Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Ina Strelow, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Ina Strelow
Arrest
Nein, dieser Tag war ihr nicht gelungen.
Sie hatte nicht einmal einen Spagat nötig. Sie ist abgerutscht in ihm, nachdem sie in das Grinsen dieses Mannes gefallen war. Ein Grinsen, das ihr hart zwischen die Beine gegriffen und sie betäubt stehen gelassen hatte. Irgendwann musste es ja passieren. Schließlich wohnen sie im selben Haus. Heute hatte sie ihm ins Gesicht geschaut. Ein Fehler von nicht mal neunzig Grad. Nun wird sie doch ihre Rache sammeln müssen. Aber eins nach dem anderen.
Sie steht am Küchenfenster, sieht im Parterre gegenüber die ersten Lampen leuchten und denkt, Gott sei dank, bald vorbei. Dann schneidet sie den Titel des gestern ausgelesenen Buches aus dem Schutzumschlag, notiert auf der Rückseite das Datum, klebt ihn an den Titel des zuvor ausgelesenen Buches, an dem einundzwanzig weitere Titel kleben, und legt den gefalteten Lesebeweis in ein schwarzes Kästchen. Andere sind rot, manche haben einen Deckel. Sie sammelt die Spuren ihres Lebens in Schatullen, Kästchen und Notizheften. Ihr Kalendarium, ein wunderbares Wort, sie spricht es gern, sie spricht es laut. Sie nennt es ihre Erlebnisherde und sich selbst deren Hütehund. In ein Heft klebt sie einen blauen Punkt für das verunglückte, aber immerhin gelebte Kaffeetrinken mit einer Frau, mit der sie in der Änderungsschneiderei arbeitet und der sie sich als verwendbar einreden wollte. Sie ärgert sich: Irgendwas hatte sie übersehen oder die Frau ist noch zu gut versorgt. Für die heute gelaufene kleine Parkrunde klebt sie einen grünen Punkt ein und schreibt neben beide die Daten. Sie legt ihren Zeigefinger auf einen roten Punkt, in dem jener letzte Traum steckt, von dem sie sich eine Fortsetzung, am liebsten eine Traumserie erhofft. Die gelben konnte sie lange nicht mehr einkleben. Damit muss sie fertig werden, dass sie seit einhundertsiebenund-neunzig Tagen kein Mann angesprochen, nicht einmal angelächelt, geschweige aufgefordert hat. O doch: Heb die Hufe da vorn, wir wolln ooch noch raus!, alte Vettel! Die schwarzen Punkte klebt sie in ein Extraheft.
Und andere haben es gar nicht nötig, denkt sie.
Seit Tagen liegt das fremde Päckchen ihrem Blick im Weg. Es ist dünn, biegsam und leicht. Der Absender versteckt sich hinter einem P. Mit einem Tritt schießt sie es durch den Flur, das Päckchen, das die andere nicht mehr nötig hat, sie selbst aber jeden Tag beleidigt. Sie sollte sich entscheiden. Aber eins nach dem anderen.
Endlich kann sie das Licht einschalten, der Abend ist angekommen unterm Dach, Gott sei dank, denkt sie noch einmal, bald vorbei.

Ich werde meine Augen nicht öffnen.
Er steht an meinem Bett. Ich werde mich nicht bewegen. Er zieht die Decke von mir herab. Ich werde zu nackt sein. Für das Dunkel. Zu weiß. Seine Lippen beginnen auf meinem Bauch. Meine Beine liegen in einem Riss. Seine Lippen sind kalt. Meine Brüste haben ihren Schlaf vergessen. Seine Zunge tobt sich aus. Meine Beine liegen in einem größeren Riss. Ich fordere. Ich atme. Er flüstert sein Komm!, es ist kein Versprechen. Er steht an meinem Bett. Und niemand wird erfahren, wie er hereingekommen ist. Ich werde meine Augen nicht öffnen.

Ein Morgen, der mit hundert Füßen durch ihr großes Fenster eingefallen ist. So viel Himmel. So viel Platz über dem Kopf, denkt sie.
Sie steht am Küchenfenster, in der Hand hält sie die Fahrkarte. An der anderen Hand spreizt sie die Finger und schneidet mit der Papierkante in die gespannte Haut zwischen Zeige- und Mittelfinger. Nirgendwo tut es mehr weh. Ein sehr heller Schmerz steigt bis in ihren Kopf. Er schmeckt sauer. Dann kommt das Blut. Die Zugreservierung gilt für heute und der lindgrüne Klebezettel sagt Komm!. Darunter steht Dein Seeadler, na ja, denkt sie, entwaffnend originell. In den Keller hat sie alles Nötige für drei Tage getragen. Wasser, Essen, sogar Orangensaft und ein gekochtes Ei. Schließlich rückt ein Sonntag heran und durch den soll sich auch die andere beißen. Das Aas, muss es nun im Abseits ihr Wochenende feiern. Mir schlugen sie regelmäßig auf den Kopf, die Wochenenden. Ihr waren sie die hohe Jagdzeit. Die Siegerinnenzeit. Vorbei. Ich habe sie im Keller eingesperrt. Zack und zu. Im Keller des geräumten und dann vergessenen Seitenflügels.
Und jetzt fahre ich nach Z. Ich werde mich nicht verirren. Drei Stunden, siebenund-zwanzig Minuten. Einmal umsteigen. Das muss reichen. Es wird mir wohl gelingen, für ein paar Stunden auf fremden Füßen zu stehen.

¿¿

Er hatte sich verschätzt. Die Pension liegt weiter entfernt vom Bahnhof, als er der Karte entnommen hatte. Im Zimmer sieht er sich gar nicht erst um. Er öffnet seine Tasche, stellt eine hohe schmale Figur aus elfenbeinfarbenem Holz auf den Tisch und verteilt seine Sachen auf den Stühlen und dem Bett. Anwesenheit, denkt er, und danach, Wird sie kommen? Er hatte eine Zeit errechnet, die ihm die Wahrscheinlichkeit ihres Kommens beinahe als Gewissheit einredete. Ein Wochenende. Eine mit Reiseplänen geizende Jahreszeit. Fünf Wochen nach ihrem Begegnen, in denen auch sie noch nicht vergessen haben kann.
In zwei Stunden kommt der Zug an.

¿¿

Der Bahnhof in Z. überrascht sie nicht. Er lagert in der angepassten Üblichkeit. Sie bleibt genau dort auf dem Bahnsteig stehen, wo sie ausgestiegen ist, und sucht den Suchenden. Das geht schnell. Sie findet nicht und beginnt zu frieren.

Ich drehe mich nicht um. Er steht dicht hinter mir. Er sagt sein Komm! in meinen Nacken. Wir treiben in einen Gleichschritt hinein. Ich greife nach seiner Hand. Er umfasst mit der anderen meinen Bauch. Wir gleiten, ein Wesen, und schauen jeder das Andere. Perfekt. Ich drehe mich nicht um.

Die Pension ‚Seeadler’ kriecht durch einen Jahrhundertfamilienbesitz, denkt sie. Sie riecht das Wohnzimmer ihrer Großmutter. Ein Geruchspendel zwischen Porzellan-blumenblüten und Möbelpolitur, zwischen Schokolade, Äpfeln und Honigmilch, daneben der Schlag ins Gesicht, dem immer das Trösten folgen konnte.
– Ich hatte reserviert.
Sie kramt nach einer Gelassenheit und nennt im Sichwegdrehen ihren Namen.
– Tut mir leid, ich kann Ihre Reservierung nicht finden. Aber wenn Sie Zimmer 11 …
– Ja.

¿¿

Als der Zug einfährt sucht er aus einem Versteck die wenigen Aussteigenden ab. Das geht schnell. Sie ist nicht gekommen.
Eine Frau bleibt auf dem Bahnsteig stehen, als hätte ihr jemand befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Sie hält nach niemandem Ausschau, auch nicht nach dem Irrtum, zu früh ausgestiegen oder im falschen Zug gefahren zu sein. Bevor sich die Türen schließen, hofft er einen kurzen Moment auf eine allerletzte Aussteigende. Ein neues Hoffen auf den nächsten Zug übersteht keine fünf Schritte in ihm.

Nicht nach innen fallen, denkt er. Und nicht nach hinten sehen. Alles im Gestern ist gestorben.
Er läuft vom Bahnhof in die Pension zurück. Hinter der Zimmertür erwarten ihn seine ausgelegten Sachen, also seine Anwesenheit, und die Holzfigur. Sie kann ja nichts dafür. Ich könnte dich zerbrechen. Ich könnte dich am Meer verbrennen. Er nimmt eine Feile und beginnt ihr allmähliches Verschwinden. Als erstes zerstört er ihren rechten Fuß. Er ist grob.

¿¿

Zwei Schalensessel, ein Tisch, ein Schrank, ein Bett, eine Stehlampe und ein Fliegerfänger. An den Wänden hängt eine Zeit, die irgendwann abgesprungen ist aus dem Ticken ins Heute. Ich werde mich verirren.
Dann spürt sie sie heranrücken. Die Frühabendstunden. Die Notzeit im Tag, wenn die anderen für den Abend aufrüsten. Sie selbst hing in diesen Stunden regelmäßig am Strick. Bis sie begann, zwischen sechs und acht Uhr abends ihr Kalendarium zu füllen und ihre Erlebnisherde durchzuzählen. Sie entdeckte die Obhut in der doppelt gesicherten Ordnung: zur gleichen Zeit dasselbe tun. Hier jedoch balancieren die Frühabendstunden auf dem oberen Rand der Fremde und brechen einem mindestens die Knie.
Warum musste ihr Päckchen ausgerechnet bei mir abgegeben werden? Und warum habe ich es nicht gleich zerfetzt? Oder ihr in den Keller geworfen? Statt Brot und Käse. Ein Foto vom Eisufer eines Sees, ein Vogel aus Plüsch mit zu rotem Schnabel, wie albern, denkt sie, eine Fahrkarte mit Reservierung nach Z. und ein lindgrüner Zettel. Das hätte sie alles fressen können. Wie jämmerlich sie heute Morgen aussah, als ich mich verabschiedete. Wie zerlumpt unter der Haut. Wenn sie niemand durch den Tag trägt, ist sie lebensunfähig. Sie ist ein Krüppel. Ein Krüppel, der immer gewann. Vorbei. Jetzt werde ich mich um sie kümmern.
Der Schalensessel umschließt ihren Hintern und ihren Rücken, als sei er der Abguss ihres Körpers. Ein gutes Gehäuse, denkt sie, zieht aus dem Koffer eine schmale Mappe und öffnet die Sammlung ihres Lebens. Die hat sie schwarz auf weiß. Und bunt. Damit kann sie sich nicht abhanden kommen.
Das auseinander gefaltete Leporello verbindet die dreiundzwanzig Buchtitel mit sieben Eintrittskarten und zwei Zugfahrkarten. Bald werden es drei sein. In dem Notizheft zählt sie die Punkte durch. Die blauen haben deutlich abgenommen, seit sie die Frau, die sie ihre Freundin nannte, nicht mehr trifft. Jedenfalls nicht mehr, zu den von der Freundin bevorzugten Vergnüglichkeiten, bei denen sie selbst nur eines zu erfüllen hatte: immer dicht neben ihr zu stehen. Das reichte schon. Immer nur dicht neben ihr. Blass, stumm, nebensächlich und genau darin unverzichtbar für die andere. Wenn sie aber in der Nacht die Kotze der anderen aufwischte, weil die doch mal männerlos geblieben oder besoffen war, und ihr danach den Rücken wärmte, war sie zwar längst die Siegerin, doch wer sah das schon. Wie blöd. Man kann nur klüger werden. Dafür haben sich die roten Punkte in ihrem Kalendarium ansehnlich vermehrt. Sie ist eine Traummeisterin geworden, denkt sie und lächelt. Die gelben Punkte kleben zu dritt und verblasst, als hätte sie drei Insekten zwischen den Seiten zerquetscht. Ja, ich bin, denkt sie. Ich bin in Z. Ich werde mich nicht verirren.
Endlich ist es dunkel draußen. Sie zieht sich aus und sieht sich in der Fensterscheibe an. Ich kann es mir nicht vorwerfen. Ich habe es lange versucht. Ich habe es nicht geschafft. Wie schafft man das, sich selbst beim Namen zu nennen?

Ich werde meine Augen nicht öffnen.
Er steht an meinem Bett. Er zieht die Decke von mir herab. Zu nackt. Zu weiß. Seine Lippen beginnen auf meinem Bauch. Meine Beine liegen in einem Riss. Seine Lippen sind kalt. Meine Brüste haben ihren Schlaf vergessen. Seine Zunge tobt sich aus. Ich fordere. Er flüstert sein Komm!. Er steht an meinem Bett.

Ein Morgen stellt sich immer wieder auf gesunde Füße, denkt sie, als sie in der Tür zum Frühstücksraum und in ihrem Suchen steht. Zuerst sucht sie nach einem guten Platz, der sie zugleich beobachten und verschwinden lässt. Dann sucht sie den Suchenden. Das Leben sollte Suchen heißen, denkt sie.

¿¿

Eine magere Anwesenheit empfängt ihn im Frühstücksraum. Ein Mann und eine Frau, die sich im Schweigen entkommen, denkt er, zwei Frauen in den Jahren zwischen Altrosa und Silbergrau, deren zu rote Münder verbergen, ob sie verlassen wurden oder verlassen haben, ein Vater mit Sohn in ihrer Pflichtzeit und eine Frau, die ich schon gesehen habe. Ein scheues Tier.
Er versteht es nicht. Er hatte sie gerettet. Sie ist nicht gekommen. Er hatte für sie einen Stuhl gebaut, den er ihr an den Tisch, ans Fenster, ans Bett gestellt und sie getragen hätte. Überall hatte er Platz gemacht für ein Wir. Sie ist nicht gekommen. Das hätte sie nicht tun dürfen. Sie wird alles Kommende hinter sich herziehen müssen. Alles Kommende, in dem nur der Verlust stecken kann. Es wird sie zerstören. Ich habe sie gerettet. Das sollte ein Anfang werden. Zerstören, sage ich.
Er steckt eine Feile und ein Notizbuch in die Taschen und sucht auf dem Buffet nach Überredungen hier zu bleiben.

¿¿

So sieht er also aus. Paul oder Pierre. Er sucht mehr als ein Frühstücksversteck. Sein Oberkörper ist nach vorn gebeugt, als wollte er immer nur losgehen. Er steht auf geschnittenen Füßen. Das ist gut. Er ist ein Opfer. Seine kurzen Haare sind kein Schutz über dem Schädeldach. Gar keiner. Seine Augen schauen verschieden groß. Das gibt ihm den zweiten Blick. Hinein und heraus. Vorsicht, er ist nicht nur Opfer. Seine Hände machen Appetit. Er hat eine Feile in der Hand und geht zum Buffet. Sein Rücken ist ein gutes Ziel. Ich weiß, dass du mich nicht erwartest. Das macht nichts. Ich bin hier. Und ich habe einen Vorsprung.
Inzwischen ist sie geübt genug, nicht dem Vollendeten hinterherzurennen. Das hat sie hinter sich. Das brachte ihr oft den gnadenlosen Absturz. Wie lange dauerte es jedes Mal, bis sie aus den Kriechbewegungen erst auf alle Viere und dann zurück ins Senkrechtstehen fand. Das Höchste, das sie sich zur Zeit leistet, ist ein Komm!. Und manchmal muss man eben wehtun, um es zu hören. Jener wilde Griff, der sie auf die Nahtstelle zwischen Schande und Verlangen stellt. Früher hat sie sich selbst Schmerzen zugefügt. Wie blöd. Man kann nur klüger werden. Der Schnitt zwischen Zeige- und Mittelfinger ermahnt sie.

Es war einer dieser gekochten Tage des letzten Sommers, als der Kinderwagen im Schatten und im dürftigen Grün ihres Hinterhofes stand. Welch ein Leichtsinn, dachte sie und setzte sich auf die schönen alten Steinstufen, auf die sie so gern ihre Hand legt. Sie wartete. Nicht lange, dann ging sie zum Wagen. Das Kind schlief und sah um Nase und Mund aus wie ein alter Mann. Kaum wahrnehmbar, wie die Sonne eben ihre Bahn zieht, schob sie den Wagen aus dem Schatten heraus. Das wäre ohnehin geschehen. Sie setzte sich wieder auf die schönen alten Steinstufen und wartete. Es dauerte elf Minuten, bis der kleine Greis zu schreien begann. Gern hätte sie ihn ein paar Minuten länger brüllen lassen, damit seine Erschöpfung mit voller Wucht in ihr Zuhilfekommen hätte fallen können. Aber die Akustik auf einem Hinterhof ist ein zu hohes Risiko. Sie nahm das Kind aus dem Wagen, es war schweißnass und seine Lippen waren weiß, legte es über ihre Schulter und wiegte es. Armes Balg und vollkommen sich selbst überlassen, dachte sie. Sie war froh, dass sie zur Stelle war. Als sie in ihre Wohnung ging, entschied sie sich für zwei blaue Punkte in ihrem Kalendarium. Das nächste Mal wird sie sich noch ein paar Minuten mehr gönnen.

¿¿

‚Strandcafé’ hängt ausgeblichen über dem Eingang. Das Café ist in dieser Zeit eine leere Grube. Aber eine geöffnete.
Nur nicht nach innen fallen, denkt er, und legt sein Notizbuch auf den Tisch.
Ich habe dich gerettet. Seine Schrift stolpert.
Man kann eben nicht nur auf dünnem Eis sterben. „Dünnem“ unterstreicht er. Das gefällt ihm und seine Schrift beruhigt sich in der ihm bekannten Schräge.
Mit einem gebrochenen Bein kann man überall krepieren, wenn niemand in der Nähe ist. Und niemand war in der Nähe. Und du hattest ein gebrochenes Bein. Erfroren wärst du auf dem Eis. Ich habe dich getragen. Ich habe dich gerettet. Das war mein Anfang. Dann habe ich dich aus diesem fast weißen Holz geschnitzt. Einen Stuhl hatte ich dir auch gebaut. Dann standst du vor meiner Tür. Das Leben konnte losgehen. Du hieltest mir einem Kasten Konfekt entgegen. Das war schon der Abschied. Eine Flasche Wein wäre ein Beginnen geworden, dachte ich später. Du wolltest dich nur bedanken. Ich habe dir erst den Stuhl, dann meine Figur gezeigt. Du hast gelacht und Pygmalion gesagt. Ich habe mitgelacht und dich nicht verstanden. Jetzt kann es losgehen, das Leben, dachte ich noch immer. Du hast dich bedankt und bist gegangen. Aber ich werde dich –
Eine Frau steht an seinem Tisch. Er schlägt das Buch zu und sieht sie an. Die Frau schweigt und schaut. Sie sollte kein Grün tragen, denkt er, und, wieder diese Frau.
Seine Wangen sind vernarbt. Wie viel Spott dort immer wieder gerissen haben muss, denkt sie. Seine Nase ist so kantig, dass sie das Gesicht zerschneidet und die schief sitzenden Augen betont. Um seinen Mund gräbt sich eine Traurigkeit voran. Ich werde dich so lange ansehen, bis du mir gefällst, denkt sie. Lange wird es nicht dauern. Lange dauert es nie, wenn einem der eigene Name nicht gelingt.

Es gab einen Mann, der ihren Namen sogar einmal gerufen hatte. Im Treppenhaus. Er wohnt unter ihr im zweiten Stock und nachdem sie lange genug Milch, Zwiebeln und Salz von einander geborgt hatten, öffnete sie ihm ganz weit ihre Tür. Sie hätte ihm im Bett, am Tisch, im Schrank Platz gemacht. Sogar im Bad. In ihrem Wünschen hatte sie ihm bereits ein Frühstück und den Sonntag bereitet. Nach dem zweiten Wohnungsschlüssel war sie längst auf der Suche durch alle Schubladen. Es war kein Zögern, mit dem er durch ihre weit geöffnete Tür trat. Es war ein Anlauf. Er drückte sie gleich im Flur gegen die Wand und hielt sie mit ausgestreckten Armen fest. Dann ließ er sie los und trat den einen möglichen Schritt zurück an die andere Wand. Sie blieb vor ihm stehen, als hielte er sie noch immer fest. Sie klemmte zwischen Wehren und Wollen. Ich bin wohl etwas aus der Übung, dachte sie, während er ihr die Sachen auszog. Zärtlich, fiel ihr in diesem Moment nicht ein, weil zärtlich ein Gleichgewicht verlangt, dachte sie später. Sie stand nackt, er in einem hellen Sommeranzug ihr gegenüber. Er berührte sie nicht. Er maß sie ab. Mit einem Tritt grätschte er ihre Beine, worauf sie erst einknickte, dann tiefer vor ihm stand. Warum?, dachte sie, und dann Komm!. Um nichts anderes geht es. Das weiß sie. Alles andere ist Ornament oder nur der Anlauf. Nachdem er den vorletzten Knopf seiner Anzugjacke geschlossen hatte, verzichtete er auf einen letzten Blick und ging. Als die Tür hinter ihm zufiel, rutschte sie ab. Scham breitete sich um sie aus. Ich werde ihm im Treppenhaus begegnen müssen, dachte sie als erstes. Und dann: Es hätte anders kommen können. Das weiß ich.

Sie schauen sich an und schweigen.
Rot. Ja, Rot sollte sie tragen, denkt er. Indischrot.
– Sie haben Ihre Feile vergessen.
Er versteht sie nicht.
Jetzt trifft sein Blick in ihrem Bauch ein und tobt dort herum. Sie zerspringt ein bisschen. Sei du nur froh, dass die andere nicht gekommen ist, du Ahnungsloser. Sie hätte dich zerlegt. Darin kenne ich mich aus. Die war immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die hat immer alles bekommen. Die Männer für ein Lächeln und die Markenhosen für nen Zehner. So geht das nicht. Das hält niemand aus auf die Dauer. Die musste nur fallen und irgendeiner stand immer schon da, um sie in sein Bett zu tragen. Das schlitzt einen auf, von unten nach oben. Nun ist sie verschlossen. Zack und zu. Denn, den, der auch mal nach einem ins Ziel kommt, hat man genauso nötig, wie den, der sagt Komm!. So einfach sind die Gleichungen des Lebens. Du hast sie gerettet, das wissen wir. Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort.
– Ich weiß, dass Sie mich nicht erwartet haben.
Er versteht sie nicht.
Sie geht. Er bleibt. Ich werde ihn besiegen. Aber eins nach dem anderen. Ihr Herz macht einen Ausfallschritt.

¿¿

Ich werde meine Augen nicht öffnen.
Er steht an meinem Bett. Er zieht die Decke von mir herab. Seine Lippen beginnen auf meinem Bauch … Meine Beine … Seine Zunge …

Sie schlägt die Decke auf und bleibt einen Moment im Brachland der Nacht liegen. Zu weiß. Für das Dunkel.
Sie geht leise Schritte. Die Treppenstufen knarren, als sei jeder Schritt ein verbotener. Mindestens ein heimlicher.

Zimmer sieben. Sie zögert, weiß aber, dass es nur ein Anlauf ist.
Mit einem Tritt stößt sie die Tür auf, reißt ihn vom Stuhl, wirft ihn aufs Bett, bindet ihn am Gestänge fest, lässt ihn staunen und ein bisschen fürchten, obwohl sie sich da nicht so sicher ist.
– Der Überraschungsangriff. Der schwächt den Starken und stärkt den Schwachen. Das hat die andere auch begreifen müssen. Lieg still, dann tut’s nicht weh. Das oberste Gebot. Und sieh mich an!
Sie knöpft sein Hemd auf, öffnet seine Hose und zieht sie auf die Knöchel hinunter. Das muss reichen. Mit seiner Feile schlitzt sie an beiden Seiten die Unterhose auf und klappt den Stoff nach unten wie einen Deckel. Nackt. Und Scham. Sie lässt ihn darin liegen. Ein Junge, nur in den Falten ergraut. Ich weiß, dass er der Falsche ist, Paul oder Pierre. Ihn will ich nicht einmal verwunden.
– Ich weiß, dass du mich nicht erwartet hast.
Er sieht sie an, als erkenne er sie. Sie bindet seine Arme los.
– Tu einfach so, als wäre ich die andere.
Sie setzt sich auf ihn, knöpft ihre Bluse auf und lässt ihre schweren Brüste über ihm hängen.
– Los, fass mich endlich an. Die Lüge erschreckt mich nicht.

Zimmer sieben. Sie zögert, weiß aber, dass es nur ein Anlauf ist.
Sein Ja! schleudert er aus einem Erschrecken heraus. Vorsichtig öffnet sie die Tür, Erschreckte sind unberechenbar. Sie steht und schaut. Auf ihn, ins Zimmer, auf die Figur in seiner Hand.
– Was wollen Sie?
Dich, sagt sie nicht.
– Wasser.
Er sucht in ihr.
– Was soll das?
Die Figur in seiner Hand ist dünn, hell und so lang wie sein Arm. Eine Elfenbeinfrau, denkt sie. Der hat es gut.
– Wer ist das?
– Ein Monster? Ein gebrochenes Bein? Ein Weib? Ein Traum?
Er streckt die Figur von sich.
– Sie ist nicht fertig.
– Sie ist auf dem Rückweg. Sie kehrt wieder ins Rohe zurück.
Das Holz ist so weich, als könnte sie einen Fingerabdruck auf ihm hinterlassen. Es ist keine Frau. Die Figur ist längs geteilt. Die rechte Seite ist eine halbe Frau, der er das Bein weggefeilt hat. Ihr halber Körper ist nackt und gesund für ein ganzes Leben. Ihr halbes Gesicht erinnert sie. Die halbe Frau ist angewachsen an der Hälfte des Mannes. Der Mann ist ein Bengel, der den Schalk noch kennt, dem aber die Füße schon schwer geworden sind. Der halbe Mann ist angewachsen an der Hälfte der Frau. Niemand ist der Stärkere. Niemand der Lautere. Niemand der Herrschende. Die Mannfrau ist nach vorn gebeugt, als wollte sie gleich losgehen.
– Die haben die Pappel vor meinem Haus abgesägt. Das Holz lag auf der Straße. Ich habe ein großes Stück mitgenommen und daraus eine Figur geschnitzt. Die Figur wurde Ich. Es ging mir gut mit mir, zu zweit. Später habe ich die Frau daraus geschnitten. Es ging mir besser. Ich hatte sie gerettet.
– Dich wolltest du retten. Darin kenn ich mich aus.
– Ich habe ihr erst einen Stuhl, dann ein Zimmer geschenkt. Die Figur wurde ein Wir. Sie ist nicht gekommen.
– Ich bin da.
– Ich werde mich an ihr rächen.
– Ja, räch dich. Was treibt uns sonst voran.
– Komm!
Er sagt Komm!, denkt sie, und will es nicht verlassen.
Behutsam zieht er sie zu sich heran. Sie stehen sich gegenüber. Sehr nah. Und schon sitzt sie auf dem Grat zwischen Schreck und Lust. Sie sieht ihn an und kippt auf die Seite der Lust. Wenn er jetzt sagt Zieh dich aus wird ihre Lust jubilieren. Sie könnte fünf gelbe Punkte einkleben und die würden für ein halbes Jahr reichen. Er sagt es nicht, er sagt:
– Wir versuchen es.
Er presst seinen Körper an ihren, biegt sie beide zurecht, dass ihre rechte und seine linke Hälfte einen gemeinsamen Körper ergeben sollen. Es tut weh. Es gelingt nicht.
– Und bloß nicht nach hinten sehen.
– Nur nach vorn schauen nur die Feiglinge.
– Meiner Figur sieht man nie ihr Vorher an, wenn sie das Nächste geworden ist. Als Wir war sie perfekt.
– Das Perfekte eröffnet immer den Stillstand. Du musst sie zerstören.
Ein vorbeifahrender Lkw erschüttert die Fensterscheibe. Sie stehen in einem Zittern.
Er sagt noch einmal Komm!, zieht zuerst ihr die Sachen aus, danach sich selbst und stellt sich und sie zurück in ihre gemeinsame Figur. Das geht so schnell, dass sich ihre Lust geschlagen gibt. Sie stehen nackt im Mannfrauversuch und haben nichts mit dem Holzmodell gemein. Gar nichts.
– Komm, wir laufen ein Stück.
– Das tut weh.
– Ich werde sie finden.
– Du musst sie zerstören.
– Du weißt, wo sie ist.
Sie stehen still. Ein dünner Schweißfilm legt sich zwischen ihre zusammen-gepressten Häute. Sie rutschen aneinander ab.
– Mein Bein schläft ein.
– Wer bist du?
– Sie hat dich nicht gewollt.

¿¿

Gebrochenes Bein. Gerettet. Weib. Traum. Ist ja lächerlich. Wie weit ist sie denn gekommen? Damit hatte sie nicht gerechnet, dass in mir ein so kräftiger Schlag sitzt. Das ist das Übel der Dauersieger, ihre Arroganz macht sie leichtsinnig. Ich hätte nichts gegen einen Krieg, der alles wieder auf Anfang stellt und alle gehen barfuß und in den gleichen Lumpen an den nächsten Start vor derselben zertrümmerten Bahn. Dafür würde ich sie an den Haaren aus dem Keller zerren. Aber diese Kriege gibt es nicht mehr.

Er ist nicht gekommen. Das Frühstücksangebot ist verdorrt. Länger will sie nicht warten, sonst sitzt sie in der Peinlichkeit eines offensichtlich enttäuschten Erwartens.
Sie geht leise Schritte, als sei jeder ein verbotener. Zimmer sieben. Sie zögert, weiß aber, dass es nur ein Bangen ist. Sie klopft. Hinter der Tür ist Stille. Sie klopft nicht noch einmal, sie tritt ein. Er liegt auf dem Boden, Paul oder Pierre. Die Handgelenke sind geschnitten. Die alte Göttin Mannfrau ist ein Schaft, in dessen Spitze eine Rasierklinge klemmt. Welch ein Leben hat dieses Stück Holz hinter sich, denkt sie. Nur elfenbeinfarben ist es nicht mehr. Dann sagt sie, Idiot, bevor sie die Tür wieder schließt.

Das Frühstücksangebot ist verdorrt. Länger will sie nicht warten. An der Rezeption fragt sie nach dem Mann aus Zimmer sieben, wobei sie keine Gelassenheit in sich auftreiben kann.
– Der ist abgereist.
– Na klar, sagt sie im Sichwegdrehen. Ich hätte ohnehin keine Zeit für ihn gehabt, denkt sie.

¿¿

Ein Morgen, der mit hundert Füßen durch ihr großes Fenster eingefallen ist. Sie steht am Küchenfenster und sieht gegenüber im Parterre die Lampen erlöschen. Nun gut, denkt sie, ein freier Montagmorgen. Den muss ich schnell ausrüsten, damit gar nicht erst eine Vernachlässigung hineingerät und er dann ganz fix verwahrlost, der muntere Tag. Um 11 Uhr die ersten Seiten des nächsten Buches, um 15 Uhr die große Parkrunde, um 18 Uhr das Kalendarium. Selbstverständlich. Das Zerlegen des Mannes aus dem zweiten Stock werde ich ab morgen planen. Und dann jeden Dienstag um siebzehn Uhr. Eine gute Zeit die Schlingen auszulegen. Aber eins nach dem anderen. Zuerst muss ich mich kümmern. Zwei Literflaschen Wasser, ein Teller Reissalat, eine Schale Erdbeeren, ein Handtuch und eine Schere. Und dann in den Keller. Das ist schon eine Freude, gebraucht zu werden. Sie soll sich die Haare abschneiden.