Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Claudia Klischat, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Claudia Klischat
Stillstand
Fechter stand am Fenster und schaute zu, wie sich zwei Männer vor dem stillgelegten Glaswerk prügelten. Der eine, ein großer, sehr dünner Mann, hatte eine Eisenstange in der Hand, der andere war unbewaffnet. Der große, dünne mit der Eisenstange war Schwend, der kleine Berger. Fechter kannte beide, und er sah sie nicht zum ersten Mal wie zwei wildgewordene Hunde übereinander herfallen. Er rechnete sich aus, daß sie bald bei ihm klingeln würden, denn es regnete, und es war kalt. Die Jahreszeit lud nicht dazu ein, sich draußen herumzutreiben. Fechter war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.
Seit einer Woche hauste er in dem Wohnraum im vierten Stock in der Senkgasse. Er war zufrieden. Alles, was ein Mensch in seiner Lage brauchte, war vorhanden. In der kleinen Küche, die in den Wohnraum führte, standen auf dem Kühlschrank zwei Kochplatten, und neben der Spüle war eine Duschkabine eingebaut. Im Wohnraum konnte er sich auf eine gebrauchte Sofagarnitur setzen, über die eine lilageblümte Tagesdecke gebreitet war. Wurde er müde, stand er auf, ging zwei Schritte und legte sich in das Bett mit der nagelneuen Matratze. Nagelneu, hatte man ihm gesagt, die Matratze sei nagelneu, nicht gebraucht! Sogar ein Radio war vorhanden, ein altes Kofferradio, und in einem Regal, das hinter einem Vorhang in dem engen Flur stand, lagerten einige Konservendosen, die er aufbrauchen durfte. Es gab ein Außenklo und im Keller eine Möglichkeit, Wäsche zu waschen. Fechter wußte durchaus, was für ein Glück er hatte. In diesem Winter, es wäre sein dritter unter freiem Himmel gewesen, hatte er sich nicht gescheut, die Behörde aufzusuchen. Schwend und Berger hatten sich geweigert und blieben in den Sammelunterkünften im Industriegebiet. Dort saßen sie, als ob es ihnen frei stünde, ihre Tage ab. Fechter indessen war es leid: Das Absitzen. Immer an den selben Orten: Auf einem Sofa oder vor der Unterkunft oder auf einer Bank. Jetzt, in der Senkgasse, wollte er sein Leben neu beginnen. In der letzten Woche hatte er regelmäßig vor der Nachtruhe seine Füße gebadet, hatte sie eingecremt und die Socken gewechselt. Er trieb sich nicht mehr in der Innenstadt herum, sprach keine Menschen an, um sich auf ein Bier oder eine Mahlzeit einladen zu lassen, hörte keine Diskussionen mehr über die Lage der Nation: daß sich doch niemand um den Landstrich schere, die vielen Versprechungen, die gemacht worden waren, abwandern, weg, raus, verdenken kann man es niemandem; immer wieder die selben Sätze, die Fechter zu hören bekam. Die Menschen, die mit ihm sprachen, waren für Fechter alle gleich; unzufrieden, ein Jahrmarkt des Kummers. Fechter langweilte sich immer häufiger. Er wußte morgens schon, wie er nachts in den Schlaf finden würde, wo auch immer er sich niederlegen würde, angeekelt und so stockbesoffen, daß er ab und an nicht mal bemerkte, wenn er in die Hose pißte.
Claudia Klischat, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Schwend und Berger waren nun ineinander verkeilt wie zwei Jungs auf einem Schulhof.
Was für Idioten, murmelte Fechter vor sich hin.
Er ging in die Küche, in der sein Tabak lag. Er drehte sich eine Zigarette und überlegte, wie er ungesehen an Schwend und Berger vorbeikommen konnte. Er mußte zur Haltestelle vor dem Gelände, auf dem das Glaswerk stand, und ans andere Ende der Stadt, an den Plattenbauten vorbei zur Spedition. Dort könnte er Arbeit finden. Wenn er Glück haben würde, was er sehr stark vermutete, würde er vielleicht sogar als Fahrer eingestellt werden, dann wäre er wieder da, wo er schon einmal gewesen war, und da war es nicht so schlecht gewesen, jedenfalls nicht so schlecht, wie er damals gedacht hatte. Jetzt hatte er ein paar Unterlagen zusammengestellt, die Behörde hatte ihm geholfen und das Passfoto, das ein Automat aufgenommen hatte, machte was her. Er lächelte darauf höflich, zurückhaltend, und die dunklen Haare waren nach hinten gekämmt. Seine hohe Stirn lag frei. Seine Augen strahlten. Fechter gefiel sich. Oft wurde er gefragt, warum er, der doch alles hätte, womit man ein Leben bauen könnte, Biß, Durchsetzungskraft, ein passables Aussehen, zwei gesunde Hände und einen Verstand, der noch nicht ganz versoffen war, warum also ausgerechnet er sich weigerte, auf eigenen Beinen zu stehen. Fechter antwortete nie. Hätte er geantwortet, hätte er womöglich gesagt, daß es eine Kleinigkeit sei, den Beruf zu wechseln, aber auf seine Einzigartigkeit zu verzichten, auf das, was man könne, sei nicht leicht. Und wenn man die Einzigartigkeit nicht kenne, auf die man stolz sein könnte, wenn es sie gäbe, hätte man eine beschissene Arschkarte gezogen. So müsse man sich unentwegt fügen und dankbar sein, daß man sein dürfe, ohne zu wissen, wer man sein könnte, das falle verständlicherweise ziemlich schwer.
Mit der Zigarette im Mund trat er wieder ans Fenster. Nun sah er Berger auf der Erde liegen. Schwend war verschwunden. Fechter rauchte seine Zigarette zuende, drückte sie auf der Fensterbank aus, dachte, du Schweinehund, steh auf. Berger rührte sich nicht. Er lag auf dem Bauch in einer ziemlich großen Pfütze. Wenig später klingelte es Sturm. Fechter machte das Radio an und versuchte, auf dem Bett sitzend, vergeblich einen Sender zu finden. Das Klingeln wollte nicht enden. Als es schließlich doch aufhörte, trat er wieder ans Fenster. Er sah Schwend über die Straße an der Haltestelle vorbeigehen. Er war wirklich sehr groß, er überragte die meisten Menschen um gut eine Kopflänge. Aus der Entfernung, von oben auf ihn niedersehend, mußte Fechter an ein langbeiniges Vogelvieh denken. Schwend hob die Beine, als ob er bei jedem Schritt über einen Baumstamm steigen müsse. Wenn er sich bedroht fühlte oder sturzbetrunken die Orientierung verloren hatte, was ein und das Selbe war, stakste Schwend; und so war er nun am Bus vorbeigestakst. Er war schon fast wieder auf dem Gelände, und da drehte er um, sah zum Haus, zu Fechter hinauf. Fechter duckte sich reflexartig. Ein paar Sekunden später hörte Fechter die Nachbarschaft im Haus, Türen gingen auf und zu, jemand regte sich auf - Schwend hatte alle Klingelknöpfe unten am Hauseingang gedrückt -, und dann klopfte es bei Fechter an der Tür, der auf dem Boden sitzend, mit dem Rücken am Heizkörper lehnte. Fechter! Scheiße Mann! Mach auf! hörte er Schwend. Fechter ahnte, würde er die Tür öffnen, würde ihn Schwend belagern. Er würde ihn tagelang nicht mehr loswerden. Das war im Augenblick Fechters größte Sorge. Er zog das Laken vom Bett und hängte es vor das Fenster. Schwend hämmerte etwa noch eine Viertelstunde gegen die Tür und schimpfte, während Fechter die letzten Krümel seines Tabaks in das Zigarettenpapier drehte. Irgendwann wurde es still.
Etwa eine Stunde später, Fechter hatte geduscht, noch einen Kaffee getrunken, zog er seinen Parka an, schlüpfte in die Stiefel, nahm die Unterlagen für die Spedition und öffnete vorsichtig die Tür. Schwend war weg. Fechter war erleichtert, aber da er dem Frieden nicht traute und Schwend noch im Haus vermutete, raste er wie ein verfolgter Einbrecher die Stockwerke hinunter nach draußen. An der Haltestelle konnte er nicht anders, er sah auf das Gelände; von hier aus hätte der Körper, hätte Berger, den er da liegen sah, wenn man sich den Kopf wegdachte, auch ein altes Kleidungsstück sein können: Ein abgetragener brauner Mantel.
Der Bus fuhr vor. Fechter hatte kein Geld für eine Fahrkarte und stieg hinten ein. Er kannte die Strecke in- und auswendig, zwölf Haltestellen, nach der Senkgasse kam die Schule, Schüler stiegen ein, laut und unangenehm, sie ärgerten sich über eine Schulstunde und beschimpften einen Mitschüler, der zögerlich als letzter einstieg. Auch Fechter mochte den Mitschüler nicht. Er war fettleibig, und die Pubertät spross ihm aus dem Gesicht. Und nur weil Fechter einen guten Tag zu haben glaubte, rutschte er einen Sitz weiter, so daß der Junge sich setzen konnte. An den nächsten drei Haltestellen stieg niemand ein, sie lagen im Industriegebiet, und Fechter war froh, daß niemand einstieg, den er kannte. Als er zwanzig war, vor achtzehn Jahren, hatte er sich gern in dieser Gegend aufgehalten. Auf der ewig langen, breiten Straße konnte man unbehelligt mit den frisierten Mopeds Rennen fahren. Diese Zeit war so unbelastet gewesen. Das Trinken war eine Jugendsünde, die Frauen kamen und gingen, der Job war sicher, bildete man sich ein, und eine Wohnung bezahlbar. Aber dann war nichts mehr wie es gewesen war; die Welt war auf den Kopf gestellt. Arbeitsplätze verschwanden, Firmen wurden aufgekauft, Mitarbeiter entlassen, und nichts folgte. Außer der Wunsch, sich treiben zu lassen, ohne Ziel und Sinn. Das war es, in diesen Augenblicken wenigstens fühlte Fechter sich mit sich und der Welt im Einklang, er hatte nichts weiter zu tun, als zu warten, mal still, mal laut, ohne recht zu wissen, worauf.
Die nächsten Haltestellen lagen im Plattenbauviertel. Die vordersten Reihen, die man von der Hauptstraße aus sehen konnte, waren zum Abriß freigegeben, die hinteren waren zum Teil noch bewohnt. Auch hier stieg niemand ein. Ein paar Schüler stiegen aus und rannten Richtung Häuserblöcke, um dem Regen zu entkommen, der nun schon seit dem frühen Morgen vom Himmel prasselte.
An der nächsten Haltestelle mußte Fechter aussteigen. Er schob seine Unterlagen in den Hosenbund unter den Parka, damit sie nicht naß wurden. Die Büroräume im ersten Stock waren, weil das Wetter den Tag nicht beginnen lassen wollte, hell erleuchtet. Auf dem Gelände standen die LKW. Aber nicht wie gewöhnlich vor der Abendschicht bereit zum Beladen an der Rampe, sondern abseits auf den Parkplätzen. In einer der Hallen stand das Tor offen, einige Paletten Kaffee waren gestapelt, doch weit und breit war niemand zu sehen, kein Geräusch, kein Gabelstapler, der fuhr, nichts was darauf hätte schließen können, daß heute noch eine Tour nach draußen ginge. Fechter wunderte sich, denn er kannte den Tagesablauf einer Spedition. Vier Schichten, morgens, mittags, abends und nachts. In der Morgenschicht wurden die Aufträge für den Mittag zusammengestellt, am Mittag die für den Abend und sofort. Er sah hoch zu den Büroräumen. Zwei Gestalten standen an einem offenen Fenster und rauchten. An der Außentreppe, die ins Gebäude führte, spürte er plötzlich sein Herz pochen. Die Vorstellung, an eine Tür zu klopfen, herein gebeten zu werden, nachdem man womöglich Stunden in einem Warteraum gesessen hatte, sich dann auf einen Stuhl nieder zu lassen, der einem vor einem Schreibtisch angeboten wurde, hinter dem ein vielbeschäftigter Mann saß, Fragen stellte, durch die man ins Stottern geraten konnte, ließ Fechter einige Minuten bewegungslos im Eingangsbereich stehen. Aber als er ein paar Stimmen, dann Schritte aus dem ersten Stock hörte, atmete er tief durch, steckte sich einen Kaugummi in den Mund und lief die Treppe hoch ins Sekretariat. Eine magere, junge Frau, an der alles straff zu sein schien – straff die Unterwäsche, die Socken, straff die Sehnen und der Mund, eine Frau wie eine Sprungfeder -, saß routiniert an einem Schreibtisch und beendete gerade kopfschüttelnd ein Telefonat. Fechter wischte seine feuchte Hand an der Hose ab und streckte sie ihr entgegen.
Guten Tag, sagte er, ich suche Arbeit.
Er legte seine Unterlagen auf den Schreibtisch und lächelte unbeholfen.
Heute sehr schlecht, ist viel los, sagte die Frau, die Nachtarbeiter streiken, auch neuerdings die Abendschicht, wegen der Kürzungen der Zuschläge.
Und dann regnet es auch noch, sagte Fechter. Er bemühte sich um einen freundlichen, aufmerksamen Tonfall. Die junge Frau sah etwas verdutzt drein, und Fechter fügte hinzu:
Naja, dann haben Sie viel zu tun. Ist denn der Chef zu sprechen.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. Fechter setzte sich unaufgefordert auf einen der zwei Stühle vor dem Schreibtisch.
Gut, sagte die junge Frau nach einer Weile seufzend und griff zu einer Ablage, in der ein Stapel Formulare lagen.
Füllen Sie das erst einmal aus.
Fechter schrieb seinen Namen in das obere Feld, darunter seine Adresse, bei der Zeile, in die er seine Telefonnummer schreiben sollte, stockte er und sah auf. Die junge Frau suchte etwas in einer Akte.
Das ist doch Unsinn, sagte Fechter, ich hab kein Telefon.
Dann geben Sie ihre Emailadresse an.
Hab ich nicht, sagte er.
Dann eine Nummer, unter der wir Sie erreichen können.
Da fällt mir jetzt keine ein.
Gut, sagte die junge Frau und stellte die Akte zurück ins Regal, dann kriegen Sie Bescheid über den Postweg.
Fechter gab jetzt eine eigensinnige Stirn frei, und auf seinem Gesicht mit der gegerbten, von der Kälte ein wenig entfärbten Haut, lag ein zugleich ängstlicher und aufrührerischer Ausdruck.
Nein, es ist doch besser, wenn ich heute anfange, sagte er, früher bin ich drei Mal in der Woche gefahren, Kristallvasen und Opalglasbecher habe ich ausgefahren. Ich verlange auch keinen Nachtzuschlag.
Tun Sie das nicht, sagte die junge Frau, sie haben ein Recht auf Ihren Zuschlag.
Ja, aber..., setzte Fechter an.
Wir geben Ihnen Bescheid, unterbrach die junge Frau ihn und zog eine Schublade ihres Schreibtisches auf.
Mehr kann ich nicht für Sie tun, leider.
In der Schublade hatte ein halbes Brötchen mit Krabben und Tomaten gelegen, in das sie nun hineinbiß.
Das kann ich Ihnen sagen, sagte Fechter, ich habe es schon mit ganz anderen Idioten zu tun gehabt.
Er machte eine kurze Pause. Die junge Frau aß weiter, ohne Fechter anzusehen.
Keine Angst, fügte er hinzu, ich habe heute nur einen verdammt guten Tag, deshalb bin ich hier.
Die junge Frau lächelte in sich hinein, legte das Brötchen zur Seite und langte zum Wasserglas auf dem Schreibtisch, der glänzte, als täte die Frau den lieben langen Tag nichts anderes, als ihn zu polieren. Das ganze Büro war ordentlich, alles schien seinen Platz zu haben, nur Fechter nicht, der nervös auf dem Stuhl sitzend mit den Füßen wippte, während die Frau immer noch vor sich hin lächelte. Fechter konnte das Lächeln der jungen Frau nicht deuten. Lächelte sie, weil sie ihn insgeheim für einen netten Kerl hielt, oder lächelte sie, weil sie ihn so gar nicht ernst nahm?
Ich möchte ja nur sagen, sagte er, es ist mir wichtig, daß ich wieder auf die Beine komme.
Ja, sagte die junge Frau, das glaube ich Ihnen, am besten, Sie kommen nächste Woche wieder, dann hat sich die Aufregung hier vielleicht gelegt.
Sie ging um den Schreibtisch herum, auf Fechter zu, bat ihn aufzustehen und drängte ihn zaghaft raus auf den Gang.
Sehr freundlich, danke, sagte Fechter.
Er blieb stehen, lehnte sich an die Wand. An der Wand ihm gegenüber hingen einige Fotos von Mitarbeitern, darunter standen die jeweiligen Namen. Er würde warten, er war trainiert, er konnte warten, er würde seinen Willen, seine Bereitschaft zeigen, das wurde verlangt, ein Wollen, nichts weiter. Die junge Frau blieb noch einen Moment im Gang stehen und sah Fechter fassungslos an, bis drei Arbeiter durch die Glastür kamen, ihre Stimmen waren grob und laut, sie gingen grußlos an Fechter vorbei und verschwanden mit der jungen Frau im Büro. Fechter hörte ein herzhaftes Lachen, das vertraut klang. Dann wurde die Tür geschlossen. Unmittelbar darauf übertönte ein zweimaliges Klingeln die Heiterkeit im Büro. Aus den anderen Büros kamen ein paar Frauen und Männer. Einige hatten es eilig, verabschiedeten sich, andere empörten sich über etwas, das Fechter nur an ihren Gesichtszügen erkennen konnte, weil sie flüsterten. Als ein Mann, ein älterer, mit grauem lichtem Haar und einer dunkelblauen Regenjacke, aus dem hinteren Büro kam, hörte das Flüstern auf und der Gang leerte sich. Der Mann ging an Fechter vorbei, drehte sich dann um, nickte ihm gedankenversunken zu und öffnete ohne anzuklopfen die Bürotür vor ihm.
Ein paar Faxe müssen noch raus, ich bin schon spät dran, liegen auf meinem Schreibtisch, danke, einen schönen Abend, hörte Fechter ihn.
Fechter sah auf die Fotos an der Wand. Auf dem obersten erkannte er das Gesicht des Mannes, darunter stand Vorstand, Bernd Eich. Fechter folgte ihm. Am Ende des Ganges sah er den Mann die Glastür aufstoßen. Im Treppenhaus hatte Fechter ihm noch ein paar Mal hinterhergerufen, aber der Mann reagierte nicht. Vor dem Gebäude stieg er in einen dunkelblauen BMW ein und rauschte, mitten durch die Pfützen hindurch, davon.
Noch so ein Idiot, murmelte Fechter.
In diesem Augenblick fuhr einer der LKW von den Parkplätzen rückwärts auf die Rampe zu. Am Steuer saß ein kleiner, dicker, glatzköpfiger Mann Mitte Vierzig. Schwerfällig stieg er aus, ließ die Ladefläche herunter und mühte sich auf die Rampe.
Was glotzt du, rief er Fechter zu, ich mache nur meinen Job.
Fechter näherte sich ihm. Auf dem Gesicht des Mannes lag ebenso wie in Fechters so oft, dieser aufrührerische und zugleich ängstliche Ausdruck. Seine kleinen dunklen, tiefliegenden Augen trotzten wie die Augen eines Kindes, das sich unverstanden fühlt. Fechter sah dem Mann zu, wie er die erste Palette mit dem Stapler herauszog und sie in den LKW schob. Als seine Hände frei waren, rieb der Mann die geschwollenen Handgelenke aneinander.
Was ist, sagte er, ich bringe diesen Scheißkram jetzt dort hin, wo er hin soll, und Basta.
Noch bevor Fechter etwas sagen konnte, schlug der Mann ihm im Vorbeigehen in den Nacken.
He, es gibt ganz andere, die arbeiten für drei Euro. So sieht es aus! Kommen von drüben herüber, das ganze Polakenvolk.
Ich suche auch Arbeit, sagte Fechter, ich habe so ein Formular ausgefüllt, die rufen an, aber ich habe kein Telefon. Ich muß den Boss sprechen.
Der Mann lachte.
Den Boss, sagte er, wer weiß, ob es den überhaupt gibt, lebt irgendwo im Westen. Da sieht niemand durch.
Und da war er schon wieder in der Halle, hielt ein paar Aufträge in der Hand und kontrollierte, vor sich hinschimpfend, die Paletten.
Das stimmt hinten und vorn nicht, was für Stümper.
Während der Mann zu den hinteren Regalen lief, hallten seine Schritte auf dem Boden. Er kam zurück in einer wehrlosen Verfassung. Er weinte. Statt der Nachttour, die er fahren sollte, war die Abendtour zusammengestellt. Noch nie hatte Fechter einen Mann gesehen, der im Gehen weinte und sich nicht einmal die Tränen abwischte.
Du wirst doch jetzt nicht heulen, rief Fechter, das ist doch lächerlich.
Fechter wunderte sich über seine Ruhe trotz der Beklemmung, die er schon im Sekretariat in sich gespürt hatte, die er schon gespürt hatte, als er Schwend auf Berger einschlagen sah, die er seit geraumer Zeit spürte. Nein, seit langem spürte, vielleicht war er mit dieser Beklemmung schon auf die Welt gekommen, vielleicht war sie immer schon da, mal stärker, mal schwächer. Jetzt jedenfalls wurde sie unerklärlicherweise stärker, während der Mann am Telefon stand, das in der Halle an einer Wand hing, und das Büro über die Auftragszusammenstellung informierte. Man solle ihn aus der Sache heraushalten, betonte er wieder und wieder, er wolle fahren, aber er könne nicht. Man teilte dem Mann mit, daß die Nachttour ausfallen, daß die Ware am nächsten Morgen raus gehen würde, er solle nach Hause gehen, der Betriebsrat würde sich bei ihm melden.
Scheiß Betriebsrat, sagte der Mann und legte den Hörer auf.
Die mischen den ganzen Laden auf, wenn du mich fragst, wenn ich was zu sagen hätte, ich würde diese sauberen Leute da im Betriebsrat alle vor die Tür setzen.
Er lief über die Ladefläche in den LKW und zog die Palette wieder zurück in die Halle. Dann ließ er die Ladefläche nach oben.
Fechter hatte keine Ahnung, was für Leute in einem Betriebsrat sitzen, wie eine Spedition heutzutage organisiert ist. Die reale Gegenwart war eine Plage, eine hundsgemeine Plage. Früher kannte man jedes Gesicht im Betrieb. Die Arbeitsabläufe waren überschaubar.
Der Mann fuhr nun, ohne sich von Fechter zu verabschieden, den LKW wieder auf den Parkplatz. Fechter stand noch eine Weile auf der Rampe und hörte den Regen auf das Vordach prasseln. Ein starker Wind hatte eingesetzt, er wehte von Osten her. Der Mann war in einen weißen Kadett gestiegen. Gerne hätte Fechter noch seinen Namen erfahren. Er dachte an einen Hans Maier oder einen Hans Schulze, auch Müller kam ihm in den Sinn. So sah er aus, wie ein Jedermann. Während Fechter von der Rampe sprang und über das Gelände lief, war er sich sicher, daß er den Namen des Mannes spätestens in einer Woche, wenn sich die Aufregung gelegt hätte, erfahren würde.
In den Bus, den Fechter kommen sah, stieg er an der Haltestelle vor der Spedition nicht ein. Die Kälte tat ihm gut, auch der Regen, der ihm ins Gesicht peitschte. Zügig lief er seine Straße, die Industriestraße, entlang. Als er am Baumarkt angelangt war, wäre er beinah in die Straße eingebogen, die zu den Unterkünften führte, ins Altvertraute, dorthin, wo er sich auskannte. Und natürlich hätte er sie angetroffen, die Bewohner, vor dem Hauseingang unter dem Dach stehend, wie eh und je eingenebelt vom Zigarettenqualm. Und unter ihnen womöglich Schwend und Berger, die beiden Schatten, die ihn seit Jahren begleitet hatten, von denen er nicht viel mehr wußte, als daß sie zwei unstete, manchmal flackernde Existenzen waren und es der Welt heimzahlen wollten, weil sie sich beraubt fühlten. Ein klein wenig war Fechter stolz auf sich, als er triefend naß in die Senkgasse einbog, denn obwohl der Tag ihn wieder einmal nicht haben wollte und sein Wollen in eine graue, ungreifbare Welt entschwand, hatte er es nun schon acht Tage mit sich allein ausgehalten. Aber dann stand da Schwend. Er lehnte an einem parkenden, weißen Transporter vor Fechters Hauseingang. Er konnte wie immer gegen abend nicht mehr geradeaus sehen.
Arschloch, schrie er, und fiel schwankend in Fechters Arme, wobei er seinen Kopf auf Fechters Schulter legte. Arschloch, wiederholte er. Fechter versuchte sich zu befreien, aber Schwend klammerte sich an Fechters Parka wie an einen Rettungsanker.
Komm schon, lallte er, mir geht’s schweinemäßig.
Häng dich an Berger, sagte Fechter, wo ist der überhaupt?
Schwend schubste Fechter weg, zog ihn dann wieder an sich.
Hat sich verpißt. Ich hab ihm eins drübergezogen, lag auf dem Boden und hat sich verpißt. Ganz einfach. Komm schon. Laß mich rein! Du Arschloch!
Fechter überlegte.
Aber nur eine Nacht, sagte er zögerlich, ich hab zu tun.
Wenig später lag Schwend auf Fechters Sofa und zog die geblümte Tagesdecke über sich, die als bald genauso naß war wie Schwends Kleider. Fechter überwand sich, ihm die Schuhe auszuziehen. An die Socken wagte er sich nicht heran. Sie trieften vor Nässe und stanken, als habe er sie seit Wochen nicht gewechselt. Der Geruch war Fechter vertraut, und obwohl er Schwend am liebsten wieder vor die Tür gesetzt hätte, als der zu schnarchen anfing, war Fechter froh, nicht allein zu sein, und er hoffte, der Regen draußen würde die Stadt überfluten, so daß jeder von vorn beginnen müßte. Vielleicht, dachte Fechter, wäre es leichter, gemeinsam, wie nach einem Krieg, anzupacken, Stein auf Stein zu legen, an die Verstorbenen zu denken. Er wünschte, der Regen würde nie enden, aber am nächsten Morgen schien die Sonne, und wie immer, wenn sie schien, schien sie um diese Uhrzeit auf das Glaswerk, das ein halbes Jahr später abgerissen werden würde, denn es war schon vor Jahren stillgelegt worden. Es stand still, geisterhaft still.