Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Silvio Huonder, Autor (Bild: Johannes Puch)
Silvio Huonder

Es war ein Zufall, dass sie beide an jenem Juniabend ins Kino gingen und sich im Halbdunkel nebeneinander setzten. Sie kannten sich nicht.
Der Film war ungewöhnlich brutal. In einer hässlichen Szene zuckte die Frau zusammen und griff reflexartig nach dem Arm des Mannes neben ihr. Die Berührung löste ein angenehmes Gefühl bei ihm aus.
Bis zum Ende des Abspanns blieben sie in stillem Einverständnis sitzen. Als letzte verließen sie den Saal, gingen etwas trinken und anschließend zu ihr nach Hause. Im Schlafzimmer begannen sie sich auszuziehen. Bevor sie ganz aus den Kleidern waren, fielen sie übereinander her. Das Ganze war zielgerichtet und von kurzer Dauer, eine schnörkellose Paarung, vergleichbar mit einer geraden Linie zwischen zwei Punkten.
Als sie danach nebeneinander lagen, begann ihn zu frösteln. Die Frau hatte das Bettlaken zwischen die Beine geklemmt. Er hätte es hochziehen und sie beide damit zudecken können, aber er tat es nicht. Die Vertraulichkeit erschien ihm unpassend. Sie kannten sich ja kaum.
Ich möchte, dass du gehst, sagte sie.
Es war ihm nicht unangenehm, den romantischen Firlefanz wegzulassen, aber die schnelle Entwicklung überraschte ihn.
Nimm es nicht persönlich, sagte sie, aber ich kann nicht zu zweit in einem Bett schlafen.
Er zog sich wortlos an und verabschiedete sich.
Silvio Huonder, Autor (Bild: Johannes Puch)
Unterwegs winkte er ein Taxi heran. Auf der Fahrt nach Hause dachte er über die Begegnung nach.
Er war neununddreißig Jahre alt, die Frau war sechsunddreißig.
Er hatte eine befristete Stelle als Assistent im meteorologischen Institut, sie arbeitete als Filmcutterin für eine Produktionsfirma.
Paulmann, sagte sie. Sie hatte ihn mit seinem Nachnamen angesprochen, weil der, wie sie fand, zu ihm passte.
Er hatte ihr einiges erzählt über seine Teilnahme an einem Internet-Wetterturnier. Jeden Monat musste er Vorhersagen über Temperaturen, Niederschlagsmengen und Sonnenstunden einreichen. Ein Rechenprogramm verglich die Prognosen mit den tatsächlich gemessenen Werten und verteilte anschließend die Punkte. Im Augenblick lag er auf dem zweiten Platz.
Die Frau hieß Katarina.
Meine Arbeit kommt mir manchmal so sinnlos vor, hatte sie erzählt, dass ich Lust hätte, die ganzen fünfundsechzig Stunden Filmmaterial auf der Festplatte zu markieren und mit einem Mausklick zu löschen. Mir wird schwindlig, sagte sie, wenn ich an die vielen Einzelteile denke, mit denen ich mich den ganzen Tag lang beschäftige. Alles lässt sich in beliebiger Reihenfolge aneinanderhängen, sich aufeinander beziehen, lässt tausend verschiedene Bedeutungen entstehen, und wenn ich danach auf die Strasse hinausgehe, sehe ich auch dort nur Bruchstücke, ein beringtes Ohrläppchen, abblätternden Mauerputz, Reifenspuren, alles klar und deutlich, aber ohne Sinn und Zusammenhang, als wäre die Welt in abertausend Teilchen zersplittert - und ausgerechnet ich soll das wieder zusammensetzen.
Als sie nach dem Film am Bartresen standen und sich unterhielten, verkürzte die Frau den Abstand, den zwei fremde Menschen normalerweise einhalten, mindestens um die Hälfte. Sie stand so dicht vor ihm, dass er ihren Atem im Gesicht spüren konnte. Das gefiel ihm. Er fand es anregend und fühlte sich geschmeichelt, dass eine Frau so zielstrebig seine Nähe suchte. Es gefiel ihm auch dann noch, als er herausfand, dass es ihre Kurzsichtigkeit war, die sie so nah an andere heranrücken ließ. Etwa an den Barkeeper, bei dem sie ihr Getränk bezahlte.
Das Taxi brachte ihn nach Hause, und er hörte nichts mehr von ihr.

Das Juliwetter verlief sehr wechselhaft. Immer wieder geriet der Nordosten in den Einfluss neuer Tiefdruckgebiete, und das stabile Hoch liess lange auf sich warten. Paulmann hatte Tabellen und Diagramme um sich ausgebreitet und starrte auf den Bildschirm des Rechners, als das Telefon in seiner Tasche vibrierte. Die Frau, die er im Kino kennen gelernt hatte, wollte ihn wiedersehen.
Sie trafen sich in einem Café und tranken Tee.
Wie geht’s?, fragte sie, er sagte: Gut, und dir?
Ich bin schwanger.
Sein Löffel kreiste im Tee und ließ einen trichterförmigen Wirbel entstehen.
Wie meinst du das, fragte er.
Eine männliche Samenzelle, sagte sie, auch Spermium genannt -
Danke, ich bin aufgeklärt, unterbrach er sie, aber die Frau redete weiter: - hat die Wand einer meiner Eizellen durchbohrt, und die dreiundzwanzig Chromosomen dieser Samenzelle haben, ohne mich um Erlaubnis zu bitten, mit den dreiundzwanzig Chromosomen meiner Eizelle fusioniert.
Je länger er mit dem Löffel in der Tasse rührte, desto höher wurde der durch Reibung erzeugte Ton. Es konnte nur eine Möglichkeit geben, weshalb sie ihn ins Vertrauen zog. Diese Vorstellung behagte ihm nicht.
Was sagst du dazu?, fragte sie, er sagte: Was soll ich dazu sagen?
Sie ließ ihm Zeit und widmete sich ebenfalls dem Tee.
Wie sicher ist es denn?, fragte er nach einer Weile.
Ich habe einen Test gemacht, sagte sie. Danach habe ich einen zweiten Test gemacht, und heute hat meine Ärztin mir gratuliert.
Kann ich davon ausgehen, fragte er, dass die Tatsache, dass du mir von dieser Angelegenheit erzählst, damit zu tun hat, dass sie mich persönlich etwas angeht?
Sie beobachtete den Straßenverkehr vor dem Fenster und sagte: Das kannst du.
Er hob die Tasse mit beiden Händen zum Mund, spitzte die Lippen und blies über den Tee. Die Oberfläche kräuselte sich, und winzige Wellen schlugen an das weiße Porzellan.
Es war ein Versehen, dachte er. Zwei Menschen, die im Gedränge aneinandergeraten, eine Entschuldigung murmeln und ihre Wege fortsetzen, jeder für sich, jeder allein. Wieso sollte es in diesem Fall anders verlaufen.
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Schwangerschaft eine gute Idee ist, sagte er, wir kennen uns doch kaum.
Dass ich schwanger bin, ist keine Idee, sondern eine Tatsache.
Als sie zur Seite blickte, betrachtete er ihren Hals und die Stelle hinter dem Ohr, wo sich das Haar etwas dunkler kräuselte, und er erinnerte sich daran, wie gern er den Duft eingeatmet hatte, der dieser Stelle entströmte.

Der Sommer wurde heiß und trocken. Paulmann hatte etwas zu viel Regen vorausgesagt und fiel im Wetterturnier auf den dritten Platz zurück. Die öffentlichen Diskussionen über den Film, in dem sie einander begegnet waren, rissen nicht ab. Während auf den Feuilletonseiten und in den Talkshows über die ursächlichen Zusammenhänge von Gewalt und ihrer medialen Darstellung gestritten wurde, warteten sie beide auf eine Entscheidung.
Ende August saßen sie wieder im Café und tranken Tee - Eistee dieses Mal.
Die Zeit des Nachdenkens ist vorbei, sagte Katarina.
Er wusste nicht, ob sie etwas von ihm erwartete, aber er bildete sich ein, ihre möglichen Erwartungen alle erfüllen zu können.
Ich kann mir nicht vorstellen, sagte er, dass es irgendetwas gibt, was zwei erwachsene Menschen untereinander nicht klären könnten, worauf sie antwortete: Wir sind aber nicht zu zweit.
Das Licht der Abendsonne flutete durch die Fensterscheiben über die dunkelbraun gebeizten Kaffeehaustische und die ausgelegten Zeitschriften, über das weiße Geschirr, das blitzende Silber und den Rest der geschmackvollen Einrichtung.
Das Leben hatte ihnen bisher viele Möglichkeiten geboten: Jobs, Bücher, Filme, Kleider, Freunde. Selbstverständlich wollten sie auch frei darüber bestimmen, wann und mit wem sie ein Kind haben würden. Wenn überhaupt.
Die Zeit wird knapp, in der ich einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen kann, sagte sie.
Gibt es denn ein einziges Argument, fragte er, das für die Erhaltung der menschlichen Gattung spricht?
Dann ist es ja gut, sagte sie, worauf er fragte: Was soll gut sein?
Dass ich bereits einen Kliniktermin vereinbart habe.
Also ist es entschieden?, fragte er.
Ich habe die nötigen Vorbereitungen getroffen und einen Termin vereinbart. Entschieden ist es, sagte sie, wenn ich es hinter mir habe.
Und das alles, sagte er, nur weil du mich im Kino am Arm gepackt hast -
Du hast mich am Arm gepackt, sagte sie.
Nein!, sagte Paulmann. Du bist so erschrocken, dass du um dich geschlagen hast.
Weil du mich angefasst hast. Dein Frauenbild trübt dir wohl die Wahrnehmung, beendete sie die Diskussion. Am Ende bleibt sowieso alles an mir hängen. Euch Männer betrifft es doch nur am Rande. Egal ob ich das Kind abtreibe oder es behalte, es geschieht in meinem Körper. Ich habe die Schmerzen auszuhalten. Du hast es gut.
Du fürchtest dich vor den Schmerzen?, sagte er. Ist das dein Problem?
Es geht nicht bloß darum, sagte sie, aber es ist bezeichnend, dass es so ist.
Ich versuche alles mitzutragen, entgegnete Paulmann, wenn du mir sagst, was ich tun soll -
Das ist es ja, als Mann kannst du mir das nicht abnehmen. Du kannst es nicht einmal verstehen. Für dich ist es ein abstraktes Problem, ein Gedanke. Du begreifst es nicht, weil in deinem Körper nichts geschieht.
Ja ich weiß, sagte er, ihr Frauen habt ein Monopol auf das Leiden, auf die Schmerzen. Ihr seid die Opfer, das Geschlecht mit dem Körper. Wir Männer haben es ja so einfach. Du willst meine Unterstützung und Solidarität? Die kannst du haben. Ich biete dir folgendes an: Für jede Abtreibung, die du erdulden musst, lasse ich mir einen Finger abschneiden.
Ihr Streit war wie aufkochende Milch, die langsam über den Topfrand schäumt, dabei verbrennt und einen üblen Geruch verbreitet.
Du willst einen Finger opfern, wiederholte sie leise, damit ich abtreibe?
Das wäre ein angemessener Ausgleich, sagte er trotzig. Du sollst nicht die Einzige sein, die dabei leiden muss.
Na großartig!, sagte sie. Das nennst du Unterstützung.
Natürlich nur unter der Voraussetzung, schränkte er ein, dass ich für das Unglück verantwortlich bin und nicht etwa irgendein anderer.
Im Augenwinkel bemerkte er eine flüchtige Bewegung, aber bevor er ausweichen konnte, schlug ihre Hand in sein Gesicht.
Da hast du deinen Schmerz!, sagte sie und ging hinaus, ohne zu bezahlen.

Die Haut an der Wange brannte.
Noch nie hatte eine Frau ihn geohrfeigt.
Auf dem Tisch lag eine Ausgabe der National Geographic, die er weggelegt hatte, als Katarina das Café betrat. Er nahm die Zeitschrift wieder in die Hand und schlug den Artikel über einen nordamerikanischen Indianerstamm ein zweites Mal auf: Wenn ein Stammesangehöriger um einen geliebten Menschen trauerte, las Paulmann, schnitt er sich als Zeichen des Schmerzes einen Finger ab. Den Zeigefinger für den Vater oder die Mutter. Einen kleinen Finger für ein Kind. Auf einem Gruppenfoto war zu sehen, dass die ältesten Indianer keine Finger an den Händen hatten. Nur noch Stummel.
Dass er Katarinas Eistee bezahlen musste, machte Paulmann einen Moment lang glücklich.
Zuhause in seiner Wohnung ging er von der Küche ins Zimmer und wieder zurück in die Küche und dann wieder ins Zimmer. Er versuchte, Katarina auf ihrem Mobiltelefon zu erreichen. Sie hatte es ausgeschaltet, vielleicht war auch der Akku leer. Schwer und unbeweglich lagen die Dinge an ihren Plätzen. Ein Topf mit Essensresten, leere Flaschen, hart gewordenes Brot. Den Rest des Nachmittags verbrachte er auf dem Sofa liegend. Er wollte mit Katarina reden und von ihr hören, was sie nun vorhatte, aber ihr Telefon blieb ausgeschaltet.
Am Abend verließ er die Wohnung und machte sich auf die Suche nach ihr. Die Sonne verblasste im orangefarbenen Dunst, versank hinter den Dächern und ließ ein kalt schimmerndes Blau zurück. Ein einzelner Stern begann zu funkeln. Es roch nach verschüttetem Bier und der Abluft aus der nahen Kaffeerösterei. Paulmann stand vor Katarinas Haus und sah zu ihrer Wohnung hinauf. Niemand antwortete, als er an der Sprechanlage auf ihr Namensschild drückte.
Er schlenderte ein Stück die Hauptstraße zurück und betrat einen Getränkeladen. Der Wodka würde ihm helfen.
Wenige Schritte vom Ausgang entfernt schraubte er die Flasche auf. Der erste Schluck entzündete ein wärmendes Feuer in seiner Brust.
Abends um elf war sein Kopf schwer geworden. Die Zimmer von Katarinas Wohnung waren dunkel geblieben. Er wusste nicht, ob sie nicht zuhause oder schon zu Bett gegangen war. Ans Telefon ging sie nicht. Der grasbewachsene Mittelstreifen lag vor ihm wie ein langer fliegender Teppich. Der Verkehr rauschte auf beiden Seiten an ihm vorbei. Die Flasche war bald leer. Es waren schon einige Jahre her, dass er in so kurzer Zeit eine solche Menge Alkohol in sich hineingekippt hatte. Etwas in seinem Kopf beobachtete nüchtern, wie sein Körper versuchte, das Gleichgewicht zu halten.
Er hatte Katarina einen Vorschlag gemacht. So sollte es auch geschehen. Auch wenn sie es nicht von ihm erwartete. Er wollte konsequent sein. Er wollte ihr zeigen, dass er kein leichtfertiger Mensch war. Opfer mochten dumm und grausam sein. Trotzdem waren sie notwendig. Das Lamm, die Witwe, der Sohn – sie mussten sterben, damit die Götter besänftigt wurden, das Schicksal milde gestimmt.
Wozu braucht man zehn Finger, sagte er. Sind es nicht gerade deshalb so viele, damit man den einen oder anderen verlieren kann? Er war kein Klaviervirtuose, und mit einem Mal wusste er, was er tun würde. Es war nicht mehr länger hinauszuschieben. Paulmann ließ die leere Flasche ins Gras fallen und wankte vor der nächsten Welle heranfahrender Autos über die Straße.
In der Nähe seiner Wohnung ging er auf den Eingang eines hell erleuchteten Copy-Shops zu, wo eine junge Frau zur späten Stunde noch am kopieren war. In der hinteren Ecke des Raumes stand die hydraulische Schneidepresse.

Als der Wecker morgens neben ihrem Bett klingelte, war Katarina sofort wach. Um elf war ihr Termin in der Klinik. Sie blieb eine Weile im Bett liegen und berechnete, wie viel Zeit sie brauchen würde, um aufzustehen, Kaffee zu machen, zu duschen, sich anzuziehen und hinzufahren. Sie kam zum Ergebnis, dass sie genügend Zeit hatte, und betrachtete die Birke vor dem Schlafzimmerfenster, die hellgrünen Blätter, die im Wind wirbelten, während sie in ihrem Bett auf eine Eingebung wartete, auf einen Gedanken, eine Erkenntnis, eine innere Stimme - auf irgendetwas, was sie zu einer Entscheidung veranlassen würde, für das eine oder für das andere. Als es so weit war und sie nicht mehr länger warten durfte, rührte sie sich immer noch nicht. Ohnmächtig und gleichzeitig wach blieb sie in die Decke gewickelt liegen. Sie wusste, dass sie nun zu spät kommen würde. Ihr wurde heiß, als hätte sie Fieber. Elf Uhr ging vorüber, sie schlief wieder ein, träumte seltsame Dinge, wachte auf, blieb mit offenen Augen liegen. Der Termin war ungenutzt verstrichen, aber je weiter sie sich von ihm entfernte, desto klarer wurden ihre Gedanken.
Nachmittags um vier wickelte sie sich aus der Decke, stand auf und trat auf den Balkon hinaus. Auf dem grasbewachsenen Mittelstreifen der mehrspurigen Straße ratterte ein Rasenmäher. Die Messer erfassten einen Gegenstand, und es gab einen lauten hässlichen Knall, als ob eine Flasche zerbersten würde. Der laue Wind trug den wunderbaren Geruch des frisch geschnittenen Grases zu ihr hoch und ließ sie tief einatmen.
Sie hatte sich entschieden.

Im Herbst überholte Paulmann den Zweitplazierten des Wetterturniers und rückte dank seiner präzisen Prognosen auf den ersten Platz vor. Hin und wieder traf er sich mit Katarina, um essen zu gehen oder ins Kino. Sie vermieden es, dass ihre Verabredungen zur Gewohnheit wurden. Die Stadt war groß genug, um einander aus dem Weg zu gehen.
Im November erklärte sich Paulmann bereit, zusammen mit Katarina einen Geburtsvorbereitungskurs zu absolvieren. In den honiggelben Räumen des Geburtshauses schien ein verborgenes Feuer zu glimmen, goldene Farbspritzer leuchteten im hellen Blau der Decke. Die Frauen hatten rosige Wangen und einen optimistischen Glanz in den Augen. Die Männer standen verlegen in Socken herum. Der Kurs wurde vom Bezirksamt empfohlen. Jeden Dienstagabend trafen sich acht Paare unter der Anleitung einer jungen Hebamme. Paulmann konnte sich des Gefühls nicht erwehren, als wolle ihm jemand das Fahren beibringen, der selbst noch nie am Steuer gesessen hatte. Dennoch beteiligte er sich beherzt an allem, was sie vorschlug, stellte sich mit Namen und Beruf vor, als er an der Reihe war (Paulmann, Diplom-Meteorologe), setzte sich auf den Gymnastikball und hüpfte mit den anderen zukünftigen Vätern um die Wette. Er legte sein Ohr auf Katarinas Bauch und berichtete, was er darin hörte (ein Blubbern und Gurgeln).
Wie alle anderen Teilnehmer legte sich Paulmann auf die Isomatte und atmete tief in seinen Bauch ein. Er schloss die Augen und bemühte sich, unter der sanften Anleitung der Hebamme, geistigen Kontakt mit dem Ungeborenen herzustellen und das feine Röcheln eines anderen werdenden Vaters zu ignorieren, der neben ihm eingeschlafen war. Paulmann versuchte sich ein neugeborenes Kind vorzustellen und musste dabei unwillkürlich an die Berichte über misshandelte Kinder denken, die er seit einigen Wochen vermehrt in der Zeitung zu entdecken glaubte. Das Kind in Katarinas Bauch, dessen Vater er vielleicht bald sein würde, spann Fäden von ihm in den Raum und in die Zeit und lieferte ihn dieser Welt aus. Er spürte die Isomatte unter seinem Rücken, lauschte der leisen Stimme der Hebamme und empfand eine Hilflosigkeit, die er früher nicht gekannt hatte.
Es war Februar, als Paulmann bei Katarina zum Frühstück eingeladen war und mit einer Tüte frischer Brötchen in die Wohnung kam. Katarina saß mit Mantel und Schuhen in der Küche. Neben ihr stand auffällig eine gepackte Tasche bereit.
Meine Fruchtblase ist geplatzt, sagte sie.
Wenige Minuten später saßen sie auf dem Rücksitz eines Taxis. Katarina blickte konzentriert nach vorn.
Wir haben noch nicht mal einen Namen, sagte sie.
Während der Fahrt schweiften Paulmanns Augen über feingliedrige Schaufensterpuppen, die bereits die Farben des Frühlings präsentierten, dann, kurz bevor das Taxi in die Einfahrt zum Krankenhaus einbog, über ein Firmenschild mit silbergrauem Kreuz und Palmenzweig. War es pietätlos oder praktisch, dass Bestattungsunternehmen ausgerechnet neben Krankenhäusern ihre Dienste anboten? Es war nicht der richtige Augenblick, darüber eine Bemerkung zu machen, also schwieg er.
Der Fahrer nahm das Geld entgegen und wünschte ihnen viel Glück. Katarina machte einen gefassten Eindruck, als sie ihren schweren Körper aus dem Taxi stemmte und auf den Eingang zuging. Paulmann trug ihre Tasche.
Eine Entbindung im Krankenhaus war nicht vorgesehen, aber die Leiterin des Geburtshauses hatte sie telefonisch abgewiesen.
Bei uns ist das zu riskant, hatte sie vorwurfsvoll zusammengefasst, eine Erstgeburt in deinem Alter, und das fünf Wochen zu früh.

In der Eingangshalle nahm eine Frau Katarinas Versicherungskarte entgegen und las sie in den Computer ein. Dann erklärte sie den Weg in die Geburtenabteilung, bestand aber darauf, dass Paulmann die im achten Monat schwangere Katarina in einem Rollstuhl dorthin schob.
Eine Krankenschwester geleitete sie durch die Schleuse, in der sie ihre privaten Kleider und Straßenschuhe gegen blassgrüne Patientenkleider und Fußhüllen aus Plastik eintauschten. Sie schlossen ihre Garderobenschränke ab, banden sich gegenseitig das Bändchen mit dem Schlüssel um das Handgelenk und waren bereit.
Das Geburtszimmer war ein heller Raum mit hydraulisch verstellbarem Bett und mehreren verkabelten Geräten. An der gefliesten Wand ein Waschbecken, auf dem Boden Turnmatten und ein Gymnastikball, neben dem Fenster eine hölzerne Sprossenwand. Ein zusammengeknotetes Tuch, das über dem Bett von der Decke hing, erinnerte Paulmann an die zurückgelassene Fluchthilfe eines Sträflings.
Ich habe meine Musik vergessen, sagte Katarina beim Anblick der Medienanlage.
Die Zusammenstellung einer CD mit ihrer Lieblingsmusik war ihnen von der Leiterin des Geburtshauses empfohlen worden.
Im sechsten Monat war Katarinas Liste klassisch: Die Goldberg-Variationen neben Pachelbel, Boccherini und Albinoni.
Welche Musik wünschst du dir?, hatte sie ihn gefragt.
Ich weiß nicht, was auf uns zukommt, hatte er geantwortet, wie soll ich da wissen, welche Musik dazu passt?
Im siebten Monat begann sie, Gregorianische Choräle mit Gesängen des Buckelwals zu mischen. Danach folgte eine düstere Phase mit Rammstein und Marilyn Manson.
Geburt ist ein gewalttätiger Vorgang, sagte sie sachlich, als wäre sie auf das Schlimmste gefasst.
Die Geburtsmusik war zu einer umfangreichen, aber unvollendeten Edition mehrerer CDs angewachsen, die Katarina in der Ecke des Wohnzimmers vergessen hatte, als sie fünf Wochen vor dem berechneten Termin ins Krankenhaus musste.
Blassgrün gekleidetes Personal tauchte im Zimmer auf, befragte Katarina nach Gebrechen, Drogenkonsum, Allergien und genetischen Defekten in der Verwandtschaft und übertrug die Antworten in ein Formular, das auf einem Klemmbrett befestigt war. Katarina wurde abgehorcht und vermessen. Gewicht, Bauchumfang, Blutdruck, Puls, Temperatur. Nach der gynäkologischen Untersuchung nahm der Stationsarzt den Mundschutz vom Gesicht und sagte, dass Katarina von einer spontanen Geburt weit entfernt sei und er ihr deshalb ein Wehenmittel verabreichen würde.
Am Nachmittag ging es ihr schon bedeutend schlechter.
In ihrem Arm steckte eine Infusionsnadel. Mit einem elastischen Gurt hatte die Hebamme die Sensoren des Cardiotokographen an Katarinas Bauch befestigt. Paulmann beobachtete die beiden Nadeln, die nervös über das Millimeterpapier zuckten und zwei unterschiedliche wellenförmige Landschaften schraffierten. Das Gerät glich dem Barographen, den er in der Meteorologie benutzte, nur dass aus dem Lautsprecher ein schneller Herzschlag zu hören war.
Am Abend ging Katarina seufzend im Zimmer herum und schob das Infusionsgestell neben sich her. Sie wirkte müde, ihr Gesicht war gerötet und aufgedunsen. Der Stationsarzt machte Feierabend und wurde durch einen anderen Arzt ersetzt.
In der Nacht waren hinter der Wand die Schreie einer Frau zu hören. Zwei Stunden später kam eine Krankenschwester zu ihnen ins Zimmer und teilte ihnen mit, dass die Frau im Nebenzimmer einen Jungen geboren hätte. Als sie bei der Gelegenheit den Papierstreifen des CTGs kontrollierte, verließ sie eilig das Zimmer. Wenige Minuten später kam sie mit dem Arzt zurück.
Dem Kind geht es nicht mehr gut, sagte dieser, wir können nicht mehr warten.
Katarina weinte, und Paulmann tat es leid, aber gleichzeitig wuchs seine Hoffnung, dass die vielen Ungewissheiten nun ein Ende haben würden.
Sie musste in ein anderes Bett umsteigen und erhielt vom Anästhesisten eine vorbereitende Injektion, gleichzeitig wurde sie rasiert und desinfiziert. Kurze Zeit später rollte ihr Bett in den Operationssaal. Die Krankenschwester bat Paulmann, draußen im Vorraum zu warten.
Es wird nicht lange dauern, sagte sie.

Er setzte sich auf einen Stuhl und wartete.
Hinter der Milchglasscheibe strahlten drei grelle Leuchten von der Decke. Das Licht blendete ihn.
Drei Sonnen am Himmel, dachte er.
Nach einer Weile hörte er ein seltsames Quäken. Dann ging die Tür auf, und die Schwester bat ihn hinein. Katarina lag unter einem Laken und sah ihn an wie betrunken, die Lider halb geschlossen.
Auf einem Rollwagen lag eine Waagschale aus Edelstahl, und darauf ein schrumpeliges dunkelrotes Wesen mit geschlossenen Augen und verkniffenen Gesichtszügen. Die Nabelschnur ragte als dicker Strunk aus seinem Bauch.
Bis die Mutter wach ist, wird es noch etwas dauern, sagte die Krankenschwester. Wenn Sie möchten, können Sie ihr Kind nun baden.
Auf einem Tisch im Nebenraum stand eine mit Wasser gefüllte Wanne. Die Schwester schob beide Hände unter den kleinen Körper und zeigte Paulmann, wie er ihn halten und hochheben sollte. Dann fiel ihr Blick auf die schwarze Fingerhülle an seiner rechter Hand, und sie sagte: Wenn Sie verletzt sind, kann ich das natürlich für Sie tun.
Nein, sagte Paulmann, das ist längst verheilt.
Er streifte die mit Watte ausgepolsterte Hülle vom Stummel seines Fingers und steckte sie in die Hosentasche. Dann schob er seine Hände unter den kleinen Körper, wie sie es ihm gezeigt hatte, hob ihn hoch und ließ ihn soweit eintauchen, dass der Kopf noch über Wasser blieb.
Die Krankenschwester zog die Tür hinter sich zu und ließ ihn mit dem Kind allein.
Das Neugeborene schien sich im warmen Wasser wohl zu fühlen und fing an, die Arme und Beine zu bewegen.
Paulmann staunte, wie muskulös sich der kleine Körper in seinen Händen anfühlte.
Mit seltsam hoher Stimme begann er zu sprechen, und während die ersten Worte zögernd über seine Lippen kamen, sah es aus, als würde das Kind das verkniffene kleine Gesicht mit den geschlossenen Augen lauschend in die Richtung drehen, aus der die Stimme ertönte.