Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Kathrin Passig, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Kathrin Passig
Erstmals Lob von allen Juroren
Kathrin Passig trat als zweite dieses letzten Lesevormittags in Klagenfurt an. Der Text "Sie befinden sich hier" hatte die Vorsitzende der Jury, Iris Radisch, von der Berliner Autorin überzeugen können.
Der Text erzählt aus der Innensicht von den letzen Stunden eines erfrierenden Mannes - oder einer Frau? Die Jury zeigte sich nur in dieser Hinsicht uneinig. In ihrer Begeisterung über den Text war man sich erstmals ziemlich einig.
Kathrin Passig, Autorin (Bild: Johannes Puch)
Kathrin Passig
Heinrich Detering "Auf atemberaubende Weise todkomisch"
"Endlich möchte ich fast sagen. Wir haben eine sehr gute deutsche Schriftstellerin entdeckt und einen Text, von dem ich restlos überzeugt bin. Ich kann beim besten Willen nicht sehen, wo dieser Fehler oder Makel hätte", begann Heinrich Detering sein begeistertes Lob.

Der Text sei in "atemberaubender Weise todkomisch". Spannungsregie, Komposition, Rhythmus und Phrasierung wären bis zum Ende hin perfekt zu nennen. "Der Text ist bis in die letzten Dinge hinein realistisch, präzise und parabelhaft". Man habe es mit einer "ganz bizarr-komischen" Form der Rollenprosa zu tun. "Die hält und zwar perspektivisch übergenau."
Klaus Nüchtern Ein Kontrollverlust-Überkompensations-Text
Klaus Nüchtern verkündete: "Das Humordefizit ist hiermit behoben". Er könne sich der Meinung von Detering nur anschließen: "Das ist ein Kontrollverlust-Überkompensations-Text.

Der Erzähler wird, je schlimmer es wird, immer souveräner in seinen Erklärungen. Die aphoristische Schnoddrigkeit der Alice-in-Winterwonderland-Geschichte hat mir ausnehmend gut behagt."
Martin Ebel, Juror (Bild: Johannes Puch)
Martin Ebel
Martin Ebel "Man muss beim Lesen mit in den Schnee"
"Ich möchte auch nicht widersprechen. Der Text wächst im Wiederlesen sogar noch in seiner Komik", stimmte Martin Ebel bei. Die Geschichte sei ständig in Bewegung, obwohl sie nirgendwo hinführt. Die Verwirrung der Erzählerin werde dem Leser "mit aufgedrückt". Man müsse beim Lesen mit in den Schnee, meinte Ebel.
Ursula März Leichte Kritik von Ursula März
Ursula März hielt dem Text zu Gute: "Es ist glaube ich nicht schwer, dass einem der Text gefällt. Mit einer nicht gerade unabgenützten literarischen Fläche wie dem Schnee wird hier so umgegangen, dass man nicht gleich die Augen verdreht".

März brachte eine leichte Kritik mit ein: "Wird das Abstandsverhältnis, in dem die Figur mit sich selber steht, nicht etwas zu geradlinig durchgehalten?" Dies sei aber nur "ein Tropfen Wasser in einem ziemlich guten Wein", relativierte die Jurorin sofort.
Ilma Rakusa, Jurorin (Bild: Johannes Puch)
Ilma Rakusa "Text in seiner Konsequenz fast makellos"
"Ich halte den Text in seiner Konsequenz fast makellos" lobte auch Ilma Rakusa. Er oszilliere "philosophisch-poetisch" ohne eine gekünstelte Anstrengung. "Das ergibt sich hier allein durch die Konzeption, das viele Wissen und die Durchführung", zeigte sich auch Rakusa von dem Text sehr angetan.
Iris Radisch Radisch zog Parallelen zum Literaturbetrieb
"Der Text wählt für die Situation, in der sich sein Protagonist befindet, die einzig mögliche Sprache - nämlich eine Unangemessene", begann Iris Radisch. Es sei keine Frage, dass ihr der Text sehr gut gefallen habe.

Sie beschwor - als einzige im Kreis ihrer Kollegen - das Überleben des Protagonisten herauf und zog Parallelen zum Literaturbetrieb selbst: "Der Ironiker kommt durch, das ist eine sehr gute Lehre, die man aus diesem Text ziehen kann. Nur, wer in Extremsituationen ein bewegliches Verhältnis zur Umwelt behält und literarisch und sprachlich neu aushandelt, geht nicht unter."
Kathrin Passig, Iris Radisch (Bild: Johannes Puch)
Kathrin Passig, Iris Radisch
Burkhard Spinnen "Hier wird extrem zeitgenössich erfroren"
"Aber im Gleichnis kommt er durch, die Erzählerin kommt nicht durch", beeilte sich Burkhard Spinnen zu widersprechen. "Diese Variante hatte sich mir eigentlich nicht angeboten, dass es keine Anne gibt, wenn erzählt wird, wie jemand im Eis erfriert. Auch Ironiker sterben, Frau Radisch".

Worauf diese entgegnete "Aber schöner!"

Spinnen betonte schließlich noch, ihm habe der Text deshalb gut gefallen, weil er seinem Genre noch etwas hinzufügen könne: "Hier wird extrem zeitgenössisch erfroren".
Bodo Hell, Autor (Bild: Johannes Puch)
Auch die "Konkurrenten" folgten gespannt und amüsiert der Lesung
Karl Corino "Der Text wird seinen Weg machen"
"Es ist ein faszinierender Text, bei dem ich zwischen Ärger und Verwirrung hin und her gerissen war, aber nicht losgelassen wurde. Das gebe ich gerne zu", lobte Karl Corino.

Der Text sei "abstrakt und abgehoben" erzählt, zum Teil auch etwas makaber. Er habe den Eindruck, da habe sich jemand nicht im Riesengebierge verirrt, sondern in einem Seminarraum.

Für ihn sei die Philologie zu weit getrieben. Das Geheimnis der Anne sei jedoch ein "absolutes Faszinosum" zu nennen. "So stehe ich zum Schluss etwas unentschieden vor dem Text, aber ich habe den Eindruck, er wird seinen Weg machen", schloss Corino.

"Es hat sich jemand im Riesengebirge verirrt, der sich in den Seminarräumen sehr gut auskennt", relativierte Detering. "Ich wäre froh in so einer Situation ein solches Reflexionsniveau halten zu können."
Daniela Strigl Strigl erntete Applaus für Kollegenkritik
"Karl Corino hat gerade den Witz dieses Textes so beschrieben, dass vom Text nichts mehr übrig bleibt", polemisierte Strigl. Es sei klar, dass man es hier mit einem "inadäquaten Sprechen" zu tun habe. Es sei interessant, dass manche einen Erzähler, andere eine Erzählerin gesehen hätten - ich habe nur einen Erzähler gesehen. "Diese obergescheite Art des Redens…", begann Strigl, und erntete Applaus.

Das "Besserwissen" der Figur gehe gleichsam über den Tod noch hinaus. "Ich bin froh, dass Spinnen die kriminalistische Arbeit für mich erledigt hat: Die rostbraunen Flecken auf der Jacke sind schon ein Signal, dass das nicht ohne Blut abgegangen ist."

"Wenn man zwei Jacken übereinander an hat, sollten diese einem auch passen. Es ist immer leichter für eine Frau, eine Männerjacke anzuziehen, als umgekehrt", witzelte Spinnen in Richtung Daniela Strigl.