Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Thomas Melle, Autor (Bild: Johannes Puch)
THOMAS MELLE
Der Text polarisierte die Jury
Mit Thomas Melles Text über das "Nachtschwimmen" ging es am zweiten Lesetag weiter. Burkhard Spinnen hatte den Berliner Autor zum Klagenfurter Wettlesen im Rahmen der deutschsprachigen Tage der Literatur eingeladen.
Russischkurs mit "Ost-West-Gefälle"
Melles Text erzählt von den Ereignissen in einem deutschen Sommercamp, einem Russischkurs mit "Ost-West-Gefälle" und dem Schwimmen bei Nacht, das beinahe in einem Mord endet.
Thomas Melle, Autor (Bild: Johannes Puch)
Thomas Melle
Heinrich Detering "Wahsinnig gut gemachte Geschichte"
"Ich bin begeistert muss ich sagen, das ist eine wahnsinnig gut gemachte Geschichte", begann Heinrich Detering. Es sei geradezu "schwindelerregend" wie es dem Text gelänge "ein großes Drama zu erzählen".

Die Sprache sei in ihren Schilderungen äußerst "detailgenau" und "stimmig". "Da hüpft einem das Herz vor Freude, weil alles so genau gesehen wird". Bemerkenswert sei auch die Dramaturgie, die aus einer "banalen Geschichte - unter Wahrung ihrer Banalität - eine große Geschichte über Leben und Tod werden lässt", zeigt sich Detering begeistert.

Manchmal "verrutsche die Metaphorik", sei hier und da ein bisschen "over the top", aber diese Dinge wären ohnedies nicht Sache der Literaturkritik, sondern des Lektorats, nahm Detering seine Kritik gleich wieder zurück.
Daniela Strigl "Sprache ist auffristiert wie ein Motor"
"Also bei mir hüpft da gar nichts!", widersprach Strigl. Das banale Sujet und die filmische Erzählweise spreche noch nicht gegen den Text, der sicher genug "Action" besitze - "vielleicht sogar ein bisschen viel".

Der Autor sei "sehr geschickt" in seiner "Paraphrasierung Freuds", mit der auf das "Unheimliche" im Text verwiesen werde. Ihr, Strigl, bereite jedoch die "stilistische Hochschaubahn" Unbehagen: "Einmal ist der Autor sprachlich ganz oben, dann wieder ganz unten".

"Ich glaube, hier hätte ein Lektor alles Hände voll zu tun. Der Texte besitzt lauter Sätze, die ihn substantiell beschädigen. Die Sprache ist auffrisiert wie ein Motor, der in seinen Metaphern so richtig aufheult, mich verstimmt diese Absicht doch ziemlich", meinte Strigl. "Der Autor will Eindruck schinden!", beendete sie ihr Kommentar.
Daniela Strigl, Jurorin (Bild: Johannes Puch)
Daniela Strigl
Klaus Nüchtern "Hochschaubahn und viel Arbeit für Lektor"
"Ich bin sehr unfroh darüber, das Daniela Strigl vor mir gesprochen hat, ich will nämlich das Gleiche sagen", begann Klaus Nüchtern. "Ohne ins Schwanken zu kommen, schwankt es hier gewaltig, Herr Detering!", kritisierte Nüchtern weiter. Der erste Absatz sei "völlig daneben", das gebrauchte Vokabular veraltet.

"Ich weiß, das es uncool und altväterisch ist, Psychologie haben zu wollen", so Nüchtern. Aber: Die Entwicklung der "leicht nekrophilen Mädchengeschichte" sei durch nichts motiviert.

Der Autor könne "sehr viel", was sich in den "kurzen Figurencharakterisierungen" zeige. Der Erzähler dürfe trotz Rollenprosa "nicht ganz aus seiner Pflicht" entlassen werden: "Wie gesagt: Hochschaubahn - und viel Arbeit für einen Lektor", schloss Nüchtern.
Karl Corino "Herausragende" Prosa
"Es scheint sich eine Art Deutsch-Österreichischer Konflikt anzubahnen", meinte Corino. Vielleicht müsse man Deutscher sein, um den subtilen Umgang des Autors mit dem "Ost-West-Konflikt" zu verstehen.

Corino wies dennoch auf die "manchmal hochgetunete Sprache" hin: "Da muss der Lektor mal den Griffel ansetzen", die Metaphorik entgleise an manchen stellen, das wären jedoch kleine "Schönheitsfehler" in einem sehr genau gearbeiteten Text über "geographische und erotische Gruppendynamik". Diese Prosa rage aus dem bisherigen Texten heraus.
Karl Corino, Juror (Bild: Johannes Puch)
Karl Corino
Martin Ebel "Wäre neugierig auf den Schluss"
"Der erste Text ist wirklich ein Rausschmeißer - aber der ist doch von der Protagonistin. Wir haben es hier mit einer Ich-Geschichte zu tun, das kam bisher nicht zur Sprache", begann Ebel.

Er bewundere das Unterfangen des Autors, sich in der gewählten Sprache an seine Figur anzunähern: "Es ist immer so daneben, aber je falscher es ist, desto überzeugender ist es. Deshalb schwankt die Sprache auch so. Die Protagonistin versucht immer ein wenig über ihren Möglichkeiten zu schreiben", "berichtigte" Ebel seine österreichischen Kollegen.

Die "Gattung des Tagebuches" bedinge einige Längen des Textes, "da schlägt die Rollenprosa ein bisschen zurück", so Ebel. Ihn frustriere nur der Umstand, nicht mehr über den Schluss zu erfahren. "Die Schlinge" ziehe sich bis dahin immer mehr zu.
Iris Radisch "Bis ins letzte Komma aufgeladen"
Iris Radisch zeigte sich vom Text begeistert: "Er ist mit dem heißen Stift geschrieben. Hier Ordnung zu schaffen, würde dem Text seine Wucht und sein Feuer nehmen".

Sie sei "absolut froh, dass hier nicht alles stimmig ist". Der Text sei bis ins letzte Komma "aufgeladen", ihrer Meinung nach habe man es mit einem Kapitel aus einem Pubertätsroman zu tun, in der die Welt eben "vollkommen sexualisiert" sei. "Die Geschichte entwickelt einen unheimlichen Sog, dem ich gerne folge", meinte Radisch abschließend.
Ursula März "Bin begeistert"
Auch Ursula März schloss sich in ihrer Meinung den deutschen Kollegen an, auch sie sei "begeistert". Allerdings würde die Figur von ihr anders gelesen werden. Man habe es mit "Diana" zu tun, "die nicht gesehen werden will". Die Protagonistin fühle sich "beschädigt".

Der Text verknüpfe die Geschichte, die "so riesig nicht sei", mit dem Topos des "Swimmingpools", in den man eintauchen könne um "nicht mehr gesehen zu werden."
Ursula März, Jurorin (Bild: Johannes Puch)
Ursula März
Ilma Rakusa Zweifel über Ausführung der Rollenprosa
Ilma Rakusa konnte sich nicht so recht entscheiden und meinte: "Also ich bin Schweizerin". Sie sei sehr unschlüssig, was den Text angehe.

Er besitze Spannung, allerdings sei sie im Zwiespalt, ob die Rollenprosa hier "wirklich so gut ausgeführt" sei.
Burkhard Spinnen "Darstellung einer neuen Generation"
Burkhard Spinnen meinte in Richtung Daniela Strigls: "Also ich bin auch im Nebenberuf Autor und versuche auch mit jedem Text Eindruck zu schinden!".

Es sei wichtig, dass der Text auf seine Besonderheit poche. Dieser habe ihn "beim ersten Lesen unangenehm berührt".

Man habe es mit der "hochkomplizierten Rollenprosa einer zerrissenen jungen Frau" zu tun, die "sich aus der Gesellschaft zurücknehme". Dies zeige sich etwa in der Brust-OP, die der Verkleinerung, nicht der Vergrößerung, diene.

Hier treffe "alt-bundesdeutsche Unentschiedenheit" auf die Entschiedenheit der "ostdeutschen Identität". Der sprachliche Ton nähere sich der Aufgeregtheit dieses Aufeinandertreffens an. "Dies sei die Darstellung einer neuen Generation", schloss Spinnen.