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Kindbettfieber
1981 Über den Horner Marschwiesen leuchten die rot-weißen Funktürme des Senders Radio Bremen nachts heller als die Sterne. Auf diese Marschen zu, siehst du, min Deern, dit is de Marsch, un de ganße annere Welt is Geest, läuft eine schmale Straße, an deren Ende ein einzelnes Haus steht. Geht man vorne durch das Tor des Jägerzauns und an der Breitseite dieses Hauses entlang nach hinten in den tief liegenden Garten, so glimmt dort eines der kleinsten Feuer dieser Osternacht. Die zwei, die es schüren, sehen älter aus als sie sind, das Jahrhundert hat es nicht gut gemeint mit ihnen. Sie haben beschlossen, das, wofür sich einer schämen muss im Nachhinein, und was sie aus diversen Gründen aufbewahrt haben über all die Jahre, heute nacht zu verbrennen. Und während die Osterglocken im Petridom am Bremer Marktplatz zum lutherischen Gottesdienst läuten, so laut und eindringlich, dass es noch in Horn zu hören ist, füttern sie schweigend das Feuer, das sie unter dem Überdach der Verandadecke entzündeten, muss die Nachbarschaft ja nicht unbedingt mitbekommen. Schweigend, mit langsamen Bewegungen und das eine oder andere vergilbte Blatt noch eine Weile in der Hand haltend, entnimmt das Paar mehreren ausgefransten Körben und verstaubten Pappkartons Blätter, Fotos, Umschläge, Alben. Das wird einen schwarzen Rußfleck an der Verandadecke hinterlassen, denkt Elisabeth, deren silberne Locken sich im Alter wieder so wie in ihrer Kindheit kringeln, und ihr fällt wer weiß warum der Name nicht ein, während sie aufs Feuer schaut, heißt du Kaspar, Melchior, Balthasar, Rippenbiest, Schnürbein und ihr ist, als zeichne sich der Name Richard in den Flammen ab, dabei muss es heißen Rumpelstilzchen, denkt sie, so als sei sie nur eine Zuschauerin und beobachte das Feuer, wie die Müllerstochter, aus der heimlichen Ferne, während Friedrich, der sich sein Haar, das er noch trägt wie als junger Mann, nämlich künstlerisch, weswegen er es sich mehrmals am Tag mit einer kleinen runden Plastikbürste nach hinten und aus dem Gesicht streicht, daran denken muss, dass er mit seinem Bier, auf das er sich schon freut, warten wird, bis er wieder im Haus und in seinem Büro ist, bis das Feuer hier draußen alles und restlos mit seinen gierigen Flammen aufgefressen hat. Ein Foto nimmt er aus dem Korb und hält es in der Hand, verblasst mit den Jahren, ist das Motiv kaum noch zu erkennen, Morgenstimmung an der Vogelinsel, hat jemand mit zittriger Hand auf die Rückseite geschrieben, Friedrich wirft es auf den Scheiterhaufen. Dann nimmt er ein anderes Foto, darauf ist er selber zu sehen, als Kind und in einem Matrosenanzug, mit langen blonden Locken unter einer kleinen Kappe. Er sitzt auf einem Schaukelpferd und der Blick in die Kamera ist ernst. Friedrich muss schmunzeln, weil ihm plötzlich einfällt, was er als Kind lange geglaubt hat: Bei uns in Bremen werden die Babys vom Kranich gebracht.
1941 Acht Wochen ist die Geburt nun her, längst ist es Juni geworden, dieses Jahr ein Monat mit wunderbar lauen Nächten, richtig sommerlich, der will einem die vielen Ruhestörungen versüßen, die die Attacken der Feinde der Stadt bereiten. Henrich Abken. Auf diesen Namen haben sich Friedrich und Elisabeth um Gottes Willen geeinigt, das ist ein guter Name, und er hat Tradition. Alles ist mir recht, hat er leise zu Elisabeth gesagt, solange er nicht Adolf heißen muss. Das kleine Zwillingsmädchen wird auf den Namen Frieda getauft, da lässt Friedrich nicht mit sich reden. Die Orgel beginnt mit dem Vorspiel für das erste Lied, das steht auf Seite achtundfünfzig im Feldgesangbuch, das neuerdings vorne in der Kirche neben dem alten evangelischen Gesangbuch ausliegt. Das Land meiner Väter, in dem ich geboren, mein Deutschland behüte, allmächtiger Gott! Die rauschenden Wälder, die wogenden Felder, die blühenden Gärten behüte, mein Gott. Elisabeth schaut Friedrich von der Seite zu, wie er die Lippen bewegt, er tut ja nur so, als ob er singt. Gut, dass er seinen kriegswichtigen Posten hat, auch wenn er dafür in die SA hat gehen müssen. Er versucht zwar, sich zu drücken, wo er kann, und richtig blümerant wird ihm, das bemerkt Elisabeth schon tagelang vorher, wenn wieder einmal ein Treffen ansteht, vor allem einer der geselligen Abende ohne Damenbegleitung. So ein Schietkram, dass er dort noch nicht mal seine Zigaretten rauchen darf, die Nil gilt als anstößig, kommt ja aus dem Orient, allein das ist ein Grund zum Boykott dieses Vereins. Seit er zu denen muss, geht er gar nicht mehr gerne aus, auch nicht zu guten Bekannten, und wenn sie selber einmal, was doch inzwischen seltener als gelegentlich vorkommt, Besuch haben, verabschiedet er den mit bösem Unterton: Grüß mir alle netten Leute, dann hast du nicht viel zu tun. Aber dann sagt Elisabeth sich immer, besser ein Menschenfeind und hier bei mir, als verblieben auf dem Feld der Ehre. So eine Taufe, das ist eine Familienfeier im engsten Kreise, muss nicht Hinz und Kunz kommen, hat Friedrich gemeint, der hat ja jetzt das Sagen in der Familie, und er wollte keine Feier, nur das ist ein Punkt, darüber lässt Hinrike nicht mit sich reden, obwohl er der Taufvater ist und außerdem in der Partei. Aber er ist auch ihr Schwiegersohn und damit meint sie, die nach dem Tode ihres Gatten das Oberhaupt der Familie ist, darauf bestehen zu können, dass anständig gefeiert wird. Der Führer predigt zwar Entsagung und in der Weserzeitung stand auch, dass Verschwendung angezeigt werden soll auf dem Revier, aber man muss sich ja nicht allen schlechten Sitten anpassen. Tisch und Räume sind geschmückt, als Hinrike von zu Hause am Dobben zur Kirche gegangen ist, das Essen ist vorbereitet, ein zusätzliches Mädchen engagiert, die alte Dienstmagd Agnes kümmert sich um alles. Meine Güte, soll man sich in dieser schlechten Zeit denn überhaupt nichts mehr gönnen? Ein gutes Essen wird es geben nachher um eins. Agnes hat morgens, nachdem sie das Feuer im Herd entfacht hat, als erstes die Spinatsuppe aufgesetzt, die kann einige Stunden vor sich hin köcheln, der Hauptgang wird Kalbsbraten mit Spargel sein, ein paar Flaschen Wein sind noch im Keller, und zum Kaffee sind Petit Fours von der Konditorei Knigge geliefert worden. Hinrike hält den kleinen Jungen auf dem Arm, in seinem Taufkleid liegt er da und schaut unentwegt hoch zu ihr. Nun gibt es wieder ein Kind mit dem Namen ihres Vaters, und die Gischtaugen hat er auch von ihm. Sie fährt mit dem Finger über die Erhebungen der Stickereien, vier Generationen sind in diesem Kleid getauft worden, Henrich Abkens Name wird noch eingestickt, erst müssen sie die Zeremonie überstehen. Für die kleine Frieda ist ein eigenes Taufkleid angefertigt worden, etwas schlichter, nicht ganz so prächtig wie das alte Erbstück. Während sie zu dem Jungen hinunterschaut, wird Hinrike ganz müde plötzlich, es fallen ihr fast die Augen zu, und dann kommt die Erinnerung wieder hoch, an die Nacht, als sie ihre Elisabeth erwartete, ihre erstgeborene Tochter, deren Kind sie gleich über das Taufbecken halten wird.
1911 Am Vorabend zum Ostersonntag wird im Dom die Osternacht gefeiert, Punkt zehn vor elf beginnt die Brema als erste der Glocken mit dem Geläut zum späten Gottesdienst. Sie müssen früh ins Bett gehen, hat Doktor Bonus letzte Woche gesagt, damit Sie genug Kraft haben. Nachdem sie sich also kurz nach Sonnenuntergang ins eheliche Schlafzimmer begeben und dort ausgekleidet hat, setzt Hinrike sich im Nachtkleid hin auf die Kante ihres Ehebettes. Leise singt sie das Lied aus Humperdincks Oper. Abends will ich schlafengehn. Vierzehn Englein bei mir stehn. Weil eine Schläfrigkeit sich nicht einstellen will, öffnet sie die Schublade des kleinen Nachtschränkchens auf ihrer Schlafseite und nimmt die Zigarrenkiste heraus, in der sie ihre Fotografien aufbewahrt. Zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken. Der Deckel lässt sich ganz leicht hochheben. Zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken. Manche Fotografien haben den Geruch des Tabaks angenommen, der ihr jetzt in die Nase steigt. Vertraut ist der, gibt eine Ahnung von fremden Ländern, von den großen Windjammern im Freihafen, wo die Frachten aus Übersee und dem Orient gelöscht werden. Er kommt ihr jedes Mal entgegen, wenn sie die Tür öffnet zu den Geschäften an der Domsheide, die den Tabak in gerollter Form, als Zigarillo, Zigarre, Zigarette und Pfeifentabak, als Schnupftabak und zum Selberdrehen vertreiben. Zweie, die mich weisen, in das Paradeisen. Ein Geruch, der jeder Tageborenen gefällt und eine solche ist sie, denn schon ihre Eltern und Großeltern haben den Bremer Bürgereid abgelegt. Ein Foto nimmt sie in die Hand, aufgenommen wurde es mit einer großen, schweren Balgenkamera an einem kalten Morgen in einem Jahr vor der Jahrhundertwende, vom Vater, dessen Passion die Fotografie war, er muss gegen seine Gewohnheit früh aufgestanden sein. Das dicke Papier, ursprünglich mal schwarz-weiß, hat eine schmutziggelbe Patina, trotz eines Risses ist das Motiv gut zu erkennen, diese Landschaft im Norden, ein Fluss im Vordergrund, in seiner Mitte das Ufer einer Insel. Hell leuchtet der Schnee zwischen dunklen Bäumen und Büschen. Der Nachthimmel zu diesem neuen Tag liegt als rabenschwarzes Tuch da, einzig der Morgenstern blinkt, als sei er ein Loch, mit einer Nadel in die dunkle Decke gestochen, hinter der die Sonne immer wach scheint. Das Waldohreulenpärchen und der Steinkauz haben sich schon vor Morgengrauen zur Ruhe begeben, ihre Augen geschlossen, die Schnäbel in den dicken Federpelz gesteckt. Die anderen Vögel, wie das gelb leuchtende Wintergoldhähnchen und die Seidenschwänze, die am Tage nach einem nicht abgefallenen und verrotteten Zapfen, einem Rest leuchtender Winterbeeren, dunkelblauer Schlehen oder vertrockneter knallorangefarbener Vogelbeeren gesucht haben, schlummern auf ihren Schlafzweigen dem kommenden Tag entgegen. Auf Höhe der Stadt Bremen ragt ein toter Seitenarm der Weser wie ein Zeigefinger in Richtung Südost, die kleine Weser versickert dort in den Marschwiesen von Obervieland. Dort liegt eine kleine, dichtbewachsene Insel, sie wird im Volksmund die Vogelinsel genannt. Wie in jedem Frühjahr haben auch in diesem Jahr Hunderte von sibirischen Gänsen, Sing- und Zwergschwänen auf den Flutwiesen ihr Nachtlager aufgeschlagen, Fremdlinge, in den ersten Tagen des Aprils sind sie eingetroffen, zitternd vor der für sie ungewohnten Kälte. Zwischen den weißen und grauen Tierkörpern liegen kleinere, Krickenten mit grauen Schnäbeln und dunkelbraunem Gefieder, das nahtlos in die Farbe der Nacht übergeht, Schwärme von Kiebitzen und Wacholderdrosseln. Nie ist es so still wie kurz vor Tagesanbruch, nur zuweilen kommt das eine oder andere Stöhnen aus der Menge der Federn. Da zeigt sich ein roter Streifen am Horizont, es scheint ein Licht durch einen Spalt in die Nacht, und das Licht ist wie Musik, die mit dem Flüstern eines einzelnen Geigenbogens auf einer Saite beginnt, das Flüstern erweitert sich, wird zum Fluss aus Tönen und zu einer Orchestermusik aus den noch glücklichen und schon traurigen Tagen der jüngst vergangenen Jahrhundertwende, einer Musik, die verhalten daherkommt, als wollte sie sich ausbedingen, vielleicht doch und zwar heimlich davonzuschweben und so zu vergehen, als sei sie nie da gewesen. Das Schwarz wandelt sich, wird durch den kalten Nebel, der vom Fluss aufsteigt und sich am Ufer staut, zu einem Anthrazit, eben noch fast undurchsichtig, doch gleich lichter, schon sind Farben zu erkennen, einzelne weiße Haufen, die sich aus der Dunkelheit herausheben, die Schwäne, die nahe dem sicheren Feucht schlafen. Eine Unruhe geht von den Vögeln aus, deren Augen eben noch geschlossen waren, die zu schlummern schienen, sich wärmeren Fernen entgegenwünschten. Ein Schaben, Schnaufen, Schlurfen, Reiben, ein Gurren, Quaken, Zwitschern, Tschilpen, ein Schnattern, Klappern, Platschen, Räuspern, die winzige Lichtmenge reicht aus, die Vogelschar zu wecken und sie zum Morgengesang zusammenzuführen. Dann, bevor noch ein einziger Schritt getan wird, bevor noch ein einziger Flügel zittert, bevor auch nur ein einziges Lid die Pupillen freigibt, öffnen sie ihre Schnäbel und stimmen ein in diese Mischung aus Schlaflied und Schlachtruf. Anfangs leise und dann immer lauter werdend begrüßen sie die aufgehende Sonne, bis ihr Gesang sich dem nach und nach öffnenden Spalt, aus dem jetzt ein schweifendes Rosa quillt, als Freudenorchester offenbart. Die Töne steigen empor, verbinden sich zu einem großen Ganzen, legen sich als Ornament über die gefrorene Landschaft. Diese Musik lässt sich nicht notieren, aber eines Tages wird sie aufgezeichnet, in eine Schellackplatte gepresst und in einem Tonarchiv in Berlin bewahrt, die Königlich-Preußische-Phonographische Kommission sammelt die Stimmen der tierischen Untertanen ihrer Majestät Kaiser Wilhelm II. Aus der Flut der Stimmen und der Masse der befiederten Körper taucht ein einzelner Kranich auf. Er läuft zwischen seinen Vogelbrüdern hindurch zum Fluss, mit schwerelosem Schritt und immer schneller über das gefrorene Nass, um sich dann zu erheben, mit ausgebreiteten Schwingen fortzufliegen, der aufgehenden Sonne entgegen. Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebchen, trag ich dich fort, die alten Kastanienbäume am Kuhhirten ziehen unter ihm vorbei, den Krähenberg, die einzige Erhebung am Weserufer, streift er fast mit den Füßen, fort zu den Fluren des Ganges, dann überquert er die Weser an ihrer breitesten Stelle und schwingt sich hinterm Osterdeich über die Flut der Dächer des Ostertorviertels, immer höher schraubt sich der Kranich in den Morgenhimmel und, dort weiß ich den schönsten Ort, der Stadt entgegen, dort liegt ein rotblühender Garten, wer jetzt genau hinhört, kann den Rhythmus seiner auf- und abschlagenden Flügel vernehmen, im stillen Mondenschein, wie ein Herzschlagen, dies leise Rascheln, das dem Teppich des Gesanges eine Ordnung gibt.
1941
Die Orgel spielt die letzten Akkorde, begleitet vom schütteren Chor der Gemeinde, der Boden der Heimat, die Scholle der Väter, den Herd meines Hauses behüte, mein Gott, den Herd meines Hauses behüte, mein Gott. Jetzt steigt der Pastor auf die Kanzel und beginnt mit seiner Predigt. Hinrike, eben noch in Gedanken, horcht auf wegen des Namens, den der Pastor mehrfach erwähnt, Eberhard Suhling, der Patenonkel des kleinen Henrich Abken, Eberhard Suhling, der ein Held ist, wird gelobt ob seiner Gottesfurcht, ob seines Mutes. Solche Männer brauchen wir, das kann der Fernpate nicht hören, weil er gerade vor Amerika steht mit seinem U-Boot und womöglich in diesem Augenblick Schiffe vor New York versenkt, der Brief mit der Bitte um Patenschaft wird ihn erst nach seiner Rückkehr erreichen. Auf die Predigt folgt wieder ein Choral. Die Orgel ist heute irgendwie laut und durchdringend, zu schnell gespielt, sodass nicht alle mithalten können, Hinrike schon und auch Elisabeth, weil sie musikalisch sind, aber das Gros der Gottesdienstbesucher singt nicht mit, einige weinen. Familie Wilkens wird zur Taufe an den Altar gebeten. Hinrike steht auf, geht nach vorne, das Kind auf dem Arm, das ihr leicht vorkommt. Glücklicherweise hat es genug zu essen, Elisabeth hat soviel Milch, dass sie ihre Zwillinge satt bekommt und sogar noch abgeben kann an der Muttermilchsammelstelle von Sankt Josef. Pastor Grosknuth schöpft mit der Hand Taufwasser über Henrich Abkens Kopf, der fängt an zu brüllen. Genau in diesem Moment gehen die Sirenen los, Fliegeralarm, mon dieu. Während der Pastor noch den Segen spricht, flüchtet die Gemeinde schon aus den weit aufgerissenen Kirchentüren. Das ist jetzt der einundfünfzigste Luftangriff seit Beginn des Krieges, rechnet Friedrich im Laufen. Als Luftschutzwart kennt er das Verhalten im Falle eines Angriffs, falls zu Hause, immer den zugewiesenen Bunker erreichen, falls unterwegs, den Menschen folgen, die in Richtung eines Bunkers gehen, nie die Ausweiskarte vergessen. Am Domshof wurde ein neuer Bunker erst kürzlich fertiggestellt, dorthin gehen sie nun im Geschwindschritt, die Bomber sind nah, man meint sie brummen zu hören, vielleicht kommt das Brummen aber auch von der Aufregung all der Menschen, die geradewegs aus den vielen Kirchen der Innenstadt strömen. Über dem Brummen liegt einige Oktaven höher das Schrillen der Sirenen und das Sturmgeläut der Glocken, das lässt Friedrich aufhorchen, der Klang der Glocken ist dürftig, nur die Felicitas und die Hansa hört er, die Brema wird heute nicht geläutet. Am unkenntlich gemachten Rathaus laufen sie vorüber und an dem mit Steinen zugemauerten Verschlag, hinter dem angeblich der Roland gar nicht mehr verborgen ist, hoffentlich haben sie wenigstens eine Ersatzstatue aufgestellt, und siedendheiß wird ihm, als ihm einfällt, das man sagt, wenn der Roland vierundzwanzig Stunden nicht mehr an seinem Platz steht, verliert die Stadt Bremen ihre Freiheit. Als sie den Domshof erreichen, sind ihnen die zahlreichen Menschen aus dem Dom zuvorgekommen, der Bunker ist voll bis auf den letzten Platz, die Türen werden ihnen vor der Nase zugeschlagen, sie sind zu spät und sollen weiter zum Hochbunker an Fedelhören, aber bis dahin ist es weit, da schlägt Friedrich vor, in die Krypta des heiligen Veith zu gehen, er kennt sie, weil sie sie vom Luftschutz aus besichtigt haben, der Viertelwart hat gemeint, die dicken jahrhundertealten Mauern müssten einen Angriff überstehen, darum laufen sie jetzt zurück Richtung Liebfrauen, Pastor Grosknuth trägt den Schlüssel zur Krypta bei sich. Während Hinrike die steile Steintreppe hinunter geht, wird sie geschubst, dass sie stolpert und sich erst in letzter Sekunde halten kann mit dem Kind auf dem Arm, beschweren tut sie sich nicht, es ist ja gerade noch mal gut gegangen, das sind verkehrte Zeiten, Rücksicht kann man nicht erwarten, wenn jeder nur seine eigene Haut retten will. Seltsamerweise fällt ihr jetzt gerade die Spinatsuppe ein, die steht zu Hause neben den heißen Herdplatten, von denen Agnes sie vorsichtshalber genommen hat, bevor sie sich mit dem Mädchen eilends auf den Weg machte zum nächsten Bunker am Dobben, das Essen muss halt später aufgewärmt werden, wenn es überhaupt ein Später gibt, die dicken Gurken fallen ringsum fast ohne Unterlass. Die Gottesdienstbesucher lassen sich auf dem kalten Boden der Krypta nieder, die alten Leute dürfen auf den Grabdeckeln sitzen, und Pastor Grosknuth stimmt bei jedem Einschlag ein Gebet an, da falten sie die Hände und werden richtig so ein bisschen fromm. Denn in Bremen beedt se nich eher as bis das dunnert. Als Entwarnung gegeben wird, ist es mitten in der Nacht. Sie treten hinaus aus dem düsteren, feuchtkalten Raum auf den rauchverhangenen Marktplatz, das flaue Gefühl im Magen ist eine Mischung aus Angst und Kohldampf, denn Verpflegung gab es nicht in der Krypta. Der kleine Henrich Abken und seine Schwester werden schlafend getragen in die vom Feuer brennender Balken und Steine erfüllte Nachtluft, und etwas Feuchtes liegt wie ein Rest vom Taufwasser in den dunklen Locken, die ihre Köpfe bedecken. 1981 Die Asche, die sich kegelförmig aufgeschichtet hat wie zu einem Vulkan, glüht, verglüht, dient kaum zur Erhellung der Nacht, Papier verbrennt viel zu schnell, unwiederbringlich, ehe man es sich anders überlegt, sind alle Spuren beseitigt, treiben nur noch Fetzen mit Resten ausgebleichter Tinte, altmodisch verschnörkelter Schrift, ein Zettel mit einem Bibelzitat, ein Notenblatt mit der Patina der Jahrhundertwende und einige gezackte Fotoränder auf pudriger, hellgrauer Asche. Geräuschlos vergeht die letzte Flamme, die eben noch bläulich züngelte. Als alle Glut erloschen ist, liegt Erleichterung auf Elisabeths Gesicht, ihrer hellen Altfrauenhaut, die eben noch vom Feuerschein rot gefärbt war, was sie jung macht, lang hat Friedrich es nicht mehr gesehen an ihr, früher überzog manchmal dieser Schamschein ihr Gesicht, ob sie an jemanden gedacht hat, womöglich nicht an ihn? Dabei sind sie nun bald mehr als vierzig Jahre verheiratet, aber einen Verdacht hatte er immer, er hat nur nie etwas gesagt, er hat ja von früher her auch manches auf dem Kerbholz, und wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Das, was das Feuer übrig gelassen hat, die verbrannten Reste der verräterischen Memorabilien, die Fotos und die Briefe, wird morgen mit der gusseisernen Kelle in den Kohleeimer gefüllt, den sie im Heizungskeller aufbewahrt. Dem Garten wird sie den Aschdünger nicht verteilen, irgendetwas ist daran nicht ganz geheuer, es könnte etwas Seltsames aus der Erde sprießen. Friedrich geht schon vor in sein Arbeitszimmer, Elisabeth folgt ihm ins Haus, schließt die Verandatür von innen sorgfältig ab, schaut noch einmal hinaus in den nun dunklen Garten, schaut mit Gischtaugen, in denen immer noch der Name Richard steht, dann holt sie aus dem Vorratskeller ein kühles Pils und bringt es Friedrich. Ein Glas nimmt sie aus dem Bücherschrank, der einmal Teil war ihrer sehr üppigen Aussteuer, gelesen haben sie nicht viel, war ja gar keine Zeit dazu, warum sollte man dort Bücher reinstellen, und dann sieht das doch gut aus, die Galerie des blank geputzten Kristalls, Gläser, die schon zwei Weltkriege unbeschadet überstanden haben. Als sie sich hingesetzt hat, ganz schön erledigt ist sie, weil es spät geworden ist, bemerkt Elisabeth, dass hier auch mal wieder geputzt werden könnte, all die Spinnweben an der Wand, gut, dass niemand reinkommt außer der Familie, und gut, dass er entrümpelt hat, dass der ganze Kram rausgeflogen ist, dass die ollen Papiere und Fotos, die niemanden mehr interessieren, im Feuer gelandet sind. Friedrich sitzt in seinem Schreibtischstuhl und trinkt sein Pils, langsam und Schluck für Schluck. „Hörst du das, Elisabeth?“ „Nein.“ „Die Glocken läuten immer noch! Hast du´s gelesen in den Bremer Nachrichten?“ „Was denn?“ „Sie haben eine neue Brema gehängt ins Gestühl, die mochte ich immer am liebsten von den Glocken, sie hatte so einen satten, vollen Ton.“ „Du hast das früher schon erzählt, ich konnte sie nie auseinanderhalten.“ „Die alte Brema haben sie doch eingeschmolzen, im Juni 1941.“ „Sieh an, stand das in der Zeitung?“ „Ja, ich habe damals schon gemerkt, dass sie weg war, das stand da natürlich nicht in der Zeitung, aber dass etwas nicht mehr stimmte mit dem Klang der Glocken, das ist mir unangenehm aufgefallen.“ „Eigentlich seltsam, wo du doch sonst so gar nicht musikalisch bist.“ „Wir kamen aus dem Gottesdienst, es war die Taufe der Kinder, ein fürchterliches Gedränge draußen, und dann hörte ich es.“ „Dass du mich immer daran erinnern musst! Ich will nicht mehr daran denken. Warum lachst du?“ „Weißt du noch, wie wir den Kindern früher erzählt haben, dass sie vom Kranich gebracht werden?“ „Wieso vom Kranich? Vom Storch!“ „Nein, vom Kranich, das hat doch deine Mutter immer erzählt, dass sie bei deiner Geburt den Kranich gehört hat“. „Daran kann ich mich gar nicht erinnern“. „Läuten die Glocken noch?“ „Sei mal ruhig – nein, sie haben aufgehört.“ „Geh schlafen, Elisabeth, du wolltest doch morgen früh hoch.“ Sie will Ordnung schaffen, bevor die Kinder und Enkel zum Osterfrühstück kommen, darum muss sie vor den Vögeln wach sein, Friedrich bereitet sich später auf dem Sofa sein Nachtlager, da stört er ihren leichten Schlaf nicht. Elisabeth steht auf, geht zum Schreibtisch und küsst ihn zur Guten Nacht auf den Mund, den nicht nur der Pilsschaum bitter gemacht hat.
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