Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Norbert Scheuer, Autor (Bild: Johannes Puch)
NORBERT SCHEUER
Die Jury war sich wieder völlig uneinig
Die Lesung von Norbert Scheuers Text "Überm Rauschen" ließ den zweiten Lesetag zu Ende gehen. Die Juryvorsitzende Iris Radisch hatte den deutschen Autor nach Klagenfurt eingeladen.
Familiendrama in der deutschen Provinz
Der Autor entführte mit seinem Text in die deutsche Provinz, wo die Geschichte einer sich auflösenden, zerbröckelnden Familie und der Werdegang eines begabten Buben hin zum Verrückten geschildert wird.
Norbert Scheuer, Autor (Bild: Johannes Puch)
Norbert Scheuer
Klaus Nüchtern In "vollkommen andere Welt" versetzt
Klaus Nüchtern lobte den Text angesichts der "vielen, ihm bislang unbekannt gebliebenen Dinge", der Text zeige ihm in eine "vollkommen andere Welt".

An der Geschichte, die "in ihrer Örtlichkeit ruhe" sei "kein einziger Ton falsch". Diese sei "überhaupt nicht sentimental" und besitze dennoch eine "große Traurigkeit und Melancholie".

Er sei "begeistert" wie hier von einer "unrettbaren und unwiederbringlichen Kindheit" erzählt würde.
Karl Corino, Anton Wieser (Bild: Johannes Puch)
Karl Corino und ORF-Chefkameramann Anton Wieser
Daniela Strigl "Bin schwer beeindruckt"
"Es scheint, als wäre der Bachmannwettbewerb heuer ein fest der Fische", begann Daniela Strigl. Wieder stehe ein Kauz im Mittelpunkt einer Story mit "schlechten Ausgang".

Strigl bekundete ihre Schwäche für "Texte, die eine eigene Welt entwerfen" würden. Sie sei von der "uneitlen Darstellung" und "fachlichen Genauigkeit der Wörter" schwer beeindruckt.

Der "sinnliche Wortreichtum im Detail" gehe bis in die Auswahl der Namen. Das "Rauschen und der Fluss" schaffe eine "überaus beklemmende Örtlichkeit", die in "eindrucksvollen Bildern" erzählt sei. "Mir hat er ausgesprochen gut gefallen", schloss Strigl.
Martin Ebel Figuren "zu stereotyp"
"Diesmal freue ich mich nicht über dieselben Dinge wie Klaus Nüchtern", begann Martin Ebel. Er fühle sich mit dem Text zu sehr in ein "Tatort-Szenario" versetzt. Beim Lesen "warte man nur darauf, dass der Kommissar endlich kommt und den Fall abschließt".

Das Szenario sei "so bekannt und voraussehbar und gar nicht so sehr regional lokalisierbar". Der Text sei die typische "dunkle Familiengeschichte" mit "Bruderdrama".

"Mich stört, dass den Figuren nichts besonderes und individuelles anhaftet, denen bin ich schon so oft begegnet", bemäkelte Ebel. Er hätte "mehr über diese erfahren" wollen, diese wären zu stereotyp gehalten.
Ilma Rakusa, Jurorin (Bild: Johannes Puch)
Ilma Rakusa
Ilma Rakusa Von der "Poesie der Genauigkeit" überzeugt
Ilma Rakusa zeigte sich vom Text "sehr beeindruckt", hier wisse jemand genau, was er tut. Die "Vertrautheit" mit der beschriebenen Örtlichkeit bedinge die "Uneitelkeit des Textes".

"Ich befinde mich fast in der Versuchung zu sagen, das ist ein authentischer Text, weil der Text bis in Vokabular und Terminologie der Anglersprache stimmig ist", so Rakusa.

Sie sei durch dessen "Poesie der Genauigkeit" eingenommen, die nicht durch "Lyrismen", sondern allein durch "Tatsachenbeschreibungen" entstehe.

Die Familiengeschichte sei auf sehr "knappem Raum" erzählt, was "allein schon ein Kunststück" zu nennen sei. Der "sprachlich sehr gut gearbeitete Text" könne auf "Psychologismen" völlig verzichten.
Heinrich Detering "Nicht unsympathischer Neue Heimat-Roman"
"Ich kann die Begeisterung nicht teilen, obwohl ich den Text nicht unsympathisch fand", relativierte Detering das Lob seiner Kollegen. Er habe diesem "sachte und uneitel" erzählten Text mit "freundlichen Interesse" zugehört.

Seines Erachtens habe man es mit einem "Neue Heimat-Roman" zu tun, der nicht auf Erklärung, sondern dessen Gegenteil ziele.

"Hier schaut der Text soweit in die provinzielle Enge hinein, dass er sich von ihrer Klebrigkeit und Engherzigkeit anstecken lässt". Der Text könne vor allem sprachlich keine Distanz herstellen. Der "Provinz-Exotismus" schaffe noch keine "sprachliche Genauigkeit", die Sprache sei unreflektiert und bleibe in einem "exotisch drappierten Exotismus hängen", kritisierte Detering.
Heinrich Detering, Juror (Bild: Johannes Puch)
Heinrich Detering
Karl Corino "Gipfel aller Eifel-Geschichten"
Karl Corino meinte: "Ich habe privat Herrn Scheuer immer den 'Homer der Eifel' genannt - in schwächeren Momenten ist er mehr ein Auerbach der Eifel." Hier ist es ihm gelungen, den Gipfel aller Eifel-Geschichten zu schreiben".

Der Juror lobte die "genaue Arbeitsweise des Textes". In einer "globalisierten Welt" die sich "durch und durch ähnlich sehe", sei es ihm gelungen, eine "Provinz zu beschreiben", die "wieder erkennbar" sei. "Der Text verdient Respekt und gehört mithin zum Besten, was Herr Scheuer bis jetzt geschrieben hat", so Corino.
Ursula März Hauptproblem: Örtlichkeit
"Eines ist sicher - an diesem Text scheiden sich die Geister", meinte Ursula März. Die Jurorin kehrte Klaus Nüchterns Lob in Kritik um, "der das Hauptproblem des Textes auf den Punkt gebracht" hätte - dessen Örtlichkeit: "Der Text macht ein Provinzmuseum auf", er erschöpfe sich in additiven Aufzählungen des Inventars.

Das habe "überhaupt nichts rauschendes". Denn, so März: "Der Text sagt mir ständig: Ich bin ein Text über die Provinz, damit bewegt er sich ständig in der Defensive". Scheuers Text käme von der bloßen "Vorführung seines Inventars" nicht weg.
Burkhard Spinnen Zu "finite" Zeichnung der Charaktere
Burkhard Spinnen stimmte zu, was das "Unprätentiöse" und den "gelungenen Bau" des Textes anbelangt, obgleich auch er sich von der "Tatortassoziation" nicht ganz lösen habe können. Er fühle sich an Provinzdarstellungen im Fernsehen erinnert: "Es reicht für Literatur nicht aus nur zu zeigen, dass etwas ist, wie es ist".

Die Figurenzeichnung sei zu "finit", die Worte würden den Leser deshalb anrühren, weil es sich um "unbekannte deutsche Worte" handle - "darin ist ein großes Geheimnis aufgehoben, aber es ist auch ein Trick".
Iris Radisch, Juryvorsitzende (Bild: Johannes Puch)
Iris Radisch
Iris Radisch "Kein Kasperleprovinzpossenspiel"
"Was Spinnen da gerade beschrieben hat, ist ein anderer Text - das wäre eine Provinzposse oder so was", widersprach Iris Radisch. Der Text sei "so tief in seine Landschaft eingelassen", dass er nicht mit dem von Spinnen skizzierten "Kasperleprovinzpossenspiel" nicht das Geringste zu tun hätte.

Hier würde dem Text nichts von Außen "aufgepfropft", vielmehr "atme dieser mit den beschriebenen Dingen - vor allem mit dem Fluss", so Radisch. Nichts von dem Erzählten könne als "davon losgelöst" betrachtet werden.

"Ich lese das als ganz lebendigen Austausch von Landschaft und Text", meinte Radisch. "Die Provinz wird in ihrer nackten Grausamkeit und gleichzeitig als Sehnsuchtsort beschrieben".