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Johanna kommt vom Fernsehzentrum, das schiffsartig am nahen Küniglberg liegt, oberhalb des Hietzinger Friedhofs und der streng durchdachten Gartenanlage von Schloß Schönbrunn. Sie hat ein verspätetes Frühstück mitgebracht, doch zuvor bittet sie um eine Führung durch das Haus, das Philipp von seiner Großmutter geerbt hat.
Es ist eine hundert Jahre alte Villa, zweigeschossig, mit dem Dachboden dreigeschossig, von guter Substanz, aber in einem vernachlässigten Zustand. Der Verputz hat etwas Lepröses, sein Anstrich sollte grau sein, er tendiert aber dort, wo ein Bewuchs mit wildem Wein nur schlampig entfernt worden ist, zu einem stumpfen Schwarz; und an den hellgrünen Fensterläden kann man die Himmelsrichtungen bestimmen, je nach Art und Grad der Verwitterung. Der zum Haus gehörende Garten ist ungewöhnlich groß, mit alten, hochstämmigen Obstbäumen bestanden, die einen Schnitt bräuchten. Drinnen wie draußen befindet sich alles in unterschiedlichen Zerfallsstadien und Provisorien, die sich aneinander lehnen und gemeinsam der allmählichen Verwahrlosung entgegensinken. Zu Johanna sagt Philipp dennoch, daß er im Zustand des Hauses kein Problem sehe, auch die Sonne habe Flecken und der Mond Löcher.
Philipp stemmt sich von der Vortreppe hoch, wirft eine halb heruntergerauchte Zigarette in die am Vormittag gelieferte Abfallmulde, dann tritt er durch die offenstehende Tür ins Innere des Hauses. Eine Fliese im Mosaikfußboden des Eingangsflures klickt, Johanna, die ihm folgt, bringt dieselbe Fliese zum Klicken, absichtlich, wie ihm scheint, weil ihr das Geräusch gefällt. Vom Flur ins Stiegenhaus, das im Verhältnis zu dem, was als nötig und herkömmlich gelten kann, mit einer allzu breiten Treppe ausgestattet ist. Johanna streicht mehrmals über die alte, aus einer porösen Legierung gegossene und von ungezählten Händen geglättete Kanonenkugel, die sich statt der üblichen geschnitzten Rose am unteren Ende des Handlaufs buckelt.
»Woher kommt sie?« will Johanna wissen.
Philipp zuckt die Achseln. Laut mündlicher Familienüberlieferung ein Relikt der zweiten Türkenbelagerung. Er erinnert sich, daß ihm die Großmutter während einer der wenigen Begegnungen versicherte, bei der nächsten Ungezogenheit werde man ihn auf die Kanonenkugel setzen und zu den Türken zurückschicken. Eine Drohung, die ihm deutlich im Gedächtnis geblieben ist, sogar mit dem großmütterlichen Tonfall und einem Anflug ihrer Stimme.
»Wenigstens die Fensterläden hättest du öffnen können« murrt Johanna im Nähzimmer. Sie rümpft die Nase in der Stickluft des halbdunklen Raumes, in den von draußen kaum Helligkeit dringt. Sie sagt, es rieche ihr zu sehr nach Rosenkranz und Apotheke.
»Das Haus in Psycho ist gegen das hier geradezu anheimelnd.«
Ihr Lachen schreckt die Möbel auf und läßt sie linkisch und verlegen aussehen.
Zurück ins Stiegenhaus.
»Gibt es das, daß die Großeltern eine Kanonenkugel am Treppengeländer haben, und keiner weiß woher?«
»Wenn allgemein nicht viel geredet wird, ja.«
»Ich würde die Nachbarn fragen« rät Johanna. »Das muß doch herauszukriegen sein.« Gleichzeitig öffnet sie den Garderobenschrank, in einer gelassenen Unbefangenheit, als ginge es von vornherein um etwas ganz Unerhebliches, als wolle sie sich lediglich vergewissern, daß sich die Schranktür auch wieder schließen läßt, wenn sie erst einmal aufklafft. Traurige, matte Mäntel speien einen Moment lang ihre dunklen Farben aus. Man kann sie sich im Freien nicht mehr vorstellen, denkt Philipp. Wie auch die Hüte im Fach darüber.
Um dem Haus einen freundlicheren Anschein zu geben, öffnet Philipp im Wohnzimmer die Läden, die in der Mittagssonne stehen. Das Licht legt sich breit über die zerfurchten Parketten, die Möbel beim Fenster scheinen sich darin zu bauschen. Johanna hält auf die Pendeluhr zu, deren Zeiger auf zwanzig vor sieben stehen. Sie lauscht auf ein vernehmbares Ticken. Als ihr dies nicht glückt, fragt sie, ob die Uhr funktionstüchtig sei.
»Ich kenne keine tüchtigen Uhren« läßt Philipp wissen.
Johanna schaut ihn mit zusammengezogenen Brauen an.
Und er weiß auch nicht, welches der gewohnte Platz für den Schlüssel zum Aufziehen ist, obwohl er davon ausgeht, daß ihm der Aufbewahrungsort einfallen müßte, wenn er ausreichend darüber nachdächte. Er und seine Schwester Sissi, der aus dem großelterlichen Erbe zwei Lebensversicherungen und ein Anteil an einer burgenländischen Zuckerfabrik zugefallen sind, haben in den siebziger Jahren zwei Monate hier verbracht, im Sommer nach dem Tod der Mutter, als es sich nicht anders machen ließ. Damals war das Ministerium des Großvaters längst in anderen Händen und der Großvater tagelang mit Wichtigtuereien unterwegs, ein älterer Herr, der jeden Samstagabend seine Uhren aufzog und dieses Ritual als Kunststück vorführte, dem die Enkel beiwohnen durften, grad so, als liege es in der Macht des alten Mannes, der Zeit beim Rinnen behilflich zu sein oder sie daran zu hindern.
Philipp sagt:
»Vielleicht hat mein Großvater den Schlüssel in der Westentasche mit ins Grab genommen.«
Während Johanna den Uhrenkasten öffnet, um hineinzuschauen (wie eine Katze in eine finstere Stiefelöffnung schaut), betrachtet Philipp die Bilder, die links und rechts der Uhr arrangiert sind, ebenfalls über dem Schreibtisch: Uhr und Bilder ein einigermaßen symmetrisches Triptychon. Da Johanna im Uhrenkasten nicht fündig wird, zieht sie am Schreibtisch die kleineren Schubladen am Aufbau heraus in der Hoffnung, daß ihre Suche an diesem naheliegenden Ort erfolgreicher sein wird.
»Wer ist das?« fragt sie zwischendurch.
»Rechts, das ist Onkel Otto in der Uniform der Hitlerjugend.«
Das linke Bild kommentiert Philipp nicht, weil Johanna auch so Bescheid wissen muß. Doch nimmt er das Bild von der Wand und betrachtet es aus der Nähe. Es zeigt seine Mutter, die bei den Dreharbeiten zu dem Film Der Hofrat Geiger, als Elfjährige, in Goldhaubentracht an der Donau steht und dem Fluß beim Fließen zusieht. Ein Ausflugsboot zieht unter ihr hinweg, im Off singt Waltraud Haas zur Zither Mariandl-andl-andl.
»Wann war das?« fragt Johanna.
»Neunzehnhundertsiebenundvierzig« sagt er, »da war sie elf.«
Vom Strom der Geschichte umspült. Ein Horizont aus Weinbergen, und darunter blaues Wasser, von dem der Schwarzweißfilm eine ungenügende Vorstellung besitzt. Ein paar Möwen queren das Bild. Geschichtsträchtige Ruinen stagnieren seit Jahrzehnten, und das Schwarze Meer wartet ebenso beharrlich wie die Donau mündet. Die Goldhaube blinkt, die Isolatoren der Telefonmasten zwischen den Weingärten werden in der Sonne brüchig, und auch der Witz für den sowjetischen Zensor, den Verliebte sich am Telefon erzählen, beginnt allmählich alt zu werden. Von Ausflugsbooten winken Familien, Sippen und Vereine, sie entfernen sich flußabwärts hinter Dieselqualm, alle Frauen, mit denen Philipp geschlafen hat, mit denen sein Vater geschlafen hat, mit denen sein Großvater geschlafen hat, alle, werden ferner, kleiner auf diesem Fluß, der sich zieht wie ein Spuckefaden zwischen zwei Mündern.
Wie wenig doch bleibt, denkt er, wie wenig Erinnerungsmaterial ich anrufen kann, kaum daß es ausreicht zur Beantwortung einfachster Fragen, die Frauen stellen, wenn sie vor oder nach dem Sex noch reden wollen. Ein paar Jahreszahlen, ein paar Eckdaten, einzelne Wahrnehmungen, Kleider, Schmuck, Standbilder, Fotos, Kosmetika, Gerüche, die Art, wie diese Frau ihre Kinder schneuzte oder schneuzen würde oder einfach das, was man sich im Laufe der Jahre ausgemalt hat. Bruchstücke, Wahrscheinlichkeiten und ähnliche Erfindungen, Wunschdenken, gerade genug für einen Stich des Bedauerns.
Eine Randbemerkung fällt Philipp ein, die er am Vormittag auf der Vortreppe in einem Handbuch für Faltbootfahrer gelesen hat, in einem Büchlein aus dem früheren Besitz seines Onkels Otto (und plötzlich mutet ihn die bloße Tatsache, daß Dinge einmal waren und jetzt nicht mehr sind, seltsam an, nicht schrecklich, nur seltsam).
Das Konzentrationslager Mauthausen wendet sich an alle Enns- und Donau-Paddler mit der Bitte, etwaige Zurufe in Ufernähe arbeitender Häftlinge nicht zu beantworten.
Auch hat ihn die dem Handbuch beigefügte Streckkarte der Donau beeindruckt, ein als Leporello gefaltetes, kaum zwanzig Zentimeter breites, dafür gut anderthalb Meter langes Panorama, auf dem der Flußlauf sich als beinahe geradliniges Band erstreckt wie eine zum Trocknen an die Wand genagelte Schlangenhaut. Dort, wo der Fluß nach rechts oder links hätte ausbrechen müssen, definieren die schwalbenschwänzigen Pfeile kleiner Windrosen die Nordausrichtung der Karte neu.
Während er auf die Zustellung der Abfallmulde und auf Johanna wartete, hat Philipp die Karte mit dem deutlichen Gefühl betrachtet, daß das Leben sich, wenn man es zusammenfaßt, ähnlich von unten nach oben oder von oben nach unten streckt, ohne gravierende Richtungsänderung, weil die erwünschte Übersichtlichkeit Abweichungen zur Seite nicht zuläßt. Und wie die Donau nur in Österreich blau ist, ist nur die Kindheit glücklich und ebenso unwirklich wie der Fluß, ein ebenso fließender und relativer Begriff. Hinweise, zwischen welchen Pfeilern die Brücken passiert werden sollen, wenn man tückische Strömungen und Strudel meiden will. Illustrationen von Sehenswürdigkeiten zu beiden Ufern, die großen und wichtigen Ereignisse. Und dazwischen das, was man vergessen kann und vergessen wird (ganz schmerzlos), so daß lediglich einzelne Episoden bleiben, die allmählich die Zwischenräume, die flüchtigen Augenblicke, die Pausen und Durststrecken überwachsen und sich miteinander verbinden, ungeachtet, daß dazu fünf Jahre übersprungen werden müssen. Scheinbar Wichtiges wächst mit scheinbar Wichtigem zusammen und verdeckt das Unwichtige, aus dem es sich nährt.
»Wollte deine Mutter auch später Schauspielerin werden?« fragt Johanna.
»Welche Frau wollte nicht Schauspielerin werden?«
Woher soll ich das wissen? denkt er und verzichtet darauf, sich selbst fragend, es genau wissen zu wollen. Mit einem Seufzer setzt er hinzu:
»Ich war zu jung, als daß ich mich mit ihr darüber unterhalten hätte.«
Und er weiß auch nicht, wen er an ihrer Stelle fragen könnte. Denn sein Vater schaut ihn großäugig an, und Philipp ist nicht entschieden genug, weiter zu bohren, auch, weil er im Grunde gar nicht fragen will. Zu unangenehm ist es ihm, daß er von seiner Mutter das allermeiste nicht weiß, so daß er das Wenige und dadurch irgendwie Zufällige als schalen Hinweis auf das Fehlende empfindet. Jegliches Nachdenken Stümperei, deprimierend, wenn er den Aufwand an Phantasie ermißt, der nötig wäre, um sich auszudenken, wie die Dinge gewesen sein könnten.
Er wischt den Gedanken weg und sagt, damit Johanna ihn reden hört:
»Mir kommt aber vor, ein wenig waren sie alle Schaupielerinnen, alle blond, alle nett, alle vorbildlich, perfekt. Nur die Männer waren nicht, wie die Männer im Heimatfilm, das war, nehme ich an, die allgemeine Tragik.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Die Ehe meiner Eltern war halt nicht glücklich. Wer redet schon gerne darüber? Und wer sehnt sich in eine Vergangenheit hinein, die er sich so nicht aussuchen würde und trotzdem zusammenreimen müßte, weil sich nichts mit Genauigkeit sagen läßt?«
Er macht eine Pause und benutzt die Gelegenheit, seine Hand in Johannas Nacken zu schieben.
»Mir käme es ausgesprochen sinnlos vor, hier etwas nachholen zu wollen. Lieber denke ich über das Wetter nach. Ich schreibe einen Roman über das Wetter mit einer Widmung an dich in innigster Verbundenheit.«
Er küßt Johanna, ohne auf Widerstand oder Erwiderung zu stoßen.
Über das Wetter vom Tag, das Johanna in ihren Haaren mitbringt, über das Wetter der folgenden Tage, das aus den Ausdrucken, den Tabellen und Simulationen in Johannas Tasche zu erschließen sein müßte. Über das Wetter statt über die Liebe statt über das Vergessen statt über den Tod.
»Über den Einfluß des Wetters auf die Lebensläufe einer österreichischen Schulklasse, über die sonderbaren Wirkungen heimischer Wetterraritäten auf das physiologische und soziale Leben einer Anzahl Daherlaufender, in deren Schulranzen die Bücher springen.«
»Fällt dir sonst nichts ein?« fragt Johanna, halb lachend, wobei sie ungnädig-gnädig den Kopf schüttelt; und weil das etwas ist, was er an ihr kennt, fühlt er sich ihr einen Moment lang näher. Ebenfalls ein wenig lachend, aber säuerlich, hebt er die Schultern, wie um sich zu entschuldigen, daß er nichts Besseres anzubieten hat oder anbieten will.
»Aber was rede ich« fügt Johanna Sekunden später hinzu, »eine gewisse familiäre Unambitioniertheit ist bei dir schließlich nichts Neues.«
Andererseits hat Philipp schon mehrfach versucht, ihr beizubringen, daß sie sein Verhalten nicht ganz von der richtigen Seite begutachtet, ein Einwand, dem es in den bisherigen Auseinandersetzungen nicht gelungen ist, einen Platz in Johannas Denken zu ergattern, und den er deshalb nicht wiederholen will. Wozu auch. Aber Tatsache ist, daß man nicht ausgerechnet ihm einen Vorwurf machen muß, schließlich ist es nicht seine Schuld, daß man ihn in puncto seiner Familie nie auf den Geschmack gebracht hat.
Am Vortag durchwühlte er das Haus nach Briefen, nach Tagebüchern, Aufzeichnungen. Doch außer einigen Fotoalben fand sich nicht viel, in keinem der Kästen, in keiner der Kommoden, nur Weihnachts- und Geburtstagspost, geordnet, Mit fünfzig fängt das Leben an, und zehn Jahre später, Mit sechzig fängt das Leben an. Und wenn man nur lange genug wartet, kommt irgendwann das Ende. Und das Ende ist gekommen, zuverlässig wie immer.
Er schiebt die Schublade, in der Johannas Hand nach dem Schlüssel für die Uhr sucht, zu, er tut es langsam genug, daß Johanna ihre Hand mühelos herausziehen kann. Ein wenig den Humor verliert sie trotzdem.
Lediglich den Dachboden konnte Philipp nicht näher in Augenschein nehmen, obwohl eine Hausfrauenweisheit besagt, daß man mit der Arbeit oben anfangen soll (und er wäre um jede herstellbare Ordnung froh gewesen). Er setzt Johanna davon in Kenntnis, weshalb er von einer näheren Besichtigung der obersten Bezirke des Hauses Abstand genommen hat, er behält lediglich für sich, wie gut er es akzeptieren kann, daß auch von dort keine Rettung nahen wird.
Er sieht sich wieder, wie er an der klemmenden Dachbodentür auf das dumpf durch das Holz dringende Fiepen horcht. Vom Garten aus war ihm schon aufgefallen, daß an einem Fenster unter dem stadtseitigen Giebel der Glaseinsatz fehlt, dort fliegen regelmäßig Tauben aus und ein. Nach einigem Zögern warf Philipp sich am Vortag mehrmals mit der Schulter gegen die Tür, die Tür gab mit jedem Mal ein wenig nach, gleichzeitig wurde das Flattern und Fiepen dahinter lauter. Schließlich, nach einem kurzen und schrillen Aufkreischen der Angel, das im Dachboden ein wildes Durcheinander auslöste, stand die Tür weit genug offen, daß Philipp den Kopf durch den Spalt stecken konnte. Und obwohl das Licht nicht das allerbeste war, erfaßte er mit dem ersten Blick, welche Unmengen an Tauben sich hier eingenistet und alles knöchel- und knietief mit Kot überzogen hatten, Schicht auf Schicht wie Zins und Zinseszins. Er zog den Kopf sogleich wieder zurück, die Tür hinterher, mit einem heftigen Ruck, sich mehrmals vergewissernd, daß die Verriegelung fest eingeklinkt war.
Er will Johanna erklären, wie oft er das Gefühl hatte, im Stich gelassen zu werden, und daß er deswegen nachtragend ist und sein Interesse niemandem gönnt. Allein, er traut sich nicht, weil er vorherzusehen glaubt, daß ihm Johanna mit Verabredungen kommt, die man in der Vergangenheit noch haben und in der Gegenwart versäumen kann, grad so, als ließe sich notfalls auch allein Familie spielen.
Er findet, das ist unmöglich, und er kapiert nicht ganz, wie jemand etwas Unmögliches von ihm verlangen und ihm bei Nichtbefolgung seelische Armut bescheinigen kann.
Er hängt das Bild, das seine Mutter als Mädchen zeigt, an den Nagel zurück, zum Zeichen, daß er es vorziehen würde, den Rundgang durchs Haus in einem anderen Zimmer fortzusetzen. Als er sich Richtung Tür wendet, bleibt Johanna stehen und schüttelt den Kopf. Indem sie ihn fixiert, fragt sie, ob sie die Pendeluhr geschenkt haben könne.
»Meinetwegen« erwidert er, aber es klingt nicht freundlich und kommt auch nicht von Herzen.
»Dann halt nicht« sagt Johanna, »du weißt, ich muß sie nicht haben.«
»Ja, weil du schon eine hast.«
Damals fuhren sie zu ländlichen Verwandten von ihr (weil Johanna auf ihre Verwandtschaft mehr wert legt), das war in dem Jahr, bevor Johanna Franz heiratete. Es ging in die Nähe von Tulln, an einem Sonntag im September, und Johanna fragte die Verwandten, ob sie jemanden wüßten, der eine Pendeluhr zu verkaufen habe. Johanna traute sich nicht, den Cousin direkt anzusprechen, denn daß der gleich zwei solche Uhren besaß, hatte sie von dessen Schwester in Wien erfahren. Der Cousin, ein Polizist, ging glücklicherweise gleich auf die Frage ein und überließ Johanna die schlechtere Uhr. Johanna probierte sie an Ort und Stelle aus, und nach einem Spaziergang durch die Obstgärten fuhren sie zurück nach Wien zu Johannas damaliger Wohnung in der Luftbadgasse. Dort hatten sie plötzlich Probleme mit dem Schlagwerk, und Johanna wollte Philipp weismachen, das müsse während der Fahrt kaputtgegangen sein. Aber während der Fahrt hatte Philipp die Uhr auf den Knien und im Arm gehalten, da konnte bestimmt nichts kaputt gegangen sein. Johanna war trotzdem sauer auf ihn, denn die Uhr gongte bei halb auf die nächste Stunde, und auf voll gongte sie vier bis sechsmal, und dann gongte sie für vier Stunden überhaupt nicht mehr, und Johanna rührte sich aus dem Wohnzimmer nicht mehr raus und wartete einen Termin um den anderen ab, aber die Gongerei wurde nicht besser. Sie gingen zu Bett, und als sie schon schliefen, wachte Philipp auf, weil die Uhr wie verrückt schlug, ein wildes Sturmgeläute, das sich an den Wänden und an der Dunkelheit stieß. Sie rasten ins Wohnzimmer, und bei 31 Schlägen hörte Philipp auf zu zählen, er lachte nur noch, während Johanna die Uhr am liebsten zum Fenster hinaus geworfen hätte, so regte sie das auf. Als dann das ganze Schlagwerk abgelaufen war, da war Stille, und nur das Uhrwerk lief noch genauso exakt wie vorher.
Funny how time slips away.
Und wieder die Diele, Stiegenhaus, die teppichbelegte Treppe, zwei Hände beim flüchtigen Polieren einer Kanonenkugel, die in jeder anständigen Familie den Punkt markieren würde, bis zu dem zurück man sich erinnern kann. Natürlich, es gab auch bedeutende Ereignisse davor, und es wäre nicht minder interessant zu wissen, wem die Kanonenkugel die Ehre des am entferntesten erinnerbaren Ereignisses in der Familie abspenstig machte, ehe auch sie ihren Erinnerungswert einbüßte. Noch vergangenere Zeiten. Wann? Wo? Er weiß es nicht.
Sie gehen das Obergeschoß ab, mit dem Nachgeschmack von Streitereien, flüchtig und ohne viel zu reden, was sie voreinander mit dem Hinweis rechtfertigen, daß sie hungrig geworden seien. Also wieder nach unten. Johanna hilft mit, in der Küche den Tisch abzuräumen, der noch genau so ist, wie Philipp ihn vorgefunden hat, mitsamt des durchgefaulten Apfels in der Obstschale. Doch anschließend besteht sie darauf, das Frühstück draußen einzunehmen, auf der Treppe. Die Treppe ist noch wärmer geworden. Johanna holt sich trotzdem ein Kissen zum Unterlegen. Da sitzen sie, Philipp mit lang ausgestreckten, Johanna mit eng angezogenen Beinen, und Philipp versucht, den abweisenden Eindruck, den er während des Rundgangs erweckt hat, zu relativieren, indem er von den halb vermoderten Stühlen erzählt, die an mehreren Stellen entlang der Gartenmauer postiert sind, einer zu jedem Nachbarsgrundstück, damit man hinübersehen kann. Doch Unterhaltung bringt er keine mehr in Gang. Er berichtet, wieviel Honig es im Keller gebe und wie viele Sorten selbstgemachter Marmelade. Johanna will keine Marmelade. Sie spuckt Olivenkerne in die leere Abfallmulde, sie horcht dem hallenden Geräusch hinterher, das die Kerne beim Aufprall auf dem schrundigen Metall erzeugen. Philipp beobachtet die Tauben, die Kurs auf die Kunstdenkmäler der Bundeshauptstadt nehmen oder auf den Dachboden, der neuerdings ihm gehört. Schließlich verabschiedet sich Johanna, sie küßt Philipp, bereits mit Fahrradklammern an den Hosenbeinen, und verkündet, daß es so mit ihnen nicht weitergehen könne.
»Typisch« fügt sie hinzu, nachdem Philipp aufgesehen hat, als wolle er zu einer Antwort ansetzen, dann aber nichts herausbrachte. »Keine Antwort, somit auch kein Interesse, da wie dort.«
»Dann haben wir auch das besprochen« sagt er.
Er sieht nicht ein, worüber Johanna sich beklagen will, immerhin ist sie es, die es nicht schafft, sich von Franz zu trennen, und sie ist es auch, die einen gewissen Stolz ausstrahlt, wenn sie behauptet, in einer der bestgeführten zerrütteten Ehen Wiens zu leben. Er braucht keine Geliebte, die nur jedes zweite Mal mit ihm schläft; und das wiederum hält Philipp Johanna vor.
Sie biegt die Augenbrauenbögen spöttisch hoch, verabschiedet sich nochmals, diesmal ohne Kuß, als wolle sie so den Kuß von vorhin zurücknehmen. Sie will losfahren, doch in dem Moment hebt Philipp das Hinterrad am Gepäckträger hoch, so daß Johanna ins Leere tritt. Befreit aus dem Dunst am Vorplatz der Villa sprudelt ein Schweif Luft unter Johannas Reifenprofil hervor, über Philipp hinweg. Er lacht, denn die Fahrt ist leicht und ohne Wegweiser, ohne Anfang und ohne Ende, auf der allerstabilsten Straße, die man sich vorstellen kann. Es kümmert ihn nicht, daß Johanna sich beschwert:
»Laß los! Laß los, du Idiot!«
Er läßt nicht los, er spürt den Rhythmus ihrer Tritte wie einen Pulsschlag in den Händen. Ihm stehen immense Kräfte zur Verfügung. Er hebt den Raum auf, jetzt ist er es, der die Zeit am Verrinnen hindert.
»Ich entführe dich!« ruft er mit lauter Stimme. »Ich mache dich zur Gefährtin der Luft!«
Johanna klingelt wie verrückt.
Er ruft: »Was für eine schöne Reise am Fleck! Man wird nie wissen wohin!«
»Laß los!« schreit Johanna, »Du Idiot!«
»Ja! Ja!« gibt er zur Antwort und sieht auf ihren speckigen, hin und her rutschenden Hintern. Er denkt, er denkt an vieles, an ihre Brüste und daran, daß sie auch diesmal nicht gevögelt haben und daß sie auf der Stelle treten, und wenn nicht beide, dann wenigstens er.
»Schau doch! Wie leer die Straßen sind, die Grundstücke, die Bahnsteige! Die Hände, die Taschen, die Tage! Schau!«
Aber sie:
»Neiein! Laß los! Ich muß zu meinem Termin! Ich muß die Bilder von der Karottenernte schneiden! Es ist ganz nutzlos, was du machst! Denk über das Wetter nach! Aber nicht, daß du dich übernimmst! Und mich laß! Laß looos!«
Wenn man sich ein Prinzip angeeignet hat (das ist Philipps Meinung), darf man sich trotzdem nicht daran klammern, so schwer es auch fällt. Also setzt Philipp das Hinterrad ab und schiebt Johanna kräftig an, indem er hinter ihr herläuft. Sie verliert beinahe das Gleichgewicht und korrigiert mehrfach den Kurs. Sie sind vielerlei: Masse, Kraft, Raum, Tempo, Zeit. Die Briefträgerin tritt beiseite, als Philipp und Johanna durch das offene Tor auf die Straße biegen. Doch in Wahrheit klingelt Johanna nur für ihn.
»Komm wieder!« ruft er, als er mit Johannas Tempo nicht mehr Schritt halten kann, und winkt ihr hinterher. Die Speichen ihres Rades blitzen in der Sonne, Johanna sticht klingelnd in die erste Seitengasse, und klingelt noch, während Philipp sich eine Zigarette ansteckt und überlegt, warum sie ihn besucht hat. Warum? Warum eigentlich? Er kommt zu keinem Ergebnis. Einerseits will er sich keine falschen Hoffnungen machen (sie hält ihn für nett, aber harmlos und hat sich deswegen schon einmal für einen anderen entschieden), andererseits will er nicht unhöflich sein (er hat Besseres zu tun, als an einem vom Wetter begünstigten Montag unhöflich zu sein). Also setzt er sich zurück auf die Vortreppe, über den Schenkeln die großmütterliche Post, die nach wie vor einlangt, während die Adressatin sich bereits den Toten zugesellt hat (den Toten, denen man nichts nachschicken kann), und wechselt in Gedanken das Thema.
Er malt sich ein fiktives Klassenfoto aus, mit vierzig Kindern in den Bänken, lauter Sechs- und Siebenjährigen, die weder von den Jahren, in denen sie geboren, noch von den Orten, an denen sie aufgewachsen sind, zusammenpassen. Einer der Buben hat als Erwachsener im zweiten Türkenkrieg gekämpft, ein anderer ist Philipps Vater, als er klein war, und auch dessen Mutter saß als Mädchen in derselben Klasse. Einer wurde ein erfolgreicher Ringkämpfer, Albert Strouhal, ein anderer, Juri, war der Sohn des sowjetischen Stadtkommandanten. Philipp geht die Reihen durch und fragt sich: Was ist aus ihnen geworden, aus all diesen Toten, die täglich mehr werden? Das Mädchen mit den Zöpfen, die Kleine, die wie die anderen Kinder ihre weißen Hände vor sich auf dem Pult liegen hat? Sie hat sich nie getraut aufzuzeigen, wenn sie aufs Klo mußte. Alma. Sie hat einen Verwaltungsjuristen und späteren Minister geheiratet. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen. Das eine, der Bub, ist 1945 im Alter von vierzehn Jahren in der Schlacht um Wien gefallen, das jüngere, ein Mädchen, hatte in dem Hans-Moser-und-Paul-Hörbiger-Film Der Hofrat Geiger einen kleinen Auftritt. Auch das Mädchen war eine reizende Mitschülerin, auf dem Foto sitzt sie in der zweiten Reihe an der Wand. Sie hat sich sehr jung für einen sechs Jahre älteren Burschen entschieden und sich dessentwegen mit ihren Eltern überworfen. Der Bursch war ein netter Kerl, wenn auch nicht ganz der richtige zum Heiraten. Er erfand Spiele und machte mit diesen Spielen als junger Mann ein erstes Mal bankrott, obwohl eines dieser Spiele ganz erfolgreich war: Wer kennt Österreich?
Und der da, in der ersten Bank der Fensterreihe, das bin ich. Ich bin auch einer von ihnen. Und was soll ich über mich sagen? Was soll ich über mich sagen, nachdem ich über all die anderen nachgedacht habe und dabei nicht glücklicher geworden bin.
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