Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Paul Brodowsky, Autor (Bild: Johannes Puch)
PAUL BRODOWSKY
Debatte über "handwerkliches Niveau"
Mit Paul Brodowskys Text "Aufnahme" ging der Vormittag des zweiten Lesetages zu Ende. Iris Radisch lud den in Berlin lebenden Autor zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur ein.
Die Wahrnehmung eines Mannes "leihen"
"Aufnahme" erzählt von der ausbrechenden Blindheit bei einer Fotografin, die sich das Sehen, die Wahrnehmung, eines Mannes leiht.
Paul Brodowsky, Autor (Bild: Johannes Puch)
Paul Brodowsky
Ursula März "Zu großes Pensum der Geschichte"
"Hier sind zwei Schwerarbeiter der Kulturgeschichte am Werk, die zwei große Kapitel der Kulturgeschichte erzählen und sie auch noch umdeuten. Wir haben es einerseits mit einem weiblichen Ödipus zu tun. Andererseits inszeniert sich die erblindende Fotografin selbst als schöne Leiche", erklärte März.

Das "große Pensum der Geschichte" sei zugleich ihr größtes Problem, an der sich die Figuren "abarbeiten" müssten: "Da bleibt nicht viel übrig", so März.
Ursula März, Jurorin (Bild: Johannes Puch)
Iris Radisch "Unglaublich zeitgemäß"
Iris Radisch lobte den "atemlosen Sog" des "nervösen und abgerissenen" Textes. Dieser renne einer Sache - seinen Protagonisten gleich - hinterher, er versuche "Dinge festzuhalten, "Bilder zu wiederholen", die eigentlich "im Fluss" wären.

"Das ist das Dokument einer Überwältigung", so Radisch, der unglaublich "zeitgemäß" gearbeitet sei.
Heinrich Detering Text auf "handwerklich tadellosem Niveau"
Detering betonte, man habe es bei "Aufnahme" wiederum mit einer Expedition zu tun, sein Problem sei allerdings, dass er von allen gelesenen Texten "hier am wenigsten sehe".

Der Text sei außerordentlich "genau konstruiert", klappere jedoch in einer "routinierten Mechanik" vor sich hin. Der vom Autor angestrengte "atemlose Ton" verfalle in sein Gegenteil: "Das hat etwas beruhigend-einschläferndes. Die Spannung zwischen Absicht und Ergebnis ist das Problem dieses Textes", meinte Detering. Der Text sei auf "handwerklich tadellosem Niveau", ohne das zu berühren, wovon er zu erzählen vorgibt".
Moderator Ernst A. Grandits (Foto: Johannes Puch)
Moderator Ernst Grandits
Martin Ebel "Reiche" und "genaue literarische Poetik"
Martin Ebel widersprach Detering in seiner Kritik und hob das im Text wichtige Verhältnis von "Wort und Bild" hervor.

Die Fotografin versuche "Ersatz für das Sehen in der Sprache zu finden". Der Autor schaffe mit seinem Text eine "literarische Poetik", die sehr "reich" und "genau" gearbeitet sei.
Daniela Strigl "Störende Chronik des angekündigten Todes"
"Vielleicht kommt aus der Vorführung der Methode auch der Eindruck eines Schreibschulentextes", führte Daniela Strigl den Gedanken fort. Die Protagonistin werde nicht - wie von Iris Radisch erwähnt - von der Großstadt, sondern in erster Linie "von ihrer Blindheit überwältigt": "Ich glaube mit New York hätte sie ganz gut leben können".

Merkwürdig sei ihr der beim Lesen auftauchende Eindruck erschienen, bei der Fotografin handle es sich um eine Asiatin. Was eventuell durch die "asiatische Langsamkeit" des Textes zu erklären sei.

Dieser sei in einem sehr "ruhigen", manchmal "fast lähmenden" Ton gehalten. Sie störe sich an der "Chronik des angekündigten Todes": "Wir haben schon vorher geahnt, dass das nicht gut endet", schloss Strigl.
Daniela Strigl, Jurorin (Bild: Johannes Puch)
Daniela Strigl
Ilma Rakusa "Schnelle, musikalische Sogwirkung"
"Für mich ist es ein Text über das Sehen, das Auge", meinte Ilma Rakusa. Der Text sei sehr "obsessiv" und in seiner "Sogwirkung" sehr "schnell" und "musikalisch" zu nennen.

Der Text scanne die Oberflächen "gleichsam ab", was eine besondere Form der Wahrnehmung darstelle, da sie sich auf diese Oberflächen beschränke. Dies werde konsequent durchgehalten, gleichzeitig stelle dies ein Manko des Textes dar: "Den Aufzählungen geht die Unterfütterung mit einer Tiefendimension ab", so Rakusa.
Burkhard Spinnen Erfreulich, aber "selbstgenügsam"
Burkhard Spinnen bestätigte alle zum Text gefallenen positiven Bemerkungen. Man freue sich gleichsam, beim Lesen immer weiter in den Text vorzudringen.

Der Text sei jedoch "selbstgenügsam" - was doppeldeutig gemeint sei. Dieser verweise "unentwegt auf sich selbst, auf seine Geschichte".
Burkhard Spinnen, Juror (Bild: Johannes Puch)
Burkhard Spinnen
Karl Corino "Handwerkliche Präzision" fehlt
Corino zeigte sich vom Text überrascht: "Ich habe vorher 'Milch Holz Katzen' gelesen und hätte dem Autor diesen Text nicht zugetraut".

Er nannte die "Eroberung New Yorks durch einen sprechenden Blindenhund sehr eindrucksvoll". Der Text sei "sehr gut gemacht", allerdings stimme die "zentrale Metapher" des Textes nicht, weshalb es diesem an "handwerklicher Präzision" fehle.

Bei Anfang und Ende des Textes - "Wie schlafend" - handle es sich um eine mimetische Konstruktion, die der Wirklichkeit nicht standhalte, so Corino.