Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Sigrid Behrens, Autorin (Bild: ORF)
Sigrid Behrens
Diskrete Momente (Auszug)
Na los, Karl: erzähl deine Geschichte.
Erzählen, als gäb es eine Handlung. Als hätte ich etwas erlebt.
Du bist alt genug, da gibt es etwas zu erzählen. Sag, was sehen wir nicht.
Zum Beispiel: Wie ich mich selbst stehen sehe jetzt, auf diesem Balkon, dem meinen seit ungezählten Jahren: es ist keine Handlung, doch es lässt sich beschreiben. Als säße ich im gegenüberliegenden Gebäude am Fenster, das Zimmer unbeleuchtet, am Schreibtisch zum Beispiel, den Blick hinaus gerichtet in die Dunkelheit, auf den Balkon des gegenüberliegenden Gebäudes, und sähe dort einen Mann stehen auf seinem Balkon in tiefster Nacht, und fragte mich: ob der nicht friert. Ein Mann Anfang Fünfzig, den man am frühen Morgen das Haus verlassen sehen kann, in Eile täglich und immer verspätet, sehr früh den Weg zur seinem Auto suchend, wo es nur heute wieder steht, und müde aussieht auf seinem Gang. Dieser verlebte Mann, ich, verlässt täglich von neuem seine alte Wohnung, in der er einst zum Liegen kam, aus Zufall mehr vor zahllosen Jahren, nachdem er schon geboren wurde und aufwuchs in dieser Stadt. Dieser Mann, ich, der weiterhin wohnt in diesen zwei Zimmern, sich täglich von neuem zu vergehen an seiner immer gleichen Stadt: fährt morgens zum Bahnhof und kommt nie weiter, kommt nur wieder in seinen Anzug, an seinen Platz hinter dem Schalter, lässt täglich andere Menschen fahren, nur immer seinen Finger über Pläne, Tasten, Bildschirme, und rührt sich seit Jahren nicht mehr vom Fleck. Dieser Mann wird bezahlt für sein Bleiben und weiß mit dem Geld nichts anzufangen, die Wohnung, die alte, kostet ihn wenig, das Leben, das alte, will sich beim besten Willen nicht ausbezahlen lassen, es will abgesessen werden, ausgestanden, das, denkt das Leben, sei der Mann ihm schuldig nach all der Fahrerei. Weshalb er, dieser Mann, der sich Karl nennen lässt von seinen Kollegen, Schalternachbarn, Begegnungen, das nutzlose Geld am Tresen liegen lässt, allabendlich dieselben paar Schritte geht aus dem Bahnhofsgebäude hinaus und gleich wieder hinein in die Kneipe an der Ecke, ein schmaler Ort mit verrauchten Wänden, lächerlichen Wimpeln und einem verblüffend langen Stück Bar darin, verblüffend leer; »Zweite Heimat« steht über dem Eingang, und es versetzt ihm keinen Stich mehr, wenn er die klebrige Tür aufdrückt und den rostbraunen Filzvorhang beiseite schiebt, um sich in seine schmale Ecke zu stellen, weil er, dieser Mann, sich die Zumutung der zweiten Heimat allabendlich die Kehle hinunterrinnen lässt, scharf und fad zugleich, bereitwillig dieselben Gesten hinter dem Tresen begrüßend, die selben Wortfetzen streuend, das selbe Lachen im Mund behaltend, das selbe geheimnislose Schweigen, ehe er, dieser Mann, ehe ich diesen unheimlichen Ort wieder eintauschen gehe gegen das, was ich mir als erste Heimat untergeschoben habe nach all den Jahren, unter der Leuchtanzeige hindurch und hinaus, hinüber zum Auto, um die kurze Strecke dennoch zu fahren, systematisch, dem Alkohol in den Adern zum Trotz, fühllos, warm, als gäbe es hier etwas zu erfahren, eine Strecke, als sei es nicht der Inbegriff der Trostlosigkeit, einen sinnlos kurzen Weg mit dem Auto zurückzulegen, als hätte ich noch immer eine Hoffnung, diese wenigen Minuten Fahrtzeit kurzerhand in ein Risiko zu verwandeln, diese auswendig zu fahrenden Meter in einem Unfall enden zu sehen, beispielsweise, des Alkohols, der Nacht, der fehlenden Heimat wegen; als läge das Ende nicht schon seit Jahren hinter mir, »Le Terminus«, der hoffnungsfrohe Anfang, vor Jahren verlassen und eingetauscht gegen die Zweite Heimat wider Willen, zurückgekehrt in das, was erste Heimat war und nunmehr weniger ist als nichts: eine Anschrift, eine Gewohnheit, ein Balkon. Das ist meine Geschichte, du kannst sie in meinem Gesicht nachlesen, in diesem stumpfen Blick, in jeder Pore meiner Haut und in dieser nachlässigen Bewegung, mit der ich mir über die Augen fahre, über diese Falte, die eine, sorgfältig zwischen die Brauen gelegt von der sonst so tatenlos tätigen Zeit. Dies die einzige Bewegung, die mir bleibt; der Rest ist Bequemlichkeit, der Rest ist: nichts, ich sagte es schon, nichts, übrig, von früher.
Sigrid Behrens, Autorin (Bild: ORF)
Das reicht uns nicht, Karl. Wir sehen viel mehr.
Von wegen, die Nacht. Und darunter meine Hände, Füße. Mehr nicht. Die Scheinwerfer der Fahrzeuge, die die Stadt auch jetzt noch nach Süden verlassen. Nicht mehr als diese Art, den Blick regungslos schweifen zu lassen, eben weil sich nichts mehr bewegen lässt an mir, nichts weiter.
Aber was tust du da, Karl? Schaust dich an wie jemanden, den du auf dem Balkon des gegenüberliegenden Gebäudes betrachten kannst für eine Weile, dich fragend, dieser Mann, friert der nicht, und zurückgehen in dein dunkles Zimmer, das große, und denken: was für ein Mensch, der dort steht in der Mitte dieser Nacht, wie viel Uhr ist es eigentlich, drei, nein zwei; wie ein Leben, auf das du keinen Zugriff hättest, und das dich im übrigen nicht interessiert, soll er doch, denkst du, jeder muss sehen, wo er bleibt, und bleibt er wirklich und sieht nichts mehr, es hätte ihm doch freigestanden, jederzeit, der Weg zur Tür– Sag nur, Karl, warum bist du geblieben? Wozu diese Strafe?
Warum. Was für ein Wort. Weil–
Wozu?
Weil das, was ich nicht mehr sehe, aber glauben muss, beim Blick zurück in Schlaglichtern, Scheinwerferlichtern durch mein trübes Leben fährt, eine Geschichte, die sich ablesen lässt von meinem Gesicht, halte ich es in die Sonne, nehme ich es heraus aus dieser Dunkelheit, eine Vergangenheit, die meine, die sich noch immer gegen diese Gegenwart sperrt, gegen die Unbeweglichkeit des anbrechenden, abbrechenden Tages, gegen das ewig gleiche Spiel von: Aufstehen, Abgehen, Umdrehen, Zurückkehren, gegen den Weg und den Schalter und die Arbeit und die Nacht. Weil ich im Rückblick sehen muss, wie ich hängengeblieben war in einer Zeit, die ich für teilbar hielt zwischen ihr und mir. Die aber die meine war und nicht die ihre, so dass ich herausfallen musste aus ihr, als ich es endlich erkannte, um nie wieder zu landen auf eigenen Füßen und mich auf immer zu entfernen, von ihr wie von mir, seitdem, gefangen in diesem, meinem Schweigen; weil ich ihr das schuldig bin, diese Strafe: für sie.
Du sprichst in Zungen.
Mir fehlen die Worte.
Sie, die Zeit?
Ja. Nein. Sie, die Liebe, besser sie–
Oh.
–diese Frau. Die Spuren hinterlassen hat auf meiner Stirn, Fluchtpunkt dessen, was ich zu verbergen versuche in meinem Blick. Sie, die Zeit vor der Bequemlichkeit, in der ich noch gehandelt habe, anstatt mich nur behandeln zu lassen: von Umständen, Tagen und Stunden. Als ich noch selber Einfluss nahm. Was man gemeinhin Jugend nennt, oder Kraft oder Willen, was sich bis heute noch fassen lässt im verlogenen Wort Vergangenheit.
Verlogen nun gleich! Benutzest es doch selbst.
Weil es versucht, aus der Gegenwart zu verbannen, was sich auf immer daran bindet. Das Wort zu ersetzen durch: Gesicht, allein das wäre ehrlich. Schon Geschichte behauptet Lösung, wünscht sich Entfernung von sich selbst.
Sehr philosophisch. Woher, wohin, darum geht’s. Was du da treibst.
Woher, meinetwegen, ich sagte es schon: aus dieser Stadt. Geboren und aufgewachsen, Eltern gehabt und die Schule beendet. Ausgewachsen: in vier eigene Wände. Wollte von dort aus Jurist werden, das Rechte vom Falschen zu unterscheiden; blieb in dieser Stadt, der Umstände wegen und ihrer Größe. Doch Größe lässt sich teuer bezahlen, und die Eltern hatten auch andere Kinder. Weshalb ich mir eine Arbeit suchte, das Studium zu finanzieren: eine bewegliche Schicht, am besten nachts, die Vorlesungen nicht zu verpassen. Fand mich dann am Bahnhof ein, man suchte dringend Personal; sah mich schon bald als Schaffner durch schwächlich beleuchtete Flure wanken, quer durchs Land, und machte Strecke. Was für Zeiten: tags der Blick auf Paragraphen, nächtens in die Abteile hinein. Fremde Sprachen in den Ohren, den traumlosen Schlaf auf schmalen Liegen; Koffer heben, Fahrkarten prüfen, dünne Laken zu schweren Decken; und vor dem Fenster die leuchtende Nacht. Die immer länger wurde, mit der Zeit, wie der Gang in die Vorlesungen selten, und seltener noch der Weg zurück, vom Bahnhof heim in das reglose Zimmer; größer das Gefühl für das erste Licht des Tages, glänzend hin zum Horizont, auf verschlungenen Schienen, in nächste Ferne. Beim Einfahren des Zuges die Städte am Geräusch ihrer Gleise erkennen: klang Basel anders als Prag, Berlin Zoo anders als Wien West, anders das Geräusch der belgischen Waggons auf dänischen Schienen als der deutsche Zug bei der Anfahrt auf Paris. War ich heimlich zwischen den Orten gelandet, und immer daheim. War auf den Geschmack gekommen, kam an bei ihr.
Ihr, die Liebe.
Nein. Ja, ihr, diese Zeit. Mit ihr, Lucie. Dass ich vergaß, was Sinn des Ganzen gewesen war: das Studium zu finanzieren. Ließ den Preis des Studiums zum Hauptgewinn werden, vergaß die Hörsäle bei Tag zugunsten der Züge bei Nacht. Die Frage nach dem Wahren und Rechten verloren zugunsten einer Antwort, das Schöne betreffend; die alten Ziele, vertrauten Gesichter, die Freunde und Bekannten, das Leben bei Tag zugunsten der Fragen bei Nacht, all jener, die von den Bahnhöfen in die Züge flossen, Abend für Abend, tell me, what time– Kam selten zurück am frühen Morgen, die Tage heimlich zu verschlafen, das Sonnenlicht hinter Vorhängen verborgen, hier. War heimischer dort, zwischen den Grenzen, war nie zu erreichen; wurde schon nicht mehr angerufen, nahm folglich den Hörer nicht mehr ab. Legte mein Ohr an die Gleise stattdessen, das immer neue Quietschen spiegelglatter Schienen zu hören; gehorchte den Durchsagen aus fremden Worten, den Abschiedsgesten und mutigen Blicken, dem verhallenden Echo fremder Schritte, liegengeblieben jenseits der Abteile, beim Anfahren des Zuges, plötzlich erkaltet unter den hohen Gewölben der Bahnhofshallen. Wie schnell ein Gleis sich leeren kann. Die Türen schließen automatisch, und nur der Schaffner hat den Schlüssel; der Nachtzugschaffner gibt das Zeichen, allein damit hat er schon Recht, er ist der erste, den Zug zu betreten, der letzte, die Abteile zu prüfen, die geleerten Abteile voll abgestandener Luft, die Reste fremden Atems mitzunehmen am Ende der Reise, hinaus in den frischen Morgen, der seinen Absprung hört auf die Plattform fremdvertrauter Gleise, den Weg aus dem Bahnhof hinaus zu finden, wieder und wieder, den Klang der eigenen Schritte auf den nachtfeuchten Gehwegplatten, einen Ort zu suchen ganz in der Nähe, eine warmen Ort für den ersten Kaffee des Tages, ehe die Reise weitergeht, zurück vielleicht, in die nächste Nacht.
Woher, wohin, das war keine Frage. Man sah mich kundig und immer zur Stelle, man zahlte meinen Einsatz und schickte mich ans nächste Ziel, und das war es, was ich suchte: Ich war geschickt, ich war der Schaffner, ich hatte den Schlüssel, war folglich im Recht; das Studium war überholt. Das war meine Antwort. Man bot mir eine volle Stelle, ich nahm den Posten fraglos an, er war meinen Kenntnissen angemessen; allein die vier Wände, die alten, sie waren es nicht. Ich suchte eine neue Bleibe und fand sie, wo ich mich auch heute noch finde, Jahrzehnte später, heute: hier: einen Katzensprung vom Bahnhof entfernt, dem Ausgangspunkt, dem symbolischen Anker; ein möglicher Ort, zu dem ich einen Schlüssel besaß, die Haustür zu öffnen, den Briefkasten zu leeren, in die Wohnung zu treten; vier Wände, Dinge zu hinterlassen, Kleidung zu wechseln, nach dem Hörer zu greifen, folgenlos, und bei Anbruch des Tages ins Bett zu gehen.
Sofern ich kam. Dann allein und für wenige Tage, dann schlief ich aus und ließ niemanden ein. Geisterhafte Tagtraumphasen, unangebunden an das, was darüber hinaus Zielpunkt meiner Nächte war: eine Bar in Paris, einen Katzensprung vom Bahnhof entfernt, ein Ausgangspunkt, ein symbolischer Anker; eine Frau, zu der ich bald den Schlüssel besaß, ihr die Hand zu öffnen, die Tasse zu leeren, in ihr Blickfeld zu treten; ein guter Ort, um anzukommen, nach ihrem Herzen zu greifen, folgenschwer, ihr den Mund zu küssen und bei Anbruch des Tages ins Bett zu gehen.
Ist das Glück?
Was für ein Wort. Es war: eine unüberschaubare Verkettung glücklicher Umstände; es war: jedes einzelne Fahrtziel, die Wachheit bei Nacht, der Blick in die Dunkelheit. Das Niemandsland zwischen den Grenzposten. Die Kontrollen, unerbittlich. Dramen, wenn man sie besah, ich sah nicht hin; ich sah mein Schaffnerabteil, die dumpfe Nachtbeleuchtung und die ratternde Stille. Ich fuhr von Hamburg nach Basel oder Paris, von Köln über Brüssel nach Amsterdam, von Berlin nach Warschau, Wien oder Prag, lotete Grenzen aus zwischen ungleichen Ländern, Sprachen, Systemen, zwischen Abend und Morgen und Tag und Nacht. Das Gefühl für die Schwelle, jenseits des Ortes; der Geschmack für den Stillstand in Raum und Zeit; der immergleiche Halt auf den Nebengleisen, Express- oder Transportzüge vorbeizulassen: auch darin liegt Verbindlichkeit. Dass man wartet im Grenzgebiet zwischen zwei Ländern, Sprachen, Systemen, zwischen Morgen und Abend und Nacht und Tag, zwischen Aufstehen, Abgehen, Umdrehen, Zurückkehren. Dass man dennoch weiterfährt, nach einer Zeit. Dass ich fortwährend in Bewegung blieb.
Was aber war jedes einzelne Fahrtziel gegen die Strecke nach Paris. Die wachsende Vorfreude, spätestens beim Wartehalt nahe der Grenze, wenn der Zug sich wieder gen Süden neigt. Die Fahrt durch die Eifel, friedliches Land aus unbeseelt dahingestreckten Feldern und Hügeln, ein paar Erhebungen hier und da, hier eine Kirche, dort ein Turm. Dann plötzlich: die wachsende Ahnung der nahenden Stadt, kaum über die Grenze anschwellend wie das erste Leuchten des Tages, ein tonloses Beben hinter den Scheiben, das Häuser ballt und die Lichter der Straßen bündelt, bis dass es verwundert, wenn sich einmal die Fassaden der Gebäude von den Gleisen zurückziehen, offenem Gelände zu weichen, wenn es einmal keine Beleuchtung gibt, welche von außen, schonungslos, das Innere des Zuges erhellt; wenn dann die Nacht vergeht und der Zug einfährt von Norden in die Stadt, der Reise ein Ende zu bereiten, mich ankommen zu lassen in der Zweiten Heimat dieser Jahre, rasch mein Abteil zu räumen, die der Reisenden zu prüfen, aus dem letzten herauszutreten, als sei ich selbst zu Gast gewesen; die letzten Handgriffe zu überstehen, im Schlusssprung auf die vertrauten Gleise, das Geräusch meiner Schritte im überwachen Ohr; der zügige Gang vor den Bahnhof hinaus, die Luft des Morgens einzuatmen, und gleich wieder hinein in diese Bar, anzukommen, »Le Terminus«, endlich zurück zu sein bei ihr.

Ich habe es erst im Nachhinein benennen gelernt, das Glück dieser Zeit. Ein Wort, das zu denken ich mir verboten hatte, wie viele andere, diese Frau betreffend. Was das war, sie zu treffen. Wie das ging. Eines Morgens in eine Bar zu treten, den Kaffee zu bestellen wie tags davor in einer anderen Stadt, einer anderen Sprache, und etwas geschieht. Wie überhaupt: sich nahe zu fühlen einer Stadt, weil man in der Lage ist, einen Kaffee zu bestellen; wo das möglich ist, kann man so fremd nicht sein. Und etwas geschieht. So auch hier: bestellte meinen Kaffee am frühesten Morgen, wissend um ein kleines Fenster Zeit für mich allein, den halben Tag auf festem Grund, ehe es weiterging, zurück: und sah dieses Gesicht hinter dem Tresen stehen, den Hinterkopf verdoppelt von der Spiegelwand, daneben gespiegelt mich, meine eigenen, müden Augen, zufrieden der Tasse zugewandt; das Gesicht einer Frau, die sich schon nicht mehr dem Gast zuwendet, dem bereits bedienten, sondern den Blick wieder taucht in die Zeitung des Tages, die nächste Bestellung, den von Pendlern belebten, verspiegelten Raum. Wie seltsam, dachte ich später oft, wie diese Spiegel, welche Menschen und Gesten, Säulen, Passanten, Tische und Stühle so zahllos verdoppeln, wie sie den Raum nicht zu füllen vermögen, ihn vielmehr bloßstellen in seiner Leere, wenn man dort einmal allein erscheint, eine Frau zu suchen zum Beispiel, das vertraute Gesicht, wenn man die einzige Bedienung, einen Mann, um Auskunft bitten muss, nicht in der Lage, den Kaffee, den ungefragt vor den Händen, auf dem Tresen abgestellten Kaffee anzurühren, und sei es mit den Augen, wie seltsam, dachte ich genau einmal, dass man sich heimisch fühlen kann an einem solchen Ort, in diesem austauschbaren Raum, und plötzlich so unsäglich verloren. Und doch, so ist es gewesen.
Doch zunächst kam das Heim. Nicht sofort, versteht sich, nicht am ersten Morgen, als sie nicht mich besah, sondern stattdessen die Nachrichten des Tages, den Ministerwechsel, die Ölpreise, die Fahrradfahrer durch das Land; nicht sogleich gefunden: die zweite Heimat am Ende des Bahnhofs; aber bald. Paris war ein Ziel wie andere auch, ein Ausgangspunkt, ein symbolischen Anker, soweit; ich hatte mich nie daran gewöhnen müssen, die Stationen als solche zu betrachten, sie waren Teil meines Systems, eines Alltags, des meinen, der richtig war; so gut. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, einer Stadt den Vorzug zu geben, einen Bahnhof lieber aufzusuchen als andere, meinen Dienstplan danach auszurichten, dass sich dort eine Bar befand, ein Kaffee, den zu bestellen in ihrer Sprache mir zunehmend unverzichtbar erschien. Es muss einer dieser Morgen gewesen sein, dass sie ihren Blick liegen ließ auf mir, festzustellen, dass ich ihr gegenüber saß, wie so viele der anderen Nacht- oder Früharbeiter in meinem Rücken, wie schon so oft. Allein dieser Blick, etwas verschwamm vor meinen Augen, zog sich zusammen zu einem Bild, die Spiegelwand, ihr Hinterkopf, daneben mein müdes, zufriedenes Gesicht, vor allem sie mit ihrem Blick, wachsam gerichtet in meine Augen, fast ungerührt und mitten hinein. Eines Morgens hat sie eine Grenze übertreten, mich herausgeschaut aus meinem Zwischenstand, ganz unverhohlen, ganz leise. Sie habe es nicht gemerkt, sagte sie später, doch ich habe ihr nie geglaubt. Ich habe seit diesem Morgen diesen Blick gesucht, habe getan, was mir möglich war, ihn wiederzufinden, gerichtet durch meine Augen hindurch in meine tiefsten Tiefen; etwas war geschehen, mit mir, Undenkbares, Großes; es: geschehen: um mich. Nun war es an mir, zu handeln.

/Was ich tat, indem ich wiederkam. Begann das Undenkbare umzusetzen: den Dienstplan, die Arbeit anzulegen an dieses Ziel, die Fahrten wenn möglich an ihr vorbei. Kaum fiel es auf, war ich doch sonst mit allem zufrieden: nahm Uhrzeiten, Schichten wunschlos hin, ließ mich über den Kontinent scheuchen, bat niemals um einige Tage daheim, verbat mir Schlaf, jede Schonung; je dichter die Fahrten, je weiter die Strecken, desto besser war es um mich bestellt: sofern sie mich über Paris führten, solange man mir erlaubte, innezuhalten am »Terminus«, so lange wollte ich zufrieden sein. Der Rest an Entscheidungen blieb mir gestohlen, ich zog hemmungslos mit, zog pausenlos weiter. Spürte das Ende der Gleisbahnen auf, nach Südwesten hin zum Nordbahnhof; sah ihrem ersten Blick entgegen, dem Augenaufschlag über den Tresen, so wach bei jedem Wiedersehen, so zusehends müde, wenn sie nach einigen Nächten mit mir dennoch pünktlich ihre Schichten begann, die untauschbaren, ersten, die ihr in der Frühe gebliebenen waren: wach dann im Geiste, müde in den Gliedern, wenn ich, der fremde Freund, sie am Morgen zu ihrer Arbeit begleitete, meinen Kaffee vor ihren Augen zu trinken, mit ihr einen Blick zu wagen in die Nachrichten des Tages, gemeinsam am Tresen, auf dessen feucht gewischter Fläche unsere Unterarme festklebten, was wir, einander gegenüber, erst merkten, wenn wir uns anstießen, einer Nachricht wegen, eines Bildes oder eines Gedanken, wenn ich gähnte oder sie ihren Platz verließ, das zu tun, was ihre Arbeit war.
Und während ich sie zum Zielpunkt der meinen machte, legte sie die ihre um, arbeitete Schichten vor und nach, scheute sich nicht, mich müde zu erwarten, wissend, dass auch ich das Schlafen vertagte auf unbestimmte Zeit. Dass wir uns trafen am frühen Morgen mit ein paar Tagen im Gepäck, die wir uns schenkten mit großem Gähnen, sie auszukosten zwischen kühlen Laken, die Morgensonne auf geschlossenen Lidern, wortlos zufrieden, allein, zu zweien, als Insel inmitten fremder Stunden, wir–
Nahtlos verwobene Grenzgebiete?
–tatenlos glücklich–
Das Undenkbare als Handlung begreifend?
Ich handelnd, in meinen Augen, für sie: indem ich kam, wieder und wieder, für sie, mein Leben, in ihren Augen, verschoben, undenkbar, in ihrem Sinne–
Deinen Fluchtpunkt zu suchen in ihrer Nähe?
Als ob ich meinen Fluchtpunkt suchen ging in ihrer Nähe.

/Was ich nicht tat, weil ich nicht blieb. Verzichtete, das wirklich Undenkbare umzusetzen: ein gemeinsames Ziel mit ihr zu finden; zog es vor, das meine im Blick zu behalten: die Bewegung, das Reisen, den Weg durch die Nacht; die Strecken, die Städte, die Grenzen. Das Wiedersehen aber, die Sehnsucht, der Abschied; mein Kommen und Gehen, ihr Warten und Bleiben, all dieses hinter mir zu lassen zugunsten eines gemeinsamen Ortes, das war, was ich niemals zu suchen gedachte, was ich zu denken mir gar nicht verwehrte, weil es keinen Raum fand in meinem System. Wir trafen uns im »Terminus«, wir sahen uns in fremden Städten, sofern es ihr gelang, freie Tage anzusammeln, vorzuarbeiten für mich, wenn ich nicht fahren konnte zu ihr. Zwei kostbare Tage in Lyon, als wäre auch ich ein ferner Tourist; mehr zu sehen von Prag als das, was der Bahnhof davon zeigte, gemeinsame Blicke auf Wiener Fassaden, Brüsseler Märkte, Mailänder Gassen; das Wasser, in dem sich Rotterdam spiegelt, der Himmel am Abend über Turin, die Schönheit des Rheins auch bei Nieselregen. Wir waren gut im Abschiednehmen, jedes Wiedersehen blieb ein Genuss; wir wussten umeinander durch Raum und Zeit, wir hatten uns, wir hatten es gut. Doch sage ich: wir, und weiß nur um mich: Wie ich es genoss, sie in der Ferne zu wissen, in ihrer Ferne mir so nah; ihr Postkarten zu senden aus den Städten, die ich mit ihren Augen sah, Liebe Lucie, weißt du noch, Liebe Lucie, hier fehlst nur du, Liebe Lucie, so ist es wieder, Liebe Lucie, wann sehen wir uns. Die Gemeinsamkeiten zu suchen, zu erinnern, das unvermittelt Unverstellte, das gegenwärtig Handhabbare, jenseits all dessen, was ich als Bedrohung empfand: ein fester Ort, ein fester Kreis, ein gemeinsamer Raum, ein gemeinsamer Schlüssel. Terminierte Telephonate. Pflichtbewusste Bestandsaufnahmen. Zu Schaden gekommene Zweisamkeit. Statt dessen: wir zwei, mein kostbarstes Gut. Wir hatten keine gemeinsamen Freunde, hier kannte man mich, dort kannte man sie; allein wir kannten uns. Wir hatten Orte, die es aufzusuchen lohnte, weil sie uns ein Wiedersehen ermöglichten: meine Schienen, ihre Wohnung, dazwischen lag »Le Terminus«, dazwischen blieben immer wir.
Ihre Wohnung war ein schmaler Schlauch im Hinterhaus eines ungepflegten Wohngebäudes, nur wenige Häuserblocks vom Nordbahnhof entfernt: schmale Räume im Erdgeschoss, am Rande einer hohen Schlucht, ein imposanter, langer Flur, als verbänden sich hier zwei große Säle. Stattdessen gänzlich unverbunden: zwei kleine Zimmer, Erinnerung an die Gänge des Zuges bei Nacht; am Ende der Flucht, einander fern gegenübergelegt, höhlengleich: zwei Kammern. Deren Einrichtung mich stets von neuem verblüffte: die Art, wie sie das Bett gestellt, die Bücher sortiert, den Schrank verkleidet hatte; das alte Photo an der Wand, sie mit Geschwistern, dahinter ein Feld; der alte Wecker neben dem Bett. Dazu das fehlende Licht, die dumpfen Geräusch der zahllosen Nachbarn; vermischte Gerüche fern ihrer Quellen, auch sie, wie wir: fast ohne Spuren, in ihrer Mehrheit: unsichtbar; dazu der Blick in den Hinterhof, ein farblos hallendes Geviert, das der Concièrge am Morgen fegte, mit schmalen Lippen, großen Gesten. Wie gern kam ich zu ihr, wie wenig Bedeutung maß ich diesen Räumen bei; wie überraschte es mich, beim Wiederkommen Spuren meines letzten Besuches zu finden: ein achtlos vergessenes Kleidungsstück, gewaschen, gefaltet in ihrem Schrank; eine Zeitung, halb ausgelesen, noch immer auf dem Küchentisch liegend; einen Haken, den ich angebracht, ein Glas, das ich gespült, einen Stuhl, den ich umgestellt hatte. Stellte es fest und verlor kein Wort: ich hatte mein Herz verloren, darauf kam es an, und das Schweigen, in das sie meine Verblüffung hüllte, ich ließ mich davon nicht beirren. Wie auch von diesen Räumen: nicht, so heimisch ich mich darin fühlte, so sehr sie mich auch glauben machten, ich hätte kaum den Zug verlassen. Ein möglicher Ort: ich kam zu Besuch, ich kam nur zu gern, ich kam sogar, wann immer es ging. Der Schlüssel zu alledem lag bei ihr, sicher, versteckt; sie sollte ihn behalten.

Ein falscher Schluss, wie ich jetzt weiß; ein trügerisches Recht. Blieb ich allein zurück darin, mitsamt meiner stummen Genügsamkeit; derweil sie sich bald nicht mehr genügte, gänzlich allein, im Stillen, mit mir. Leise begann sie, nach mehr zu suchen, nach haltbaren Zeichen, Haken und Ösen, leise und fordernd mehr zu verlangen als gemeinsame Gänge von der Bar ins Heim, vom fremden Bahnhof ins nächste Kaffee, die versteckte Pension, das kleine Hotel; begann so die Zeit, in der sie beständig, verlässlich, zunehmend zärtlich, genug hatte: der unvertrauten, immer neuen Wege unter freiem Himmel, von meinen Schienen und ihrer Wohnung. Genug dieser Nähe nur für uns, in Anführungszeichen eingefasst, ausgespart aus Raum und Zeit, und sie darin im Atmen beengt: weil unsichtbar und weit entfernt, uns wirklich, deutlich, endlich zu zeigen, uns bleibenden Blicken auszusetzen, gar Haltungsfragen, die hätten geworfen werden müssen um unsere Schultern, auf das, was uns hielt, auf dieses befremdliche, mögliche: Glück. Dass sie vorschlug, nach all den zahllosen Orten mich endlich einmal bei mir zu besuchen, mich zu begleiten, heim, hier her. Was ich ihr lächelnd zugestand, wennschon mir allein der Gedanke missfiel, überfordert ich von diesen Räumen, stets von neuem von dieser Wohnung: ein Zufall beinahe, den Schlüssel zu halten, gelegentlich hineinzutreten, stehen zu bleiben in dieser Stadt. Diese Wohnung, zu der ich so selten die Tür aufschloss, wie beiläufig dann, wie lustlos geübt; jedes Mal bemüht, nicht zu stolpern, den Lichtschalter sogleich zu finden, die Türen von Bad und Küche nicht zu verwechseln, mich nicht zu wundern über Spuren, die ich wie bewusstlos hinterließ: den Haken, den ich angebracht, das Glas, das ich gespült, den Stuhl, den ich umgestellt hatte.
Und ließ sie also Eingang finden in das, was sie für die Entsprechung hielt: zu ihrer Wohnung, Heimstatt, Bleibe. Und sah sogleich das Befremden in ihrem Blick, die zunächst schüchterne, bald bekümmerte Suche nach etwas, das mir ähnlich sah, was diese Wohnung mit mir verband. Ein Bild an der Wand, womöglich von ihr; ein Buch, über welches wir gesprochen, ein Kleidungsstück, das ich getragen, einen Ausblick, den ich von Herzen beschwor; was diese Stadt zu bieten hatte, was mich darin hielt; wie es gewesen war, hier geboren zu werden und aufzuwachsen, Eltern zu haben, die Schule zu beenden. Wie nah der Bahnhof läge, rief sie aus, einen Katzensprung von der Wohnung entfernt, fast wie bei ihr; die Art, wie ich meine Kaffeetasse mit beiden Händen hielt, es sei dieselbe, lobte sie; unverwechselbar auch mein erwachender Blick, zögerlich in den gereiften Tag, auch meine Hände erkennte sie wieder, meinen Geruch, meine Stimme, stellte sie fest; ich nickte ihr zu. Das alles war da, sie sah es wohl, archiviert und unbeseelt, der Beweis lag in meiner Gegenwart; sie versuchte, mein Lächeln zu erwidern, sie suchte nach mir. Und fand wenig mehr als meine Schatten, nichts, was ihr meine Vergangenheit erhellt hätte, mein Leben ohne sie, meine Geschichte. Sie hielt mich für verschwiegen, hielt diese Abwesenheit für ein einstudiertes Spiel, ernsthaft, präzise ausgeführt; ein System, das aufzugeben ich im Stande wäre, sofern sie mich nur darum bäte. Allein das gab es nicht, kein System, keine Lösung; sie suchte vergeblich, ungläubig; sie verstand nicht, dass ich keine Wohnung besaß.
Später verzichteten wir, uns an diese Tage zu erinnern; als ihr Kollege im »Terminus« sie in meinem Beisein fragte, wie ihr meine Stadt gefallen habe, sagte sie nur, sie habe die Sprache kaum verstanden.