Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Anette Mingels, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Annette Mingels
Nachbeben
Nachmittag erreichen sie das Dorf, das weiße Dorf, wie es im Reiseführer genannt wird (tatsächlich ist es hell: die schmucklosen Häuser, die Brunnen, der blasse Stein der Straßen und Plätze), und Ellen beugt sich vor und fragt, wann sind wir endlich da? Albert zieht eine Grimasse, die an eine Teufelsmaske erinnert oder an ein seltsames Tier, und Irene sagt: Jetzt.
Vom zweiten Stock des schmalen Holzhauses aus sieht Irene das Meer, eine grüne Fläche, die sich zum Horizont hin wölbt und die sie einen Moment lang für eine Wiese hält. Sie sieht, wie David und Almo im Garten sitzen und David seinen blonden Kopf in Almos dunkles Fell legt; sie beobachtet, wie Ellen und Albert vom Auto zum Haus gehen, wie sie die Taschen und Koffer hineintragen. Für ihr Alter ist Ellen groß. Sie ist erst elf, aber sie hat ein erwachsenes, dreieckiges Gesicht mit breiten Wangenknochen und kurzem Kinn. An ihren Augen kann man alles ablesen: Schrecken, Freude, vor allem Ungeduld (der Blick nach oben bei gesenktem Kopf, eine einzelne steile Falte zwischen den Brauen); wegen ihrer Augen kann Ellen nicht lügen, aber vielleicht lernt sie das noch. Sie behandelt David mit zärtlicher Verachtung, sie liebt es, ihn zu umarmen und zu küssen, doch er lässt sich das nicht mehr gerne gefallen. Sie lacht, wenn er sie abschüttelt.
Die nächsten Häuser sind gut fünfzig Meter entfernt, weit genug, um Ruhe zu haben, nah genug, um sich nicht einsam zu fühlen.
Anette Mingels, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Am frühen Zwischen den Häusern und dem Meer ist ein Pinienhain, ein schmaler, hoher Streifen locker stehender Bäume. Vom Garten führt ein Trampelpfad zwischen den Stämmen hindurch an den Strand; Ellen und David laufen vorneweg, um ihre Beine springt Almo und schnappt nach ihren Knöcheln, sie rufen, hör auf!, aus!, aber Almo versucht es immer wieder. Am Strand legt er sich in den Schatten, stößt von Zeit zu Zeit die Schnauze in den Sand und beginnt zu graben, eifrig, als habe er die unterirdischen Tritte einer Maus vernommen, irgendwann gibt er auf, kippt zur Seite und hechelt. Irene und Albert breiten ihre Handtücher nebeneinander aus. Sie blicken aufs Wasser, das nur in der Ferne ruhig scheint und solide, während es sich im Näherkommen tosend aufbäumt, um gleich darauf in sich zusammenzustürzen. Wenn sie etwas sagen, sind sie höflich, zwei Fremde auf einer Feier. Die Kinder schwimmen ein paar Züge, dann richten sie sich im flachen Wasser auf und warten mit vorgestreckten Armen auf die Wellen, in die sie mit Kopfsprüngen eintauchen.
Die Tage sind matt und blau, sie reihen sich aneinander, unterschiedslos in ihren Gerüchen, Geräuschen und Farben. Einmal sehen sie in der Nähe der Küste ein Schiff, seine träge flatternden Segel, die Flagge eines Landes, das sie nicht kennen.

Der Nachbar trägt eine knielange Badehose, deren Nähte farbig abgesetzt sind, und ein Poloshirt. Wie wäre es, wenn Sie und Ihre Frau heute Abend zum Essen kämen?, fragt Irene. Aus ihrem Schlafzimmerfenster beugt sich Ellen heraus und betrachtet unbeteiligt das Geschehen. Vom Strand her ertönt das Heulen einer Sirene; als es verstummt, herrscht für Momente eine unterseeische Stille, dann sind wieder Stimmen zu hören, brüchig wie Glas. Sturmwarnung, erklärt der Nachbar. Gehen Sie vorerst besser nicht ins Meer.
Sie kommen pünktlich und bringen eine Flasche Wein und einen Kaktus mit. Man verschenkt eigentlich keine Kakteen, nicht wahr?, sagt Linda. Sie hat die dunklen Haare zu mädchenhaften Locken aufgedreht und trägt Ohrringe, die bei jeder Bewegung vor und zurück schaukeln. Ihr Gesicht ähnelt dem einer sanft gealterten Puppe: die kreisrunden Augen unter den zu erstaunten Bögen gezupften Brauen, die stumpfe Nase, der kleine Mund. Hübsch, aber mit einer ersten Schlaffheit in den Wangen. Sie lächelt viel, ein um Nachsicht bittendes, verhaltenes Lächeln, das Mitleid erregt und den Wunsch, ihr weh zu tun. Sie ist nicht dick, aber auch nicht ganz schlank; fraulich, ist der Ausdruck, der Irene als erstes in den Sinn kommt. David und Ellen haben auf dem Fußboden gespielt, jetzt sind sie aufgestanden, um die Gäste zu begrüßen. Linda beugt sich zu ihnen hinab und streicht David über das Haar, das vom Teppich elektrisiert ist und ihm wie der verblühte Flor einer Kuhblume um den Kopf steht.
Linda und Peer leben die Hälfte des Jahres hier, die andere Hälfte arbeiten sie als Galeristen. Sie verkaufen moderne Kunst, Bilder, Installationen, vor allem Skulpturen. Das meiste davon erotisches Zeug, sagt Linda, nackte Frauen, ineinander verschlungene Menschen, riesenhafte Genitalien in grellen Farben. Sie gibt ein kurzes Lachen von sich. Die Leute mögen das, man kann gut davon leben. Sie sieht sich in der Wohnung um. Es sieht anders aus, stellt sie fest. Hast du gesehen, Peer?, es ist renoviert worden. Sie kannten die Leute, die das Haus in den Jahren zuvor gemietet hatten. Engländer, sagt Peer, nette Familie, aber nicht gerade zugänglich. Er zieht die Augenbrauen in die Stirn und sieht nachdenklich auf seinen Teller. Und ziemlich unglücklich, fügt er hinzu, so schien es wenigstens. Während er spricht, schneidet er geschickt den Bauch des Fisches auf und löst das Fleisch von den Gräten. Das Besteck sieht klein aus in seinen Händen, er ist größer, als es zunächst den Anschein hatte, sehr muskulös, fast unförmig. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Irene ihn auf Mitte fünfzig geschätzt, jetzt ist sie sich nicht mehr sicher; er könnte jünger sein, in seinen dunklen Haaren ist kein Grau, kein Weiß zu entdecken. Sein Gesicht ist breit, sein Blick so unverwandt, dass er mitunter bedrohlich wirkt. Die Oberlippe ist schmaler als die Unterlippe, die Mundwinkel sind lang gezogen und enden in zwei kurzen Falten; wenn er lacht, vertiefen sich die Falten zu kleinen Mulden. Er hat eine Theorie über das Leben, die er mit großem Ernst erläutert. Die Welt bestehe aus Gegensätzen, die sich zu einer spannungsreichen Einheit zusammenfügen: das abstrakte und das konkrete Denken; die Suche nach Neuem und die nach Geborgenheit; die Strenge, die Sanftmut; das Nehmende und Gebende. All das. Licht und Dunkel. Männer und Frauen. Erst aus den Widersprüchen entsteht Großes, sagt Peer und sticht seine Gabel in die Limonentarte, wo sie stecken bleibt, aufrecht wie ein Spaten im Schnee. Was habe die Moderne erreicht, mit ihrem Drang zur Nivellierung? Nichts, sagt er entschieden, nichts als Unordnung und Konfusion. Nehmt zum Beispiel die Ehe: Hier bin ich der General, und Linda ist die Kavallerie, nur darum funktioniert's, und Linda sagt feierlich, als rezitiere sie ein Gedicht: Wir sind eine Null und eine Eins, aber zusammen sind wir eine Zehn. Peer nickt ihr zu, wie man einem Kind zunickt, das gefallen will. Wie ist das bei euch, fragt er, wie habt ihr euch arrangiert? Er sieht Irene an, und sie sagt mit einer Gelassenheit, der sie selbst nicht traut: Keine Arrangements, keine Rangordnung, wir schlagen uns so durch.
Sie hat den Eindruck, dass sich hinter Peers Besonnenheit, seiner Ruhe und dem demonstrativen Interesse an dem, was sie sagt, hinter seiner ganzen ausgeklügelten Kultiviertheit und Schläue eine Brutalität verbirgt, eine Roheit, die nur notdürftig bemäntelt ist. In manchen Momenten – wenn Linda zu sehr auf das vertraut, was man weiblichen Charme nennen könnte – bricht diese Brutalität auf, lässt sich in seinem Gesicht erkennen, in dem Blick, den er Irene zuwirft. Und wie sieht's aus, fragt er, wollt ihr im nächsten Jahr wiederkommen? Albert sagt, wer weiß schon, was in einem Jahr sein wird? Er presst die Lippen zu einem Lächeln zusammen, sieht Irene an und dann rasch seine im Schoß verschränkten Hände. Seit Wochen trägt er seine Bereitschaft zur Vergebung vor sich her wie eine Fahne.
Nach dem Essen steht Linda auf. Nein, wehrt sie ab, als Irene ihr den Weg erklären will, ich erinnere mich, wo die Toilette ist, wir waren ja schon oft hier. Irene sieht ihr hinterher, wie sie zur Treppe geht. Lindas Gang hat etwas Laszives, sie knickt in den Hüften ein und macht kleine Schritte, bei denen sie die Füße so exakt voreinander setzt, als balanciere sie auf dem schmalen Grat einer Mauer; an der Treppe bleibt sie einen Moment lang stehen und sieht, eine Hand auf dem Geländer, zu ihrem Mann zurück, vielleicht ist sie betrunken, vielleicht möchte sie ihm mit ihrem Blick etwas mitteilen, aber Peer sieht sie nicht an. Als sie nach fünfzehn Minuten nicht zurückgekommen ist, geht Irene ihr nach. Linda steht im Schlafzimmer und dreht sich nicht um, als Irene eintritt. Die Bettdecke ist unordentlich; Linda muss sie in aller Eile glatt gezogen haben, Irene glaubt die Stelle sehen zu können, auf der Linda bis eben gesessen hat. Linda verschränkt die Ellbogen vor der Brust und schiebt die Unterlippe vor, als überlege sie. Siehst du den roten Saum am Himmel?, fragt sie schließlich. Ist das nicht schön? Irene sieht den Sonnenuntergang an, das Rot, das an den Rändern verwischt und in die Farbe einer abheilenden Wunde übergeht, die dunklen Wolken, die sich, zögernd wie scheue Tiere, vor das Leuchten schieben. Ja, sagt sie, wirklich schön.

In der Nacht setzt der Regen ein, der Sturm reißt am Haus, bis es ächzt. Im ersten Morgenlicht kommen die Kinder zu ihnen und legen sich zwischen sie. Es stürmt den ganzen Tag, und sie verlassen das Haus nur kurz, um mit Almo zum Pinienwald zu gehen. Das Haus ist ihr Schiff, Irene ist der Kapitän und Albert der erste Offizier. David ist der Maat und kocht das Mittagessen, Ellen hilft ihm. Sie schneiden Paprika und Zwiebeln in dünne Ringe und braten sie an, bis das ganze Haus danach riecht. Sie spielen, was wärst du für ein Tier, wenn du eins wärst? Sie sind ein Schakal (Albert), ein Gnu (Irene), ein Reh (Ellen) und ein Hamster (David). Sie spielen Theater; Ellen legt Irenes Schmuck an und bindet sich einen Seidenponcho als Schleier um den Kopf, David führt sie ins Wohnzimmer und ist ihr Diener. Er nimmt ihre Befehle entgegen und holt das Gewünschte (Kissen, einen Apfel, Stifte, den Malblock). Er baut ihr aus den Kissen einen Thron, er reicht ihr den Apfel, und sie isst langsam, während er neben dem Kissenthron kniet und aufmalt, was sie ihm befiehlt. Als ihr langweilig wird, nimmt sie ihm den Block aus der Hand und schreibt auf ein leeres Blatt: Hiermit gebe ich dich frei, und Irene muss David erklären, was das heißt und dass er nicht weinen muss.
Am Abend bringt Linda ihnen eine Packung Kerzen. Ihre Locken sind aufgelöst, die Strähnen hängen feucht herab, sie sieht älter aus als gestern. Vielleicht könnt ihr sie ja brauchen, sie zuckt mit den Schultern, wäre nicht der erste Stromausfall hier. Am Gartentor dreht sie sich noch einmal um. Keine Sorge, sagt sie, wir kümmern uns um euch.

Weil das Wetter auch am nächsten Tag nicht aufklart, beschließen sie, zum dreißig Kilometer entfernten Meeresmuseum zu fahren. Das Dorf ist nicht weiß an diesem Morgen; es ist grau und von einer dunklen Wolkendecke überspannt, die keinen Strahl durchlässt und keine Wärme. Die langen Blätter der Palmen werden gezaust, die Läden haben ihre Markisen eingefahren und die Auslagen nach innen geräumt. Die Stühle des Cafés sind gegen die Tische gelehnt und strecken ihre gusseisernen Beine von sich. Ein Mann in langem Kittel rennt über die Kreuzung, in jeder Hand eine Milchpackung. Sie biegen auf die Landstraße ein, fahren durch schroffe, rote Felsen, die Straße ist eine Rinne, durch die das Auto wie eine Murmel gleitet. David und Ellen streiten sich kurz, dann schweigen sie und wenden die Köpfe ab, um sich bis zum Ende der Fahrt nicht mehr anzusehen.
Die einzigen Lichtquellen sind die Aquarien, große Glasquader, aus denen heraus es leuchtet. Ellen steht vor dem Becken mit den Kaiserfischen. Sie presst ihr Gesicht gegen die Scheibe, der schönste der Fische (mit blauem Kopf und gelb kariertem Bauch) schießt auf sie zu und weicht dann ruckartig zur Seite aus. In einem anderen Aquarium schwebt ein Seepferdchen vorbei, das eine lange, rüsselartige Schnauze hat und acht Flossen. Es gibt kugelige Fische und solche, die an auffällige Broschen erinnern. Albert erzählt den Kindern, was er über die Fische weiß; es ist nicht viel. Irene geht in einen Raum, in dem sich außer ihr nur ein alter Mann befindet, der auf der Steinbank rechts der Tür mit auf die Brust gesunkenem Kinn schläft. Wenn sie sich in den Scheiben spiegelt, sieht es aus, als lebte auch sie in der Unterwasserwelt, als streckte die Seeanemone ihre zahllosen Finger nach ihr aus, fordernd und unheimlich, als schauten sich die mageren Röhrenaale, die senkrecht aus dem Boden ragen, suchend nach ihr um. Als sie die goldgesprenkelten Piranhas betrachtet, wie sie, reglos bis auf das Spreizen der Kiemen und das nervöse Rollen ihrer hervorquellenden Augen, einander belauern, als würden sie der eigenen Art misstrauen, überkommt sie die Erinnerung wie ein heftiger Stoß vor die Brust.
Die Müdigkeit. Die Scham. Und, mit irritierender Gleichzeitigkeit, eine jähe Freude.

Während sie im Museum waren, muss ein Gewitter niedergegangen sein. Auf dem Parkplatz liegen Äste herum, die sie bei ihrer Ankunft nicht bemerkt hatten, und es gibt Pfützen an Stellen, wo vorher keine waren. Die Dämmerung hat eingesetzt, eine gelbliche, ins Braune sinkende Dunkelheit. Ein Zittern liegt in den Kronen der Bäume, eine letzte Vibration, ein Nachbeben. Es ist dunkel, als sie ins Dorf zurückkommen. Sie parken das Auto neben dem Haus. Im Garten stehen Peer und Linda, sie winken, und Ellen schnaubt und hebt unwillig die Hand, um auch zu winken. Was machen die denn schon wieder hier?, fragt Irene leise. Peer trägt einen schwarz glänzenden Regenmantel und Turnschuhe, seine Beine sind nackt. Die Regenjacke von Linda ist gelb, beide haben sich die Kapuzen über die Köpfe gezogen; sie hängen ihnen weit in die Stirn und machen ihre Gesichter klein. Wir dachten schon, ihr wärt abgereist, sagt Peer. Kamen gerade hier vorbei und haben in alle Fenster geschaut, aber nirgendwo war Licht. Ihr solltet immer ein Licht anlassen, unterbricht Linda ihren Mann, sonst wird vielleicht noch eingebrochen. Tja, sagt Albert, da habt ihr wohl recht. Er lächelt und nickt einige Male. Linda sagt, schlimmes Wetter, ich bin ganz durchgefroren. Sie schüttelt sich, ich werde bestimmt krank, hab' so was im Gefühl. David steht an der Haustür und ruft, schließ doch mal einer auf! Wollt ihr mit reinkommen?, fragt Irene, und Peer sieht fragend zu Linda, die den Kopf zur Seite legt, einen unschlüssigen Kussmund macht und einmal kurz mit den Schultern zuckt. Na, warum nicht, sagt Peer, aber nur auf einen Sprung.

Die Hitze kommt unvermittelt zurück, sie fällt auf das Dorf, auf seine von Schlamm befleckten Mauern, die braunen Rinnsale, die zerrissenen Girlanden in den Nationalfarben; sie ist so stark, als müsse sie die zwei verschenkten Tage wiedergutmachen. Albert ist mit den Kindern im Wasser. Sie haben eine Luftmatratze dabei, und Irene kann ihre Rufe hören, ihr Lachen. Das gleichmäßige Heranrollen der Wellen, die Wärme auf ihrem Bauch, der Sand, der sich den Formen ihres Körpers anpasst. Sie muss eingeschlafen sein; sie befindet sich in einem Zimmer, dessen dunkler Boden zu schwanken scheint. Vor dem Fenster steht ein Mann, sie sieht die Umrisse, kann aber sein Gesicht im Gegenlicht nicht erkennen. Sie glaubt zu wissen, wer es ist; sie ruft seinen Namen, doch er reagiert nicht. Sie geht auf ihn zu, der Boden gibt unter ihren Füßen nach, sie läuft langsam und ungeschickt wie auf einer Turnmatte, es ist Winter, die Stadt vor dem Fenster ist fremd und klamm, sie sagt, da bin ich (und denkt, was für ein Satz, was für eine Feststellung: ein Angebot oder eine Forderung, in die sie ihr ganzes Leben setzt).
Als sie die Augen öffnet, sieht sie ein Gesicht im Blau des Himmels. Hast du gehört?, sagt Peer, nicht einschlafen. Sie lächelt, und er setzt sich neben sie. Ist Albert im Wasser?, fragt er. Irene nickt und richtet sich auf. Da hinten! Sie zeigt auf das Wasser, aber sie kann Albert und die Kinder nicht sehen. Wo?, fragt Peer. Da waren sie eben noch, sagt Irene. Sie blickt auf den Strand, der fast leer ist, und es gibt einen Moment lang die Möglichkeit, dass sie verlassen worden ist, oder dass es all das (ihre Kinder, Albert, das Haus) nie gegeben hat, dass einzig der Mann existiert, von dem sie geträumt hat. Peer sagt, da ist niemand. Er legt ihr eine Hand auf das Bein, sie betrachtet ungläubig seine Finger auf ihrem Oberschenkel, seinen Handrücken. Zieh dir lieber etwas über, sagt er, du bist schon ganz rot. Er steht auf, sieht sie nachdenklich und ein wenig belustigt an und sagt, Linda, als verbinde ihn und Irene ein gemeinsames Wissen, das mit diesem Namen abgerufen werden könne; als würde der Spott, den er in seine Stimme legt, auch Irenes Spott sein, als betreffe er sie und ihn und Linda. Sie wartet sicher schon, sagt Irene, und Peer nickt und lächelt und dreht sich im Weggehen noch einmal um, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Ellen rennt über den Sand und weicht Peer aus, der bei ihrem Anblick stehen bleibt; in einer Hand hält sie ein Eis, das sie Irene entgegenstreckt. Hast du uns schon gesucht? Sie lacht, du hast sicher schon gedacht, wir wären ertrunken! Und hast du gewusst, dass es hier Quallen geben soll, die die Haut verbrennen, wenn man sie berührt?

Albert weiß mehr als Irene. Er weiß, dass er sie liebt, und dass das nicht selbstverständlich ist. Er sagt, ich werde dich immer lieben, und: Ich kann dir verzeihen, aber du musst es auch wollen. Er hat sich auf dem Bett ausgestreckt, während Irene, den Kopf in die Hände gelegt, auf dem Sessel am Fenster sitzt. Er spricht mit einer Dramatik, die sie erst erschreckte und jetzt ärgert. Ich mache es nicht mit Absicht, sagt sie matt. Sie hebt den Kopf und sieht aus dem Fenster, sie sagt, rate mal, wer da ist, und Albert fragt, was um alles in der Welt wollen die von uns? Er steht auf und beugt sich über Irenes Schulter, um in den Vorgarten zu schauen.
Peer und Linda haben das niedrige Tor geöffnet und kommen aufs Haus zu; Ellen sitzt in der Hollywoodschaukel, sie stößt sich mit einem Fuß vom Boden ab und nickt den Besuchern kurz und ohne ein Lächeln zu. Irene kann sehen, wie Peer langsam auf sie zugeht, wie sie den Fuß über den Boden schleifen lässt, um der Schaukel den Schwung zu nehmen, wie sie aufsteht und Peer, beide Hände in die Hüften gestützt, zuhört. Von hier oben sieht sie aus wie eine schöne, kleine, sehr zierliche Frau. Sie streckt einen Arm aus und nimmt den Umschlag entgegen, den Peer ihr hinhält, dann wendet sie sich abrupt von den Besuchern ab, die noch einen Moment stehen bleiben, bevor sie den Garten verlassen. Sie sind Bluthunde, die das Unglück riechen und ihre Opfer verfolgen wie angeschossene Tiere, denkt Irene. Sie kann sich nicht wünschen, anders gehandelt zu haben, daran wird auch dieser Urlaub nichts ändern. Unten wird die Haustür geöffnet, und Ellen ruft, eine Feier, ihr seid eingeladen!
Im Licht der Nachttischlampe betrachtet Irene Albert, der, kaum dass sie sich hingelegt hatten, eingeschlafen ist, während sie in einem Buch gelesen hat, müde und aufgekratzt. Ganz nah hält sie ihr Gesicht vor seines, mustert sein braunes, struppiges Haar, sein schmales Kinn, die zuckenden Lider, hinter denen er Kämpfe auszutragen scheint. Sie legt eine Hand auf seinen Bauch und spürt das Heben und Senken, sie denkt, man sollte nicht im Mai heiraten, sie denkt, ich gehe langsam zugrunde, oder er, und dass es ein Rätsel gibt, das, wenn man es lösen kann, verrät, wen man wirklich liebt, und Albert schlägt die Augen auf, so plötzlich, als habe er gar nicht wirklich geschlafen. Was ist?, fragt er. Nichts, flüstert sie, gar nichts, und er wird wieder einschlafen und sich am nächsten Morgen nicht erinnern können.

Linda trägt ein quergestreiftes Kleid, das sie molliger und kleiner erscheinen lässt, als sie ist. Der Hut auf ihrem Kopf ist aus Bast, an einem violetten Band sind Stoffblüten befestigt, Rosen, Nelken, eine dickblättrige Lilie; ihr Gesicht ist geschminkt, auf ihre Wangenknochen hat sie je einen Klecks Rouge aufgetragen und zu zwei länglichen Striemen hinabgezogen, die Lider schillern grün, eine Schicht Puder ist über die Wangen gelegt, so dass ihre Haut staubig aussieht. Sie dreht sich um die eigene Achse; Irene und Albert bleibt nichts anderes übrig, als zu klatschen und ihre eigenen Kostüme – eine gelbe Tunika, die Irene in der Taille mit einer Kordel zusammengeschnürt hat, und zwei taubengraue Badetücher, die Albert als Turban und Umhang trägt (ein arabischer Fürst, hat Ellen erklärt) – mit einer ähnlichen Geste vorzuführen. Sehr schön, sagt Linda, ihr habt also etwas zum Verkleiden gefunden! Irene sieht erst jetzt, dass Linda an den Füßen nichts trägt außer einigen silbernen Ringen an den Zehen und je zwei Reifen um die Fessel, die bei jedem Schritt ein Klirren von sich geben. Ja, sagt sie. Auf der Einladungskarte hatte gestanden: Um Verkleidung wird gebeten. Es war Ellen gewesen, die sich die Kostüme für sie ausgedacht hatte, und sie war es auch gewesen, die sie beruhigt hatte, dass sie auf David würde aufpassen können. Wir haben keine Angst, hatte sie gesagt und ungeduldig auf ihre Eltern geschaut, die in ihren Verkleidungen auf der Bettkante saßen und zögerten, das Haus zu verlassen. Geht schon!
An den Wänden hängen Bilder, die nur aus Farbflächen bestehen, und das Porträt einer Nackten, die sich dem Betrachter über die runde Schulter zuwendet, der Blick auffordernd und ein wenig spöttisch. Das Esszimmer ist voller Menschen; Albert ist nicht der einzige, der einen Turban trägt, aber es gibt auch originellere Kostüme: einen Ritter mit paketbrauner Papprüstung, eine orientalische Tänzerin mit einem Rock aus Vorhangstoff, eine Squaw, die sich die langen Haare mit Bändern umwickelt und zu einer Fontäne hochgebunden hat. Irene geht zum Esstisch, auf dem Speisen bereitstehen, Gläser, Flaschen und eine Schale mit Eiswürfeln, die schon in sich zusammensacken. Ein Mädchen mit blauen Augen und blassen, nackten Armen ist neben sie getreten, sie hebt eine der Weinflaschen gegen das Licht, dann sieht sie Irene fragend an, und Irene nickt und hält ihr ein Glas hin. Das Mädchen schenkt den Wein ein, Irene trinkt und blickt sich suchend um. Sie kann Albert nicht finden. In einer Ecke des Zimmers sieht sie eine Frau und einen Mann. Der Mann hat ein hageres Gesicht mit eng stehenden Augenbrauen, dunkel und pelzig wie Raupen. Die Frau ist älter als der Mann. Weil sie klein ist, muss sie den Kopf in den Nacken legen, wenn sie mit ihm spricht. Um den Hals trägt sie eine Kette aus bunten Papierblumen. Irene hört die empörte Stimme der Frau und sieht den Mann antworten, sie ahnt plötzlich, dass aus dem Gespräch ein Streit werden könnte, die Frau verstummt, sie senkt den Kopf; es sieht aus, als gebe sie auf, oder als sei sie schuldig.
Als Irene sich umdreht, steht Peer hinter ihr. Er ist weiß angezogen, nicht eigentlich verkleidet, nur seine Hände stecken in Latexhandschuhen, wie ein Chirurg sie tragen würde; er deutet mit einem Kopfnicken auf das Paar in der Ecke und sagt leise, das kann nicht gut gehen, oder was meinst du?, und als sie nicht antwortet, fragt er, hast du sie gesehen? Sie folgt seinem Blick und entdeckt zwischen den Menschen Linda, die mit dem Rücken zu ihnen steht. Eine Blume an ihrem Hut hat sich gelöst und droht im nächsten Moment über den Rand der Krempe zu fallen. Sie sieht aus wie ein dickes Bonbon, sagt Peer. Er klingt verächtlich und so, als habe Linda ihn enttäuscht. Ein rundes, gestreiftes Bonbon. Aber nein, sagt Irene. Sie ist erschrocken über den Verrat, doch da ist noch etwas anderes, eine boshafte Freude, die Bereitschaft zu einer Gemeinheit. Komm, sagt Peer und zieht sie vom Tisch weg, ich zeig' dir was. Seine Hand im Handschuh fühlt sich weich und glatt an; Irene denkt an eine Echse, an die pulsende Haut eines Salamanders. Wo gehen wir hin?, fragt sie. In den Garten, sagt Peer, brauchst keine Angst zu haben. Er redet mit ihr wie mit einem Mädchen, dem er eine Überraschung präsentieren will. Irene lässt sich von ihm aus dem Esszimmer ziehen, sie stößt gegen Rücken und Arme, sie entschuldigt sich im Weitergehen. Im Garten lehnt sich ein Mann gegen den Stamm des Affenbrotbaumes, er blickt der Terrasse entgegen, als warte er. Peer zieht sie weiter, bis sie am Ende des Gartens einen Schuppen erreichen, um den er sie herumführt. Er macht einen Schritt auf sie zu, sein Gesicht nähert sich ihrem, eine dunkle Strähne fällt ihm in die Stirn, er ist bedrohlich und im nächsten Augenblick lächerlich, wie eine Kippfigur; Irene sieht an ihm vorbei auf die Lichter eines Hauses, das sie einen Moment lang für ihres hält. Was willst du?, fragt sie unwillig, und Peer tritt einen Schritt zurück und sagt, du musst dir nichts einbilden, weißt du. Aus seiner Hosentasche zieht er ein Päckchen Zigaretten und zündet sich eine an. Vom Haus her dringt Musik zu ihnen, ein langgezogener kläglicher Laut, der von einer Reihe schneller Klavierläufe abgelöst wird. Irene lehnt sich gegen den Schuppen und sieht Peer an; sieht, wie er an der Zigarette zieht, wie seine weiße Kleidung schimmert im Dämmerlicht, sie hört das Geräusch, das entsteht, als er sich mit dem Handschuh über die Haare fährt. Was soll man machen?, sagt Peer, ich mag dich halt. Er sieht sie abwartend an. Und du bist unglücklich, das merkt man, sagt er dann, und Irene beginnt zu lachen, leise erst, dann lauter, als ihr klar wird, wie dumm Peer ist (so dumm, dass er nichts von seinem Zufallstreffer ahnt), und wie richtig das ist, was er sagt. Es gibt die Möglichkeit, sich zu ergeben; es gibt die Möglichkeit, diesen Mann, dessen Alter sie nicht einschätzen kann, der zwischen vierzig und sechzig sein kann, dessen Haare vielleicht gefärbt sind, in diesem unnatürlichen Schwarz, das ihn trotz der Sonnenbräune blass erscheinen lässt, diesen Mann, der seine Frau verrät und der Irene mit den simpelsten Tricks beeindrucken will, zu küssen, es gibt sogar die Möglichkeit, mit diesem Mann, dem sie und Albert verschiedene Spitznamen gegeben haben (il Professore, der General), zu schlafen, im Schuppen oder im Gebüsch, schnell und achtlos wie zwei Hunde; es könnte sie heilen, denkt sie, indem es alles entwertet; es könnte sogar Spaß machen, sie müsste nur für einige Minuten sich und ihn vergessen können. Was ist, fragt er, warum lachst du? Er gibt ein schnaubendes Geräusch von sich, das wie der Auftakt zu einem Lachen klingt, dem er aber kein Lachen folgen lässt. Was ist so komisch? Irene zuckt mit den Schultern. Nichts, sagt sie, eigentlich ist gar nichts komisch. Sie legt den Kopf zurück und schließt die Augen. Wenn ein Tier die Kehle darbietet, appelliert es an das Mitleid des Gegners; ob er das weiß? Aber sie selbst weiß nicht, ob sie Schonung will oder die Annahme ihres Opfers.
Wenn er jetzt spricht, ist seine Stimme sehr nah. Er flüstert, er sagt ihr Nettigkeiten. Sie will nicht hören, dass sie schön sei und er sie seit ihrer ersten Begegnung begehrt habe, sie hat den Eindruck, dass ihr schlecht würde, wenn er von Liebe spräche oder von Schicksal. Er muss sich nicht sorgen, dass sie aufhören könnte, ihn zu mögen; sie hat ihn nie gemocht. Er versteht nicht, dass das der Grund ist, warum sie mit ihm schlafen wird. Dass sie hofft, die Dinge dadurch wieder ins richtige Maß zu bringen, das Körperliche auf seinen Platz zu verweisen (vom Platz zu verweisen, denkt sie), als eine Sache, die passieren kann, aber nichts bedeutet. Sie ist jetzt schon schön, sagt Peer, sie kommt ganz nach dir. Er zieht am dünnen Stoff der Tunika, um an ihre Schultern, ihre Brüste zu gelangen. Und sie weiß es, flüstert er, sie weiß es ganz genau. Er spricht von Ellen, und es ist, als würde er Irene in ein Becken mit Eiswasser tauchen. Sie sagt, ich muss gehen, sie stößt sich von der Wand ab, sie geht zwischen den Farnen entlang, er schickt ihr ihren Namen hinterher wie einen verirrten Schuss, sie stolpert über einen Stein und kann sich im Fallen noch halten, sie beginnt zu laufen, auf das Haus zu, dessen Fenster buttergelbes Licht ausstrahlen, der Affenbrotbaum steht verlassen in seinem Rondell, die schwarzen Früchte hängen wie erschlaffte Ballons an den Zweigen, auf der Terrasse kann Irene Albert erkennen, der sich suchend umschaut; sie fühlt sich, als komme sie nach einer langen Reise zurück, aber noch weiß sie nicht, ob sie alles so vorfinden wird, wie es war, ob ihre Kinder unversehrt sind, die sie alleine in einem fremden Haus zurückgelassen hat, in einem Haus, von dessen Balkon sie sich hinabstürzen, dessen hölzerne Wände in Flammen aufgehen könnten, dessen Ecken und Kanten und Fallgruben sie nicht kennen. Lass uns gehen, sagt sie, als sie außer sich vor Angst Albert erreicht, der inzwischen den Turban abgesetzt hat und aussieht wie immer; lieber, lieber Albert, denkt sie. Sie verabschieden sich hastig von Linda, die ihren Hut in die Hand nimmt und ihnen hinterherwinkt. Und sie rennen die paar Schritte zu ihrem Ferienhaus, halten sich an den Händen, sie lachen heiser und wie erleichtert auf, als sie das Haus erreichen, das führerlose Schiff, in dem ihre Kinder schlafen, der Dunkelheit ausgeliefert, dem nächsten Tag entgegentreibend, nichts ahnend von der Gefahr.