Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Katja Huber, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Katja Huber
"Sofija" Kapitel aus dem zweiten Roman (ohne Titel).
Seit einer Woche nun gab sich diese nichtsahnende Deutsche - überaus erfolgreich - die größte Mühe, sie von ihrem Plan abzuhalten, und das kurz vor der Vollendung. Nur noch lächerliche zwei Besuche hatte sie vor: bei Nummer 52 - Ilja Ilf[1] - und bei Nummer 147 - Aleksej Tolstoj. Natürlich war nicht die Deutsche allein schuld an der Verzögerung. Wenn Sofija sich nicht vorletzte Woche an ihren zwei freien Nachmittagen aus einer völlig sinnlosen Anwandlung heraus mit Chruschcov und Schostakovic beschäftigt hätte, wäre Aleksej jetzt schon hier. Die letzten Abende hatte Sofija damit verbracht, sich auszumalen, wie Tanja, die ihr nicht nur wie ein Geschenk des Himmels vorkam, weil sie einen russischen Namen hatte und nur ein Jahr jünger war als Aleksej, wie Tanja und Aleksej gleichzeitig im „Druschba“ angekommen wären, wie sie zu dritt ein Fest gefeiert hätten, wie sie all den Zweiflern und Lästerern ihren Sohn vorgestellt hätte, wie Aleksej Tanja allmählich kennen gelernt hätte, wie er sie dazu überredet hätte, in Moskau zu bleiben, wie sie ihn dazu überredet hätte, nie wieder aus Moskau wegzugehen, wie sie kurz darauf ein richtig großes Fest gefeiert hätten, zu hundert, nicht zu dritt, wie sie bald schon zu viert gewesen wären, zu fünft…

„Und stell dir vor, dieser Stas, er ist jetzt schon den zweiten Sommer hier, und das Singen und Schreiben haben wir ihm noch immer nicht austreiben können. Jede freie Minute, am Rand des Fußballfelds, in der Mittagsruhe, während alle anderen Kinder schlafen, oft noch vor der Morgengymnastik - ständig hat er etwas in ein Büchlein gekritzelt. Er hält sich wohl für einen Schriftsteller!“, las Sofija im Brief ihrer Schwester Ljuba, steckte ihn ins Kuvert und fing an, sich damit hektisch Luft zuzufächern und den Installateur zu verfluchen. Seitdem der letzte Woche gekommen war, um die Heizung auf
Sommerbetrieb umzustellen, herrschte selbst im Flur eine Temperatur von 32 Grad. Seitdem sie nicht mal mehr ihren Tischventilator hatte - irgend ein Gast mußte ihn gestohlen haben, während sie nur für wenige Minuten auf ihrem Stuhl eingenickt war - vertrieb sie sich ihre Zeit mit der Lektüre von Gedichten, die im tiefen Winter spielten. Oder mit Ljubas Brief, der so kühl war, daß sie selbst bei größter Hitze Gänsehaut bekam. Außer mit einem talentierten Schriftsteller namens „Gete“, der ein Gedicht mit dem Titel „Harzreise im Winter“ verfaßt hatte und in Deutschland wohl ähnlich bekannt war wie Puschkin in Rußland, hatte sich Sofija in ihrem 58jährigen Leben kaum mit Deutschen beschäftigt. Seitdem Touristen, nicht nur aus den benachbarten Staaten, sondern aus ganz Europa, aus der ganzen Welt, nach Moskau strömten, waren ihre regelmäßigen Busfahrten ins Zentrum immer seltener geworden. Irgendwann hatte sie sie - zugunsten wesentlich wichtigerer und notwendigerer Besuche - völlig eingestellt. Die wenigen Touristen, die sich eine Bleibe außerhalb des Zentrums suchten, die den Weg bis zur Botaniceskaja auf sich nahmen, bevorzugten den vorderen Teil des Hotels, das renovierte „Druschba eins“.
„Druschba zwei“ war billig, unrenoviert und inzwischen schon fast kein Hotel mehr. Die Gäste waren Dauergäste. Viele aus der Provinz, aus anderen Städten. Ursprünglich hatten sie sich hier einquartiert, um während der Suche nach Arbeit und Wohnung Geld zu sparen. Die Suche nach Arbeit hatten sie irgendwann aufgegeben, das Zimmer im „Druschba zwei“ war ihnen geblieben. Sofija arbeitete nun schon seit sieben Jahren als Deschurnaja[2], und in dieser ganzen Zeit hatte sich kein Deutscher hierher verirrt. Nur einmal, vor ein paar Wochen, hatte sie einen Nachmittag lang ein deutsches Fernsehteam durch die Korridore und in ein besonders heruntergekommenes Zimmer mit der Nummer 69 geführt. Irgendjemand hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, das Pop-Duo t.A.T.u. hätte während eines dreitägigen Moskauaufenthalts genau hier sein erstes Lied geschrieben. Und Sofija und die Übersetzerin hatten sich nicht die geringste Mühe gegeben, die Fernsehleute von ihrem Irrglauben abzubringen.
Sofija hörte ein Räuspern, drehte sich um. Vor ihr stand Tanja, im Gesicht ein Lächeln, in der Hand Teetasse und -beutel. „Entschuldigung, Sofija Alekseevna Fjodorova, könnten Sie wohl noch mal den Samowar anstellen?“
„Kind, vergiß die Fjodorova! Hier spricht man sich nicht mit Familien-, nur mit Vatersnamen an. Ganz abgesehen davon, daß man den Fjodorov sowieso vergessen kann. Ich zumindest habe ihn längst vergessen!“ Sofija legte den Brief auf ihren Sekretär, nahm einen Schlüssel vom Brett und ging die wenigen Meter zu ihrer Deschurnajawohnung. Wenn ich so weiter mache, wenn ich mich wieder mit ihr verplaudere, werde ich, noch bevor Aleksej zurückkehrt, in den zweifelhaften Genuß kommen, Wladimir Wladimirovic Putin zu besuchen!, dachte sie und sperrte die Tür auf.
„Hat Ihr Sohn geschrieben?“, hörte sie Tanja rufen. Sofija zuckte zusammen, aber anstatt zurückzulaufen, um den Brief ihrer Schwester in Sicherheit zu bringen, schaltete sie den Samowar ein. Tanja war viel zu anständig, als daß sie das Kuvert nach Absender und Adresse untersucht hätte.

„Ja, ein sehr schöner Brief! Stell dir vor, er will bald heim kommen. Wenn du noch eine, zwei Wochen hier bleibst, wirst du ihn kennenlernen!“ Sofija bemühte sich - Mittel- und Zeigefinger beider Hände überkreuzt -, sich auf die langsam aufsteigenden Luftbläschen zu konzentrieren. Eine richtige Lüge ist es ja gar nicht, erst neulich hat er geschrieben, nur daß sein Brief nicht schön, sondern furchtbar ist. Er will heim kommen, er darf nur nicht. Aber wartet nur, wenn ich erst mit Ilf und Tolstoj fertig bin, ist er erlöst, dann lassen sie ihn sicher gehen.
„In zehn Tagen läuft mein Visum ab. So lange werde ich mit Ihnen auf ihn warten!“, sagte Tanja, die jetzt direkt neben Sofija stand und ihr die Tasse hinhielt.
Anstatt einzuschenken, richtete Sofija ihren Blick auf die leere Tasse. Zum ersten Mal seit Monaten war sie letzte Woche ins Zentrum gefahren. Um sich, obwohl sie ihn auswendig kannte, noch einmal den Roman „Der Meister und Margerita“ zu besorgen. Schließlich gehörte Bulgakov zu den letzten drei Schriftstellern, die noch auf ihrer Liste standen, und die durften, so ungeduldig Sofija auch war, nicht nur einfach so abgearbeitet, sondern mußten zelebriert werden. Nach einem sonnigen Lesenachmittag an den Patriarchenteichen, nach einem kurzen Besuch auf den Eberbergen, von denen der Teufel ein letztes Mal auf die Stadt blickte, bevor er sie endgültig verließ, war sie, noch immer vertieft in die Lektüre, in den Trolleybus gestiegen, um sich auf den Rückweg ins „Druschba“ zu machen. Als Tanja ins Spiel gekommen war, mußte sich Sofija wohl irgendwo zwischen Großer Ust’inski Brücke und Soljanka Uliza befunden haben, doch schon völlig in Bann gezogen von der bevorstehenden Enthauptung des Vorsitzenden der Literaturgesellschaft durch eine Straßenbahn, hatte sie alles um sich vergessen. Bis die Busglocke und ein langes Quietschen ertönte, bis einige Fahrgäste durch die Gegend wirbelten, bis sie den Aufprall eines Körpers auf Metall hörte, die Augen öffnete, und eine junge Frau vor dem Trolleybus liegen sah.

Ruhe; vereinzeltes Seufzen; erstes erstauntes Gestammel wächst in Sekundenschnelle zu lautstarkem Fluchen an. „Sie ist mit offenen Augen direkt auf den Bus zu gerannt!“ flüstert ein alter Herr, der direkt hinter Sofija sitzt. Vor wenigen Minuten hat er eine kaum jüngere Dame von ihrem Sitzplatz vertrieben. Sofija ist sich sicher, daß der Anblick des reglosen Frauenkörpers bei ihm die gleiche Reaktion hervorruft wie vorher das vorwurfsvolle Jammern der vertriebenen Dame: ein Lächeln. Der Fahrer, der seinen Sitz verlassen hat, stellt fest, daß es ja kaum sein kann, daß aber offensichtlich keiner der Fahrgäste verletzt ist. Die Kontrolleurin schüttelt den Kopf, und Sofija überlegt, ob sie mit dieser Geste dem Fahrer widersprechen will oder ob sie einfach die Kontrolle über die Situation verloren hat. Die Türen öffnen sich. Ein etwa dreijähriger Junge stößt einen schrillen Schrei aus und übergibt sich dann in den Schoß seiner Mutter. Sofija, die ihr Buch fest umklammert hält, blickt noch immer auf die junge Frau, die völlig reglos auf dem Pflaster liegt. Keiner der restlichen Fahrgäste scheint von ihr Notiz zu nehmen. Die Menschen, die draußen einen Kreis um sie gebildet haben, starren, tuscheln, schlagen die Hände vors Gesicht. Niemand beugt sich zu ihr hinunter, niemand rührt sie an. Es ist weder eine innere Stimme, auf die Sofija jetzt einfach hören muß, noch eine göttliche Eingebung, noch ein simpel gefaßter Beschluß. Sie springt auf, verläßt den Trolleybus, durchbricht den Kreis der Schaulustigen, kniet sich neben die junge Frau und - die schlägt die Augen auf.
„Ich heiße Tanja Danka. Mein Name ist Tanja Danka. Man nennt mich Tanja Danka... Tut mir leid, ich habe wohl ein Signal übersehen“. Der Riemen der großen grünen Handtasche ist um ihre rechte Schulter geschwungen, die Tasche selbst liegt - genau so parallel wie die Arme - eng am Oberkörper an. Die dunklen Haare bilden einen vollkommenen Kreis um das blasse Gesicht. Jedes einzelne Körperteil- völlig entspannt und gleichzeitig aufgeräumt - scheint eher auf Leinwand arrangiert als von einem Unfall auf Pflasterstein geworfen. Sofija blickt auf Beine, Arme, Gesicht, und ihr fällt der Ausdruck „kein Haar gekrümmt“ ein. Der einzige Makel an diesem natürlichen Kunstwerk sind die Augen. Sie passen nicht zum Restbild. Strahlen keine Ruhe aus. Als wären sie müde und trotzdem erschrocken. Als hätten sie geweint, stundenlang.
„Ist alles in Ordnung?“
Sofija ergreift die Hand, die angenehm warm ist, und muß die, die fünf, sechs Sekunden eine fremde Sprache gesprochen, bevor sie ins Russische gewechselt hat, auch schon am Aufstehen hindern.
„Ich bin vollkommen ok!“ Tanja Danka schüttelt den Kopf, dann Arme und Beine. „Mir tut überhaupt nichts weh!“
Auch die Temperatur der Stirn gibt keinerlei Anlaß zur Besorgnis: nicht zu kalt, nicht verschwitzt, völlig normal. „Gedulden Sie sich wenigstens noch eine Minute!“, Sofija schiebt Tanja das Buch unter den Kopf, drückt sie - die schon wieder aufspringen will - sanft auf den Boden zurück, sucht ihren Puls, leiht sich Arm inklusive Armbanduhr eines Schaulustigen, und verkündet bald: „Vierundachtzig, das ist erstaunlich! Wenigstens aufregen müßten Sie sich doch!“
Tanja richtet sich langsam auf, schielt in Richtung des anfahrenden Trolleybuses. „Ich habe Glück gehabt. Mir geht's gut. Vielen herzlichen Dank!“
„Das heißt, ich soll,... ich kann Sie jetzt einfach so gehen lassen?“
„Natürlich!“
„Soll ich Sie vielleicht irgendwohin begleiten?“
Erst jetzt scheint sich ein unsichtbarer Vorhang vor den Blick der jungen Frau, zwischen sie und ihre Umwelt zu schieben. Die Augen, die seit dem ersten Aufschlagen rastlos durch die Gegend geflogen sind, trüben sich - als hätte ihnen der Vorhang das Licht genommen, das ihnen bis gerade eben noch ihren Glanz gegeben hat. Was gerade noch wach und beweglich war, ist jetzt müde und starr.
Sofija schlägt mit der flachen Hand auf Tanjas linke Backe, in hoher Geschwindigkeit und mehrmals hintereinander. „Tanja Danka, hören Sie mich?“
Ihr Gesicht bleibt ausdruckslos, ihr Atem, das kann Sofija am Auf und Ab des Brustkorbs erkennen, beschleunigt sich.
„Mädchen, du wirst mir doch hier nicht kollabieren. Schnell, komm zurück! Auch wenn es im Moment vielleicht verlockend erscheint, da drüben ist es auch nicht besser, schlechter sogar. Wenn überhaupt, findest du hier dein Glück!“
Geschafft! Der Vorhang schiebt sich beiseite, die Pupillen rutschen nach oben, drohen, ganz kurz dem Weiß des Augapfels zu weichen, und sind plötzlich doch wieder da, wo sie hingehören. Tanja Danka blickt Sofija Alekseevna an, so wach, so gesund, so geistesgegenwärtig wie ein wacher gesunder geistesgegenwärtiger Mensch nur blicken kann.
„Mein Glück? - Suche ich das?“
„Ist ja nicht so wichtig, jetzt. Kann man dir sonst irgendwie helfen? Soll ich dich begleiten?“
„Begleiten? Mich? Wohin denn?“
„Mädchen, ist wirklich alles in Ordnung? Sag du mir, wo du hin mußt, und ich kümmere mich darum!“
„Wenn Sie mir vielleicht einfach nur sagen könnten, wo der Bahnhof ist...“
„Der Bahnhof? Wir haben ungefähr zehn Bahnhöfe hier in Moskau!“
„In Moskau?“
„Alles klar. Du bleibst hier jetzt schön sitzen, und wir rufen dir einen Arzt!“
„Nein, keinen Arzt! Ich fühle mich wirklich gut!“ Tanja klatscht in die Hände, schüttelt erneut den Kopf, schnippt mit den Fingern, und reicht Sofija die Hand. „Vielen Dank, vielleicht können Sie mir doch helfen. Vielleicht haben Sie...Kennen Sie vielleicht ein Hotel?“
„Ein Hotel? Wirklich keinen Arzt?“
„Ja, ein Hotel, das nicht zu teuer ist.“
„Ein Hotel wüßte ich schon, allerdings ist es eine knappe Stunde von hier entfernt. Ich bin gerade auf dem Weg dort hin!“
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich mitzunehmen?“
„Meinetwegen. Und ihr Gepäck?“
„Gepäck?“
„Na, Sie müssen doch irgendein Gepäck haben, wenn Sie ins Hotel wollen?“
Die junge Frau schaut an sich herunter, als sie ihre - nur für eine Handtasche ziemlich große ziemlich grüne - Handtasche sieht, schließt sie die Augen. Keine Sekunde später öffnet sie sie wieder.
„Außer der“, sie umklammert ihre Handtasche mit beiden Händen, „habe ich nichts. Nehmen Sie mich trotzdem mit?“

„Sofija Alekseevna, sollen wir warten, bis das Wasser vollständig verdampft ist? Ich dachte, Sie hätten heute noch was vor?“
Inzwischen war sich Sofija ganz sicher. Ihr Sohn und Tanja mußten sich kennen lernen.
“Du hast vollkommen Recht, wir trinken Tee, und dann geht’s sofort los. Du solltest auf den Ostankino fahren, schau dir Moskau von oben an, das ist das beste Rezept, Abstand zu allen Sorgen zu bekommen - ich mache es wöchentlich! Oder geh’ in den Botanischen Garten, oder auf einen Friedhof. Es gibt so viele schöne Dinge, die nichts oder wenig kosten. Heute Abend bin ich wieder hier, und ich schwöre dir“ - Sofija hob die rechte Hand, und erst jetzt fiel ihr auf, daß ihre Finger noch immer überkreuzt waren - „du bekommst so viel heißes Wasser von mir, wie du willst.“ Langsam entkreuzte sie ihre Finger. „Vielleicht sollten wir aber auch einfach nur Bier trinken.“

An der Haltestelle Fernsehturm „Ostankino“, steigt Tanja aus dem Marschrutnij Nummer 9 aus. Obwohl sie nur einige hundert Meter entfernt ist, von dem Wahrzeichen Moskaus, das sie von allen Sorgen befreien soll, ist ihr Gesichtsausdruck nachdenklich, angespannt. Vielleicht überlegt sie sich, ob es klug war, Sofija Alekseevna anzubieten, das Bier für den Abend zu besorgen. Ihr Geldbeutel ist fast leer. Und das Geld, das in Nummer 70 unter ihrer Matratze liegt, wird auch immer weniger. Vielleicht ist sie unglücklich, weil sie gerne noch viel länger bleiben würde, bei dieser Frau, mit der sie bis vor einer Woche nichts zu tun hatte, mit der sie auch heute so gut wie nichts gemeinsam hat, und die doch genau die Nähe hergestellt hat, die Tanja jetzt bereits - beim Gedanken an ihre baldige Abreise - vermißt. Vielleicht ist sie einfach nur aufgeregt, wegen der Aussicht, Aleksej kennenzulernen, der in ihrem Alter ist, ein Schriftsteller, der nach zwei Jahren endlich heimkehrt, weil er seine Mutter vermißt. Vielleicht wundert sie sich darüber, daß sie nach Sofija Alekseevnas Vorschlag „Wenn du ihn heiratest, brauchst du kein Visum mehr“, zwar gelacht und „Das ist doch absurd“ gesagt, jedoch etwas völlig anderes gedacht hat. Vielleicht hatte Tanja aber auch, sicherlich nicht vorsätzlich, nicht neugierig, einen Blick auf den Brief geworfen, den Sofija Alekseevna auf dem Sekretär abgelegt hat, und dabei ganz unbewußt das Datum wahrgenommen, das ihr jetzt plötzlich bewußt wird.
1. Juli, 1998. Hat Sofija Alekseevna nicht behauptet, der Brief wäre eben erst angekommen? Oder hat Tanja das, was sie sich sowieso nicht merken wollte, einfach falsch in Erinnerung?
Inzwischen ist sie am Eingangsbereich vom Ostankino angekommen, und spätestens jetzt ist ihr Gesichtsausdruck eindeutig: Erstaunen. Auf einem Schild steht auf russisch, englisch und französisch: „wegen Renovierungs-arbeiten aufgrund des Großbrands im August 2000 bis auf weiteres geschlossen.“ Wo, denkt sich Tanja jetzt wahrscheinlich, nimmt Sofija Alekseevna wöchentlich Abstand von ihren Sorgen?

Sofija hatte es sehr eilig. Ohne das Schild „Global USA. Obuv’ Modnaja Odeschda[3]„, über das sie sich gewöhnlich zwei mal wöchentlich aufregte, auch nur zu beachten, rannte sie am Bekleidungscenter vorbei, überquerte die mit gelben Blüten übersäte Frühlingswiese zum Eingang des Neujungfrauenfriedhofs. Eigentlich hatte sie Tanja versprochen, einen original Sofija-Alekseevna-Löwenzahn-Honig zu machen, aber das hatte auch noch zwei, drei Tage Zeit. Vorbei an Nummer 35: Gogol, Nummer 165: Cechov, Nummer 19: Bulgakov, eilte sie zu Ilfs Grab, legte ihren Rosenstrauß nieder und zuckte verlegen mit den Schultern.
„Guten Tag, Ilja Ilf, ich habe mich um eine Woche verspätet! Aber was ist schon eine Woche, verglichen mit den 63 Jahren, die Sie hier liegen. Und was sind 63 Jahre Jenseits, verglichen mit den Jahren im Diesseits, die ich mit Warten verbracht habe. Aber das ist vorbei, fast! Am Donnerstag besuche ich Aleksej Nikolajevic, und dann habe ich Euch alle durch. Übermorgen wird endgültig jeder von Euch meine Geschichte kennen. Dann kann Aljoscha zurückkommen und mir seine erzählen. Aber wie Ihre Kollegen schon wissen, so eigennützig ist meine Mission nicht. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Ein neues Kapitel für Ihre „Zwölf Stühle[4]„. Sofija zog einen Zeitungsartikel aus ihrer Tasche und begann, ihn zu studieren. „In Moskau herrscht ein Stuhldefizit. Paul McCartney tritt heute zum ersten Mal auf dem Roten Platz auf, und es gibt nur 8000 Sitzplätze. Stellen Sie sich vor Ilja Ilf, heute morgen haben sie sogar bei uns im „Druschba“ angerufen und nach Stühlen gefragt. Alle öffentlichen Sitzplätze sind ausgebucht. Hier steht’s: >anläßlich des Konzerts von Macca und der Feierlichkeiten des Tages des slawischen Schrifttums und der 300jährigen Jubiläumsfeier von Sankt Petersburg.< Verstehen Sie? Stühle sind wertvoll, diesen Monat, auch wenn keine Juwelen in ihre Polster eingenäht sind! Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich diesen Artikel meinem Sohn geben. Ich bin mir sicher, er macht eine großartige Geschichte draus. Meine Güte, jetzt habe ich mich aber wirklich verplaudert. Dabei wollte ich mir doch nur Ihren Segen abholen. Gleich bin ich verschwunden, also: Ruhen Sie sich aus, und: Wünschen Sie uns Glück!“

Tanja liegt, den Blick auf den Ostankino gerichtet, auf einer ungemähten Wiese im Botanischen Garten, der, wie sie feststellen mußte, einfach nur ein Park ist. Dafür aber billig - Eintritt: keiner. Die letzten fünf Minuten hat sie damit verbracht, Löwenzahn-Blüten zu sammeln, in einer Plastiktüte mit Coca-Cola-Schriftzug, die sie für fünf Rubel an der Bushaltestelle gekauft hat. Sofija Alekseevna hat ihr versprochen zu zeigen, wie man aus Löwenzahn Honig macht. Wenn Aleksej erst zurück ist, hat sie dafür sicherlich keinen Kopf, also ist Eile angesagt. In etwa 2O Metern Entfernung sieht sie ein kleines Mädchen und einen Hund. Sie mit gelüftetem Kleid, er mit erhobenem Bein, pinkeln die beiden an einem Baumstamm. Tanja schaut auf die Wiese, in die Luft, auf ihre Coca-Cola-Tüte. Vielleicht überlegt sie sich, wie viele Milliliter Hunde- und Kleinkindurin, wie viel Mikrogramm Schwermetall schon auf jeder einzelnen Löwenzahnblüte gelandet sind. Tanja seufzt, hebt die Tüte über sich und schüttelt sie aus. Steht auf, sammelt die Zeitungsseiten ein, auf denen sie gelegen ist, will sie zusammenknüllen, sieht eine Schlagzeile, fängt zu lesen, dann zu lachen an. „Ostern, Pfingsten und Weihnachten auf einmal. Paul McCartney, Aleksej und die Demokratie!“, murmelt sie, knüllt die Zeitung zusammen, wirft sie in einen Papierkorb und macht sich auf den Heimweg.

Der Bomsch [5], der Obdachlose, der Tanja die letzten zehn Minuten beobachtet hat, ist bereits seit mehreren Stunden auf der Suche nach etwas zu essen und zu lachen. Mißtrauisch nähert er sich dem Papierkorb, zieht die zerknüllte Zeitung heraus, faltet sie auseinander, streicht sie glatt und liest: „Solange McCartney nicht auf dem Roten Platz gespielt hat, ist die Demokratie in Rußland nicht perfekt!“, sagt Alexander Gafin, Vizepräsident der Alfa Bank, Hauptsponsor des Spektakels!’-
„Ich lach’ mich tot!“, sagt der Bomsch, knüllt die Zeitung weniger sorgfältig zusammen als es Tanja vor ihm gemacht hat und läßt sie neben den Papierkorb fallen. Erst jetzt merkt er, daß er beobachtet wird. Von einem Hund und einem kleinen Mädchen, die nur wenige Meter von ihm entfernt im Gras sitzen. Der Hund wedelt mit dem Schwanz. Das Mädchen ruft: „Dürfen wir mitspielen?“ Der Bomsch zuckt mit den Schultern, dann geht er in die Knie. Hebt seine Fersen an und beginnt seinen Oberkörper zu wiegen. Vor, zurück, vor, zurück. Das kleine Mädchen kichert. Der Schwanz des Hundes wedelt nicht mehr. Der Bomsch läßt sich nach vorne fallen, stützt sich mit den Handflächen ab, kriecht auf allen Vieren im Kreis. Das Mädchen lacht. Der Hund beginnt zu knurren. Leise, dann immer lauter. Der Bomsch fängt zu bellen an. Das Mädchen verstummt. Der Hund winselt. Der Bomsch läßt sich auf den Rücken fallen, schaut in den Himmel, denkt „Wo sind nur all die Wolken hingekommen? Selbst die Wolken haben sie aufgeräumt!“, und fängt am ganzen Körper zu zucken an. Das Mädchen schreit. Erst „Hör auf!“, dann „Aus! Wir spielen nicht mehr mit!“, dann „Hilfe!“. Niemand spielt, niemand hört auf und niemand hilft. Der Hund zieht den Schwanz ein. Dann läuft er davon. „Warte auf mich!“, ruft das Mädchen und folgt ihm. Der Bomsch zuckt nicht mehr. Er liegt auf der Wiese, riecht Löwenzahn, sieht keine Wolken und schließt die Augen. „Scheiße! Nicht mal totlachen kann ich mich!“

„Übermorgen, Tanja, ist es so weit, ich habe mir für morgen frei genommen, um meinen letzten Besuch zu machen.“
Sofija hatte gerade ihr viertes Bier geöffnet und zum achten Mal auf Aleksej angestoßen, als sie beschloß, Tanja wenigstens in einen Teil ihres Planes einzuweihen.
„Ehrlich gesagt, verstehe ich kein Wort, Sofija Alekseevna, was haben Ihre geheimnisvollen Ausflüge mit Aljoschas Rückkehr zu tun?“
„Das kann ich dir erst verraten, wenn er wieder da ist. Nur so viel: Es gab unzählige Menschen, die ich in den letzten Jahren besuchen mußte, und ich habe mit Aljoscha ausgemacht, daß er zurückkommt, sobald die Liste abgehakt ist.“
„Welche Menschen? Verwandte? Freunde?“
„Sei nicht so neugierig. Ich habe schon genug verraten. Laß dich überraschen.“
Sofija lächelte. Dafür daß Tanja sich weigerte, auf konkrete Fragen zu antworten, stellte sie selbst ganz schön viele.
„Laß uns den Spieß doch mal umdrehen, Tanja, nur für ein paar Minuten. `Menschen, Verwandte, Freunde' - auch du mußt sowas doch haben. Aber genau so, wie ich dich kennengelernt habe, benimmst du dich auch jetzt noch. Als wärst du tatsächlich vom Himmel gefallen. Ich habe keine Ahnung, woher du kommst, und was du vorhast. Gib mir nur einen einzigen Anhaltspunkt, und ich werde dich nie wieder nach deiner Vergangenheit fragen!“
„Sofija Alekseevna, machen Sie mal ein bißchen langsamer, Sie fangen ja schon zu lallen an!“ Tanja griff nach ihrem leeren Bierglas, um es gleich wieder abzustellen. „Ich möchte Ihre Gastfreundschaft wirklich nicht mißbrauchen, und etwas vormachen möchte ich Ihnen schon gar nicht. Alles, was ich Ihnen antworten kann, auf die Frage, warum ich hier bin, ist: Ich weiß es nicht! Das müssen Sie mir einfach glauben, auch wenn ich es selber nicht richtig glauben kann. Für den Zustand, in dem ich mich gerade befinde, gibt es keine Erklärung, noch nicht. Sobald ich sie finde, werde ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen, egal wo ich dann bin. Das verspreche ich Ihnen!“
„Zustand? Du bist doch nicht etwa schwanger?“
„Blödsinn!“ Tanja versuchte, einen ernsten Gesichtsausdruck aufzusetzen, mußte dann aber doch lachen.
„Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, wirklich!“
Wart's ab Mädchen, auch ich kann mich in geheimnisvolles Schweigen hüllen, dachte Sofija während sie Tanja Bier nachschenkte. Die machte eine abwehrende Handbewegung und nahm dann trotzdem einen tiefen Schluck. Ist das seltsam oder typisch?, dachte sie. Je betrunkener Sofija Alekseevna wird, desto verzweifelter sucht sie nach Klarheit, zumindest, was mich betrifft. Selbst in ihrem Zustand kann sie doch nicht vergessen, daß Klarheit der größte Feind der Hoffnung ist...Ich bin selber betrunken! „Glauben Sie bloß nicht, daß Sie mich mit Ihrer Fragerei vom Thema abbringen können. Mindestens eine Antwort sind Sie mir seit letzter Woche schuldig. Wahrscheinlich habe ich sie sogar selber gefunden!“
„Da bin ich ja gespannt!“ Sofija merkte, wie sich ihr Gesicht rötete. Sie war ganz eindeutig aufgeregt. Sie spürte, daß Tanja vermutlich in der Lage war, ihr System zu durchschauen. Bisher war es so gewesen: sie hatte den Gästen ein Zimmer zugewiesen, und die hatten es in Empfang genommen. Keiner war auch nur auf die Idee gekommen, ihre Zimmerverteilung könne Methode haben. Nur Tanja hatte sich letzte Woche geweigert, die Nummer 70 zu beziehen. Sofija hatte sie erst nach längerem Hin und Her davon überzeugen können, daß es nicht anders gehe. Dafür hatte sie Tanja aber versprechen müssen, ihr spätestens nach einer Woche zu verraten, warum.
„Meine Größe. Ich bin exakt 170cm groß - und wohne im ersten Stock auf Nummer 70!“
Sofija wollte gleichzeitig erleichtert aufatmen und lachen, spuckte stattdessen aber nur einen Schwall viel zu süßes, viel zu starkes, lauwarmes Bier über den Tisch.
„Entschuldige, aber ist dir schon mal aufgefallen, daß zur Zeit kein einziger Liliputaner im Erdgeschoß einquartiert ist! Außerdem, woher soll ich wissen, wie groß du bist? Bevor ich mich nachts ans Bett meiner Gäste schleichen kann, um, während sie schlafen, Maß zu nehmen, habe ich ihnen doch schon längst die Zimmer zugewiesen.“
„Sie könnten aber auch einfach nur in ihren Paß schauen, den sie Ihnen zur Begrüßung in die Hand drücken!“, sagt Tanja und versuchte, während sie mit ihrem Ärmel Bier vom Tisch wischte, ihren Triumph zu verbergen.
„Genau das mache ich!“, sagte Sofija, allerdings interessiert mich nicht die Größe, sondern das Geburtsjahr - und bei den 100 Zimmern, die ich zu verwalten habe, funktioniert das wunderbar!“
Der Tisch war trocken, Tanjas Ärmel feucht, der Triumph stand ihr jetzt eindeutig im Gesicht.
„Und Sie wollen behaupten, daß im „Druschba zwei“ niemals zwei Personen mit dem gleichen Geburtsjahrgang wohnen, es sei denn, in einem Zimmer?“
„Keine Ahnung, wie’s die Deschurny in den anderen Etagen machen, aber wenn bei mir eine Doppelung auftritt, sage ich den Leuten, wir haben keinen Platz mehr!“
„Sofija Alekseevna, ich verstehe Ihr System, aber ich habe keine Ahnung, was dahinter steckt. Auf jeden Fall scheinen Sie ganz fest daran zu glauben!“
„Ich glaube. Sehr fest. Und nicht nur an die Macht der Zahlen. Morgen ist übrigens die 147 dran!“
Tanja wollte gerade Einspruch erheben, von wegen 100 Zimmer und was soll denn das für ein Jahrgang sein, doch Sofija öffnete das fünfte Bier erhob es, murmelte irgendetwas von „Tolstoj“ und „Nur erheben! Auf Tote stößt man nicht an!“, dann bot sie Tanja das „Du“ an.

Nach ihrem Besuch auf dem Neujungfrauenfriedhof war Sofija noch in die Klosterkirche gegangen, um eine Kerze anzuzünden und einfach nur in deren Flamme zu starren. Diesmal hatte sie sich nicht nur an ihr Versprechen erinnert, sondern eine ganze Plastiktüte voller Löwenzahnblüten gepflückt. „Heute aber wirklich zum letzten Mal!“, sagte sie und las laut und verächtlich „Global USA Obuv’ Modnaja Odeschda“. Vielleicht sollte ich mir den Namen doch notieren, um Aljoscha davon zu erzählen, genau so wie die Geschichte mit dem Stuhldefizit. Blödsinn!- bis morgen werde ich es kaum vergessen, und wie ich ihn kenne, wird er sich spätestens übermorgen ans Schreiben machen. Nicht wahr. Aljoscha? Morgen wirst du uns den ganzen Tag nur erzählen, was du erlebt hast, und übermorgen fängst du zu schreiben an. Übrigens: die Liste ist abgehakt, heute war - als allerletztes - Aleksej Tolstoj dran. Ich habe ihm verraten, daß gerade ein Nachtclub namens „Aelita“ im Zentrum eröffnet hat, und das 100 Jahre nach Erscheinen seines Buchs. Dafür hat er mir von seinem Namensvetter Graf Lew Nikolajevic erzählt. Der hat, genau so wie du, im Krieg gekämpft, er hat ihn genau so wenig verstanden wie du, er fand ihn genau so ungerecht wie du. Wenn er aber damals, vor 150 Jahren im Tschetschenienkrieg, genau so stur gewesen wäre, wie du jetzt, wenn er sich einfach geweigert hätte, zurückzukehren, hätte es „Anna Karenina“ nicht gegeben. Aljoscha, wie dumm du doch bist! Du könntest schon längst bei mit sitzen, und an deinem Jahrhundertroman schreiben. Ich habe dir ein Zimmer freigehalten, die Nummer 69 natürlich, Nur einmal habe ich dort ein paar reiche Leute rein gelassen, für eine halbe Stunde, aber dafür habe ich abkassiert. Und von dem Geld habe ich das Zimmer renoviert. Neue Tapeten, einen dunkelgrünen Teppich, sogar eine Schreibmaschine habe ich dir gekauft. Ich weiß ja nicht mal, ob du überhaupt mit Computern umgehen kannst, inzwischen. Also - alles ist bereit. Und eine Überraschung habe ich auch für dich. Ich sag es zum letzten Mal: Komm endlich heim, beeile dich, wir erwarten dich - morgen früh!

Tanja ist verkatert, außerdem hat sie kein Geld mehr. Was ihr geblieben ist, sind drei Gläser selbstgemachter Löwenzahnhonig, sonst nichts. Bis morgen, bis zu Aleksejs Ankunft muß sie also hungern oder auf Sofijas Kosten leben. „Heute Abend werden wir anständig essen und nichts trinken, ich möchte meinem Sohn morgen früh schließlich nicht als Alkoholleiche unter die Augen treten!“, hatte Sofija gesagt, bevor sie zu ihrem letztem Besuch aufgebrochen war. Sogar ihren Stadtplan hatte Tanja vergessen, was eigentlich auch egal war. Ohne Ziel hatte sie sich die letzten Stunden durch Moskau treiben lassen. War schwarz mit Metro und Bus gefahren, weil ihr Lieblingsverkehrsmittel, das Marschrutnyj, ohne Geld nicht in Frage kam. Irgendwann war sie am Eingang eines Friedhofs gestanden.
Tanja zuckt mit den Schultern und zieht eine Grimasse. Wirklich verwundert sieht sie nicht aus. Vielleicht fragt sie sich, wieso sie, selbst jetzt, da sie völlig planlos ist, ausgerechnet auf einem Friedhof gelandet ist. Ob alles und jeder, also selbst sie, so funktioniert, wie sich Sofija das vorstellt. Auf dem gesamten Friedhof ist kein Mensch zu sehen. Tanja setzt einen Fuß vor den anderen. Ihrer Körperhaltung, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gefällt es ihr hier gar nicht. Trotzdem schleppt sie sich durch die wie mit dem Winkelmaß gezogene Gräberfelder. Mit den verwunschenen Plätzen, von denen ihr Sofija vorgeschwärmt hat, hat dieser Ort nichts zu tun. Ein Grab gleicht dem anderen. Rechteckig, etwa zwei auf ein Meter, ein paar Plastikblumen, ein Holzkreuz. Der Friedhof muß ziemlich neu sein, nicht älter als zwanzig Jahre. Keine verwitterten Steine, keine efeuüberwucherten Gräber, keine Engel, Tauben, Denkmäler. Um wenigstens irgendetwas von Bedeutung zu tun, bleibt Tanja an einem der Gräber stehen. Nimmt zur Kenntnis, daß hier sogar Plastikblumen fehlen. Liest „Aleksej Michailovitch Fjodorov, geboren: 12.09.1969, Moskau, gefallen: 1989 Kabul, Afghanistan“.
Tanja bückt sich, nimmt eine Plastikblume vom Nebengrab, legt sie auf der nackten Erde vor sich ab. Sie richtet sich auf und verläßt den Friedhof.

[1] Ilja Ilf (1897-1937) sowjetischer Journalist und Schriftsteller.
[2] Deschurnaja: Bereitschaftsdienst(habende)
[3] Obuv’ Modnaja Odeschda: Schuhe, modische Kleidung
[4] Ilja Ilf veröffentlichte 1928 zusammen mit Jewgeni Petrov den Roman „Zwölf Stühle“, in dem sich der proletarisierte Adelsmarschall Ostap Bender nach der Oktoberrevolution auf die Suche nach den Familienjuwelen macht. Die sind in einem von 12 Eßzimmerstühlen versteckt, welche jedoch übers gesamte Land verteilt sind.
[5] Bomsch: bez opredeljennogo mesta schitel'stva: Obdachloser