wie es ruckelt, wie es quietscht. Das Anlassen eines alten Diesels ist eine schreckliche Explosion. Der Meyerbär trat die Kupplung, wie es klopft, er legte den Gang ein, wie es kracht, ich schrie. „Etwas stimmt nicht“, sagte sie krächzend. Mutter hustete und wiederholte sich lauter. „Etwas stimmt nicht!“ Der Motor des 260ers ist durch nichts zu übertönen. Es ist ein Hämmern und Nageln, ein Gewindegewitter, furchtbares Kettenrasseln. Der Mayerbär würgte den Motor ab. „Was is´n? Was hat er denn?“, brummte der Mayerbär. Er sah ihr im Rückspiegel in die Augen. „Ich weiß es nicht. Der Arzt sagte, er habe einen Nerv am Kopf des Jungen getroffen.“ „Was schreit er denn so? Hat er Hunger?“, fragte der Mayerbär. „Ich weiß nicht. Er hört nicht auf.“ „Hastn´scho gschtillt?“ „Nein. Das mache ich nicht. Ich nehme mir eine Amme“, sagte sie. „Wieso am Kopf?“, fragte der Mayerbär. „Weiß ich nicht. Manchmal kommt es glaube ich vor, daß die Zange den Kopf verletzt“. „Was´n für a Zanga? A Kneifzanga?“ „Die Geburtszange. Er lag falsch rum“. „Aha.“ „Ich habe nichts davon mitbekommen. Es war alles kalt. Ich kann mich an nichts mehr erinnern“. Der Mayerbär ließ den Wagen an und setzte den Blinker, wie es teckt, wie es hackt, ich schrie. „Falsch rum?“, brüllte er. „Der Arzt musste das Kind im Bauch erst drehen und dann herausziehen. Mittels einer Geburtszange“, rief Mutter nach vorn. „Aha“, brummte der Mayerbär. „Jetzt ist sein Gesichtchen irgendwie schief“. „Schief?“ „Ja, ganz schief.“ „Ja was hat er denn? Warum schreitn´er nachad so?“ „Vielleicht der Nerv.“ „Wasn´ für a Nerv?“ „Fahr.“ Und der Mayerbär fuhr.
Überall gurgelt es hinein, von tausend Adern und Läufen, die zu Bächen sich bündeln, wie es japst, wie es schwatzt! Regenleiser Tropfentanz. Dort, wo sich das Wasser nicht mehr bewegt, ist das Moor gefährlich. Ich kann die Untiefen hörn. Den Sumpf. Horch: der weiche Schlaf des Urmeni. Von den Almen Glauglockl. Im Sumpf dichtes Frippfriep. Spinnengeigen in den Halmen. Es ist eine Gabe, hast du immer gesagt. Aber wenn´s doch eine Plag ist? Wenn ich sie gar nicht will, die Gabe, wenn ich sie doch gar nicht kann? Ich war die letzte Zangengeburt. Nach mir haben sie in Nymphenburg die Saugglocke gekriegt. Immer wieder träume ich, wie sie mich greift bei den Ohren. Wie sie zieht und zerrt, und dann spüre ich, wie sie meinen Kopf zusammendrückt, wie sie mein Leben verbiegt, wie sie mir die Gabe einzwingt, und dann will ich nicht hinaus. Ich bin ein Savant, sagst du. Ein seltenes Tier. Die Zange hat mein Gehör zerstört und neu zusammengesetzt. Sie hat meinen Schädel gespitzt und meine linke Gesichtshälfte gelähmt. Was ist das, ein Savant? habe ich dich gefragt. Ein Wissender, hast du gesagt. Ein Wissender ohne Wissen. Jemand, der eine besondere Gabe hat. Ein außergewöhnlicher Mensch. Es gibt nicht viele auf der Welt, hast du gesagt, nicht viel wie mich. Die meisten sind Spastiker, Epileptiker und Autisten, hast du gesagt. Sie können malnehmen schneller als jede Maschine. Sie können nicht allein über die Straße gehen. Sie hören Musik aus anderen Sphären und sagen tausend dicke Bücher auswendig auf. Sie bleiben Kinder, ein Leben lang. Sie wissen alles, und sie wissen nichts, hast du gesagt. Die Zange hat mein Gehör verändert, aber sie durchtrennte auch meinen linken Gesichtsnerv. Dort, wo er in den Schädel dringt und sich in drei Stränge teilt. Dadurch ist er außer Kraft gesetzt. Totgemacht und taub. Für immer. Ich bin ein Säugling mit zwei halben Gesichtern. Wenn ich lache, verzieht sich eines zur schiefen Grimasse, das andere bleibt starr. Wenn ich plärre, öffnet sich nur die rechte Hälfte meines Mundes. Wenn ich weine, kullern die Tränen nur aus einem Auge. Wenn ich murmle, hebt sich nur das rechte Bäckchen. Wenn ich schlafe, bleibt das linke Auge offen. Das ist wohl kein schöner Anblick. Ich bin ein Säugling mit einem putzigen, einem bewegten Gesicht und einer totenstarren Maske. Ich bin das kubistische Portrait eines Kindkopfes, zusammengefügt aus Ansicht und Profil. Ich werde ein Aussätziger sein in Murnau. Und doch werde ich den Ort niemals verlassen. Die Menschen in Murnau werden mir mit Argwohn und Häme begegnen. Ich bin ein Kalb mit zwei Köpfen. Geboren wie aus einer Kuh. Man sagt, die linke Gesichtshälfte ist die Gefühlsseite und die rechte ist die rationale. Aber im Gehirn geht es genau anders herum. Die linke Gehirnhälfte ist die rationale und in der rechten fühlt man. Es geht überkreuz. Meine Gefühle sind nur äußerlich gelähmt. Aber das weiß niemand. Mein Blick ist so kalt wie das Metall der Zange, wenn ich von ihr träume, meiner Zange, wenn ich sie spüre und den dumpfen Klang ihrer abrutschenden Löffel höre, das Klappern ihrer Hälse, ihr Klopfen an Mutters Bauch. Ich habe das bei meiner Geburt noch nicht als dumpfen Klang, Klappern oder Klopfen wahrnehmen können. Ich habe die ersten Töne in meinem Leben als Farben gesehen. Als blau, als rosa, als ultraviolett. Sie lösen in mir eine Folge von Farben aus, als schaute man durch ein Kaleidoskop in die Sonne. Es kann auch nur ein greller Schein oder bloß Dunkelheit sein. An diese Farben erinnere ich mich. Ich erinnere mich an ihren Schmerz. Vor allem Weiß. Weiß schmerzt vor allem. Ich kann noch nicht unterscheiden zwischen laut und leise. Jedes Geräusch erscheint mir bedrohlich. Weiß schmerzt mich am meisten. Aus dem Nichts auftauchendes, gleißendes Weiß. In meinem Gehirn klingt ein Tropfen, der in eine Wasserschüssel fällt, wie eine Explosion. Jedes ferne Flüstern durchdringt mich als wäre es unmittelbares Gebrüll, wenn es plötzlich auftaucht. Aber eine Feuersirene schmerzt mich nicht mehr wie das Schlängeln einer Viper im Moor. Es ist das Plötzliche, das die Intensität bestimmt. Gleichförmige Geräusche dagegen lösen einen lang anhaltenden, gleichbleibenden Farbton aus. Dieser scheint mir nichts anhaben zu wollen. Dieser bedroht mich nicht. Das ist meine Gabe. Ich kann hören. Ich kann euch alle hörn. Ich höre euer Innerstes. Ich höre eure Seelen. Das ist mein Fluch. Ich kann die Gabe ja nicht zurückgeben. Unter den Füßen tauber Torf. Tschwai, mordel, maschel. Zwei und eine halbe Stunde. Da lacht doch der Hämehä. Horch: eine Kastanie! Die fällt anders als ein Zapfen. Horch das Kanstern. Larven im toten Gehölz. Wie sie ticken, wie sie pochen. Wie eine Totenuhr.
Das Haus lag einige Kilometer westlich des Marktfleckens Murnau am Rande der Straße nach Kohlgrub. Der braune Wagen bog in ein kleines Waldstück, hinter dem die Auffahrt zum Haus führte. Es ist ein herrschaftliches Haus auf einer Anhöhe, von der man an klaren Tagen bis nach Ohlstadt und Eschenlohe sah. Unterhalb der Straße, die sich bergan scharf biegt, führt die Bahnlinie nach Oberammergau. Dort unten liegt ein Einödhof. Wieder darunter, das Schotterbett sinkt schon in die Walderde, die Bahnstation. Sie heißt wie der Ort, Berggeist. Die Station besteht nur aus einem Schild auf einem Streifen Wiese. Dahinter beginnt das Dickicht aus Brennesseln, Beerenbüschen, Hollunder- und Haselnusssträuchern. Seit die Mutter am Berggeist gebaut hat, trägt der Einödhof eine Hausnummer. Eins. Das Haus der Mutter hat die Nummer zwei. Der Wagen rollt über die Kiesel der Auffahrt, vorbei an den Kiefern und flachen Eiben. Er hält unter dem von bauchigen Säulen getragenen Verandadach. Umständlich läuft der Mayerbär um den ganzen Wagen herum um der Mutter den Schlag zu öffnen. Unfreiwillig beugt er sich dabei nach vorne, darauf bedacht, sich nicht zu tief zu beugen. Die Mutter stöhnt. Viel zu stark, viel zu tief holt sie Luft. Das Kind ist ihr schon jetzt eine Last. Ihr Leib schmerzt. Sie kann sich nicht erheben aus eigener Kraft, der Mayerbär soll ihr helfen. Er nimmt zuerst das Kind, sie lässt es geschehen. Sanft nimmt er es in seine Arme. Sie lässt es gehen. Sie richtet sich auf, um gleich wieder in den Rücksitz zu sinken. Sie wartet, bis der Mayerbär zurückkommt und auch sie trägt. Groß ist er und schlank und wild. Es wohnt Kraft in seinen dünnen Armen. Mühelos tragen seine Arme auch sie ins Haus, die Treppe hinauf, ebenso mühelos legen sie die Mutter auf das rote Plumeau im Vorraum ihres Schlafzimmers, auf dem sie sich ihm hingegeben hat, dieses eine, dieses einzige Mal. Sie wird sich jetzt zurückziehen. Er küsst sie, verhalten und ungelenk, wie er ist, auf die Stirn. Sie werde sich jetzt zurückziehen, sagt sie. Sie werde ein Buch lesen. Ein Buch über Landschaftsmalerei, sagt sie dem Mayerbär, sie weiß, dass er das nicht mag, dass er davon nichts versteht. Dann bezahlt sie ihn. Sie gibt ihm das Geld für die Fahrt nach München und zurück und für die ganzen zwei Tage, die er auf sie warten musste. Er kommt sich nicht schäbig vor. Er hat ja warten müssen. Er tat seinen Dienst, und jetzt hat er Durst. Er nimmt das Geld, sein Dienst ist beendet, er greift mit Zeigefinger und Daumen an die Krempe des speckigen Hutes, als wolle er ihn anheben, er lächelt linkisch und steckt mit der anderen die Scheine in die Krachlederne, dann entfernt er sich. Rückwärts wie ein Lakai. Mein Vater. Mir ist, als höre ich ihn. Gnädige Frau, sagt er, das ist seine Rache für das Landschaftsmalbuch, Gnädige Frau. Habe ich das wirklich gehört? Hab ich euch nicht alle gehört? Und wer hört mich? Hörst du? Wer hört mich? Die Tür ist zu. Mutter hört mich nicht mehr. Mordel, tschwai, maschel. Unter meinen Füßen schon sumpfiger Brei. Angst habt ihr vor dem Moor. Matsch, matsch. Wenn man im Moor versinkt, sinkt man langsam. Springe ich von einer Brücke, bin ich sofort tot. Ertrinke ich, geht es schnell. Aber verschlingt mich die Erde, geschieht das ganz langsam. Ich kann nicht strampeln wie in einem Wasser. Je mehr ich strample, desto stärker wird der Sog. Ich kann nicht schreien. Je mehr man schreit, desto ärger würgt die Schlange aus Morast. Man kann nur in die Sterne schauen. Urangst habt ihr. Vor dem langsamen, dem lautlosen Tod, der doch ist wie das Leben. Langsam legt sich die dunkle Masse auf die Haut. Pore für Pore. Kalt schlingt sie sich um Zehen, Ferse, Füße und Knöchel. Klettert Waden, Knie und Oberschenkel hinauf. Bald ist sie schon eine Zentnerlast. Nichts kann sie aufhalten. Sie wird sich um mein Geschlecht schlingen, um Hüften, Bauch, hinaufwachsen zur Brust, meinen Atem abschnüren, kneifen in Rücken und Zwerchfell, bis sie sich über den Hals stülpt wie ein eiserner Kragen. Lang dauert das, lang. Das Leben verschlingt langsam. Aber ich will noch weiter zurück. Bis nur noch der Kopf übrig ist über dem schwarzen Nichts. Ich will sehr weit zurück. Riechen kann man´s jetzt. Modrig, asch und fahl. Zurück zu meinem Großvater. Und hören kann ich´s wie eine Ruh.
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