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„Und dann konnte ich es ganz deutlich hören, rein, raus, rein, raus, du verstehst schon, dieses“, sie schließt die Augen, „dieses Geräusch, unverkennbar. Und Stöhnen, ohne jede Hemmung, und dann sie, als zweite Stimme, nahezu musikalisch, Mezzosopran würde ich sagen, immer im Wechsel, über zwanzig Minuten, nicht zum Aushalten!“
Dorothea klopft im Takt mit dem silbernen Druckbleistift auf die vor ihr aufgeschlagene Ausgabe von Ulrichs ‚Frauendienst‘ und schüttelt sich. Ihr mit elfenbeinweißem Fond de teint abgedecktes Gesicht zeigt hektische Flecken, die über den Hals in den Ausschnitt des Pullovers kriechen. Zuchtperlen beben an Ohrläppchen und Kehle.
PD Dr. Dorothea Blom, gebürtig aus Hamburg-Harvestehude, war bei meiner Einstellung als wissenschaftliche Hilfskraft am „Wortregister zur Minneterminologie der hochhöfischen Periode“ noch gänzlich eins mit ihren pastellfarbenen Twinsets, hochkarätigen Schmuckstücken und ihrer edelweißen KPM-Teetasse. Wir siezten uns konsequent, sie bearbeitete, was ich abtippte, und herrschte über mich und die anderen Hilfskräfte. Selten sagte sie mehr zu uns als „Bitte öffnen Sie das Fenster“ oder ein verhaltenes „Tsss“ im Zusammenhang mit einer nicht sorgfältig genug exzerpierten Textstelle.
Im Laufe zweier Jahre, in denen unser DFG-Projekt von âbent-roete nach bar-schenkel voranschlich, zerfiel Dorotheas Einheit unter dem Einfluß von aus dem Nichts kommenden Stöhnattacken. Warum sie ausgerechnet mir davon erzählte, obwohl es im Forschungstempel der altgermanistischen Fakultät an nichts weniger mangelte als an weiblichen Vertrauenspersonen in Leinenblusen und dunkelblauen Blazern, wird mir ein ähnliches Rätsel bleiben wie das Ende von Gottfrieds ‚Tristan‘. Vielleicht war sie der Ansicht, daß eine Frau mit drei Ohrlöchern pro Läppchen und Ledermini mehr Erfahrung mit Kopulationsgeräuschen hat als die Damen von der benachbarten Arbeitsstelle ‚Mittelniederdeutsche Mystikerinnen‘. Nichts als Vorurteile: Mein letztes derartiges Erlebnis liegt bald ein halbes Jahr zurück.
Trotzdem bin ich Dorotheas Klagemauer geworden, komme gleich nach ihrem Therapeuten. Im Gegensatz zu diesem professionellen seelischen Mülleimer werde ich allerdings schlecht bezahlt: Doro besorgt mir in klaren Momenten Einladungen zu wissenschaftlichen Tagungen oder korrigiert die wenigen Seiten, die ich zur Erlangung der Doktorwürde produziere. Aber der Brotjob frißt die meiste Zeit, und meine Untersuchung – „Jeschutes Brust und Tristans Beine. Körperbilder in der hochhöfischen Epik“ – zieht sich in die Länge. Nicht nur, weil meine Korrektorin häufig unter Haldol steht.
„Ich werde mich kurz zurückziehen.“ Dorothea greift nach der Burberry-Umhängetasche und dem Kamelhaarcape. Beim Aufstehen treibt sie einen schwachen Hauch von L’air du temps vor sich her, ihm folgt der stechende Zwiebelgeruch der Angst. Ich kenne ihre silberne Pillendose. Ich kenne die Namen der Medikamente, die sie gleich im Schutz der Toilettenkabine zu sich nehmen wird und weiß auch, welche Nebenwirkungen sie haben können. Ich bin ausgezeichnet informiert über Dinge, die ich gar nicht wissen will.
Neugier gehört nicht zu meinen hervorstechenden Eigenschaften. Mit Blaubart, dem alten Franzosenknacker, hätte ich es wunderbar in einer langen Ehe ausgehalten und wäre irgendwann sanft eines natürlichen Todes gestorben. Goldene Schlüssel zu verbotenen Gemächern mit blutschwimmenden Fußböden – das reizt mich nicht im geringsten. Es gibt bestimmt Leute, die sich über die körperlosen Lustschreie in Doros Schädel amüsieren. Ich gehöre nicht zu ihnen. Jedenfalls nicht mehr. Ich wünsche ihr (und mir), daß es bald aufhört. Ruhe im Puff. Nicht mehr in diese von salziger Flüssigkeit umzitterte braune Iris blicken müssen, das hilflose Gezupfe an meinen Ponchofransen fühlen. Ich wünsche ihr friedliche Stunden, in denen sie allein die Frage nach der Suprarealität der unerreichbaren Minneherrin beschäftigt.
Sie bleibt lange fort. Ich nutze die Gelegenheit, um mir eine anzustecken. Das Fenster zum Innenhof wird aufgerissen, der Rauch meiner Selbstgedrehten zieht durch die schwarzen Äste der Kastanie, die, armdicke Wurzeln zwischen hochgestemmten Katzenköpfen, ihr Dasein fristet, von Bibliothekspennern, Studenten und Hausmeisterhund gleichermaßen angepinkelt.
Unser Altbau ist ein Monstrum aus Backstein und gelblichem Travertin, errichtet im 17. Jahrhundert als Herberge der berühmten Gelehrtenakademie. Hier trafen sich Polyhistoren und andere Schlauköpfe, fünf- und mehrsprachige Männer, denen die Arbeit mit dem Astrolabium ebenso leichtfiel wie die Konstruktion eines fehlerfreien altgriechischen Lobgedichts auf den Bürgermeister. Ich stelle mir gerne vor, wie hier damals geforscht wurde. Latein als lingua franca für die ausländischen Gäste, dazwischen gepflegtes Platt. Mathematik, Astronomie, die Formel für Gold, Augustinus und die Geschichte der Stadt Braunschweig. Und wenn Doro nach Hause geht, krümele ich ein paar Blättchen Purple power in meine krumme Feierabendzippe und gehe auf den Flur, wo die Porträts dieser Männer hängen, die wir lieber nicht zu unseren Kollegen zählen sollten.
Manchmal stelle ich mir vor, wie sie aus ihren Bilderrahmen steigen und sich hier umsehen, die jämmerliche Zweisprachigkeit kopfschüttelnd belauschen, das hoffnungslose Pidgin-Englisch und schlechte Deutsch, die schmutzigen Toiletten und die Mißachtung, mit denen die Außenwelt auf unsere Kaste herabsieht. Dann kann es vorkommen, daß Holstenius zornig aus seinem Rahmen springt, sein vornehmes Gesicht knallrot angelaufen, mit der aus einem spitzenbesetzten Ärmel ragenden Faust auf den Tisch knallt und all das miese Zeug, das wir hier in stetigem Dauerfrust produzieren, unter seinen Schnallenschuhen zertrampelt.
Wir sind so schlecht, im Vergleich zu ihnen, murksen jahrelang an einem nur für drei Eingeweihte lesbaren Buch herum, sprechen schlecht Mittelhochdeutsch, noch mieser Latein und Griechisch überhaupt nicht. Die mittelalterliche volkssprachliche Literatur, auf die wir uns stürzen, weil wir nicht die Mühen einer richtigen Fremdsprache auf uns nehmen wollen, galt ihnen als Gegurgel hinterwäldlerischer Kirchentrottel und Barbaren. ‚Das Kotzenmäre‘, ‚Die Halbe Birne‘, ‚Der Weinschwelg‘ – sind das etwa nicht primitive Prollgeschichten im Vergleich zu Ovids Gesängen oder dem beißenden Spott eines Aristophanes?
Doro kommt nicht wieder, wahrscheinlich ist sie nach Hause gegangen. Es steht mir also offen, meine Beschäftigung für heute zu unterbrechen und einen Pappbecher Milchkaffee am Automaten im Foyer der benachbarten Uni-Bibliothek zu ziehen, der kochendheiß und von ähnlichem Schaum gekrönt ist, wie er an manchen Tagen am Flußufer antreibt.
Ich denke an Marko, den smarten BWLer, der mein Lieblingsbier sixpackweise vor der Tür der Arbeitsstelle stapelte, Karten für Boxkämpfe oder Hunderennen aus dem Jackett zog, immer bemerkte, wenn ich mal ein engeres
T-Shirt anhatte und machomäßig darauf reagierte – mit eindeutigem Schielen oder Pfeifen, was ein Germanist nie gewagt hätte. Aber Marko ist nicht der Mann, dem ich anvertrauen kann, wie locker Holstenius einen Fuß über seinen Goldrahmen setzt oder daß ich die Liebe zwischen Tristan und Isolde, todesbitter und gottfriedsüß, halluzinierendes Gift in kindliche Endreime gegossen, tatsächlich für romantisch und erstrebenswert halte. Rose und Rebe, in Ewigkeit verwickelt.
Er strahlt das Selbstvertrauen eines Menschen aus, der nach dem Studium garantiert einen Job finden wird. Marko würde mich nehmen, als wandelndes Kuriositätenkabinett, voll mit Rittern, Liebestränken und der korrekten Aussprache von aventiure. Als Menschen, der ab und an ein Buch liest und seinen ganz individuellen Neigungen folgt, ohne Rücksicht auf den cashflow. Ich würde mit Karnickelgeschwindigkeit schwanger werden und Doro dann den Anfang meiner magersüchtigen Diss unter die Nase halten. Mehr habe ich einfach nicht hinbekommen, zwischen den Minenfeldern der Minnediskurse. Aber ich mache es fertig, irgendwann. Man muß als Frau ja selbständig bleiben.
Wir würden nach Elmshorn ziehen, nach Quickborn oder Norderstedt und einen weißen Briefkasten mit Klappe und eingeprägtem Posthorn in unserem Vorgarten aufstellen. Ich rette Marko vor der Ödnis eines Freundeskreises, in dem Männer zwar die Steuerberaterprüfung glanzvoll bestehen, aber gleichzeitig Überraschungseier-Gimmicks in Glasvitrinen sammeln. Und Marko rettet mich, vor einem Schicksal, das Martha, mit der ich mir die Stelle teile, neulich in unserer Stammkneipe analysiert hat: „Wir sind doch nicht besser als diese Kriemhilden, die mit zwölf verheiratet oder ins Kloster geschickt wurden. Unsere Röcke sind ein bißchen kürzer, aber im Grunde ist es dasselbe Schicksal: zwölf bis 15 Stunden täglich für Minneterminologie schuften, nebenbei zu Symposien tingeln, bei jeder Diskussion gegen den Strom anreden, um jeden Preis auffallen, vielleicht mit dem Richtigen pennen. Und dann bist du irgendwann 45, wenn du Glück hast Projektleiche bei der DFG, kinder- und männerlos, und zu Hause warten die Wodkapulle und ein wiederaufladbarer Vibrator. Oder du hörst es ficken, durch die Wände.“ Ich weiß noch, daß wir Grappa orderten, bis der junge persische Kellner stirnrunzelnd „Heiße Tee, sähr gutt für Frauen“ vor uns hinstellte.
Ich drücke meine Kippe auf dem verzinkten Fensterbrett aus und schließe die Klappe. Im Hof steht Marko mit einer Elbvorortsblondine. Die müde Märzsonne verwickelt sich in seinem Haar, zu Gold gesponnenes Stroh, ein echtes Nordlicht. Mein Haar ist schwarz, und ich gefalle mir neben Marko als geisteswissenschaftlicher Tonio Kröger, dem es gelungen ist, zu seinem Hans Hansen einen gewissen kritischen Abstand zu bewahren. Immerhin hat er mich gestern eingeladen: „Wenn du am Sonnabend zum Paul Weller-Konzert gehen willst, ruf mich an. Kennwort Sunflower.“
Wenn das so einfach wäre. Die Telefonnummer steht auf einem Bierdeckel, ungeheuer szenig. Ich benutze ihn als Lesezeichen, Hartmanns Klage, Vers 1269ff.: Lip, nu solt du volgen mir! dazue ist niemen als guot als dir. ich hort dich zouber versprechen. Jetzt zündet sich Marko eine Zigarette an. Seine
T-Shirt-Aufschrift kann ich von hier oben nicht erkennen. Es gibt verschiedene, von ‚Kampftrinker‘ bis zu ‚Alles Schlampen außer Mami‘. „Da kannst du nicht drüber lachen, stimmt’s?“ Selbstverständlich nicht, und genau das macht mich reizvoll, unübertrefflich, wie Goldmarie gegen Pechmarie, Aschenbrödel gegen das häßliche Schwesternduo, ich gegen diesen Modelverschnitt in Markos Windschatten. Minikostüm und Bluse verraten mir die Juristin. Klamottencodes sind im H+M-Zeitalter streng wie damals, als die Hure schreiend Gelb trug, der König Scharlachrot und die Bauerntrottel grobes Tuch.
Es hat keinen Sinn, weiter zu meditieren. Ich habe noch ein Jahr Zeit, dann läuft die Stelle aus, und ich bin so gut versorgt wie eine Kanalratte bei Sturmflut. Alles muß ich selber machen, niemand wird mir dabei helfen.
Ich schmeiße mich in den quietschenden Drehstuhl, den schon mehrere Generationen von Philologenärschen ausgeleiert haben. Klein und staubig liegt das Buch auf meinem Tisch, das ich heute noch durcharbeiten wollte. Wenn ich Doro morgen einen herzhaften Materialklumpen vorwerfen kann, habe ich in den nächsten Tagen vielleicht Zeit, ein paar eigene Seiten zu schreiben: Exposé und Bewerbungen für die nächste Futterstation. Auf keinen Fall Paul Weller. Zu gefährlich.
Moritz von Craûn. Eine altdeutsche Erzählung. Berlin 1871. So riecht es auch, nach toxischem Schimmel und Langeweile. Das Titelblatt ist stockfleckig und voller Bleistiftkritzeleien. Ich versuche, ein paar davon zu entziffern, vielleicht hat ja jemand schon gute Ideen gehabt, die ich als meine eigenen verkaufen kann. Aber ich finde nur eine Reihe entrüsteter Ausrufe. „Er ist fürwahr ein Tier!“ „Das ist kein echter Ritter!“, „Barbarus!“ Was muß das für eine Story sein, die solche Kommentare gebiert? Nun bin ich doch neugierig.
Immerhin, hier geht einer aufs Ganze. Ritter Moritz baut für seine Herzdame, Gräfin Beamunt, verheiratet wie immer bei diesen unklaren Minnespielchen, ein Schiff, das auf Rädern über Land fährt. Dazu richtet er ein Turnier aus, denn angeblich hat die Alte so was noch nie gesehen. Das Landschiff rollt verschwenderisch ausgestattet durch die Pampa. Nichts als Edelholz, mit Silbernägeln zusammengekloppt und mit scharlachrotem Stoff bespannt. Die Gräfin bekommt bei dem Aufwand ein feuchtes Höschen. Moritz strengt sich beim Turnier tüchtig an, haut in den Dreck, was an ihm vorbeireitet. Der Graf spießt versehentlich einen Kollegen auf und zieht sich heulend zurück. Bei Dämmerung sind alle fix und fertig, und Moritz geifert nach der Belohnung durch seine Dame. Vorher muß er noch einmal furchtbar angeben, spendiert das ganze Landschiff wie eine Käsestulle auf dem Schulhof. Jeder Dahergelaufene darf sich ein Stück herausfetzen. Der Ritter übertreibt die Tugend der milte, der höfischen Großzügigkeit, derart, daß er sich von den gierigen Pöbelhorden bis aufs Hemd und ein Paar klapprige Beinschienen ausziehen läßt. Nach diesem bunten Strauß von Heldentaten klappt er im Schoß der gräflichen Zofe zusammen: dô legete er sîn houbet, alse sî im hâte erloubet, in ir schôz unt slief zehant.
Auf dem Fensterbrett stöhnen ein paar Tauben. Das 1871er-Papier knistert unter meinen Fingern. Eine komische Geschichte. Moritz ist bestimmt kein Tugendbold wie Erec oder Parzival, die nur versehentlich vom rechten Wege abgekommen sind. Der Text codiert ihn als Rüpel und Schlimmeres, als wildez tier und wunder, was in dieser kuriosen Sprache auch einfach Monstrum heißen kann.
Mit dem Finger suche ich im Text nach der Fortsetzung: Nû vernemet wie der her von Craûn ... Ich springe in den Zeilen, Buchstabengestöber, Versnummern, Seitenzahlen. Die Konzentration läßt nach. Vielleicht doch einen Kaffee? Plötzlich ist mir schwindlig, ich könnte das Fenster wieder aufmachen, wenigstens kippen.
Ich reibe mir die Augen und sehe plötzlich statt des vertrauten Schreibtisches und der Bücherwand eine Mauer. In einer Eisenhalterung steckt eine Fackel. Ihr flackerndes Licht beleuchtet einen Raum mit Spitzbogenfenstern ohne Verglasung. Auf einem Hocker sitzt eine Frau in Unterschichtsklamotten: Kittel, Schürze, Holzbotten. In ihrem Schoß schläft, Gesicht nach unten, ein halbangezogener Ritter, der nur noch Beinschienen, Kurzschwert und Lederstiefel trägt. Neben ihr stehen ein dampfender Krug und ein Talglicht in einer Tonschale.
Iuncvrouwe nennt sie der Text, tatsächlich sieht sie älter aus als PD Blom und ich zusammen. Der Ritter ist ein Haufen schnarchendes Männerelend. Ihre Hände wandern langsam durch den dichten Haarschopf, den der Lichtschein vergoldet. Es ist keine zärtliche Geste, nur Dienst an einem, der von Geburt und Gottes Gnaden her turmhoch über ihr steht. Was sie findet, wird schnell zerquetscht und in die zuckende Flamme geschnippt.
Es zieht durch die gemauerten Fenster. Ich starre hinaus, möchte alles sehen und behalten, vom Zaumzeug der schnarchenden stechrösser bis zu den Fetzen gegrölter Trinkmelodien: „Ir loeselîchez mündelîn benimet mir die sinne mîn, tandaradei!“
Alles bewegt sich, zappelt und läuft im Schein von Pechfackeln, Feuern und funzeligen Laternen, ein Haufen Einzelheiten, wie auf einem angedunkelten Breughel. Die Luft im Zimmer ist feuchtkalt, und es stinkt: nach den Kochfeuern, die unten im Hof qualmen, den verschwitzten Rittern, Knechten und Turnierpferden, saurem Wein und Bier, fettem Bratfleisch und dem Erbrochenen, das in großen Pfützen auf dem Boden des Burghofes dampft.
Dann bekomme ich einen Rippenstoß, daß ich gegen die Mauer fliege. „Faules Teufelskind, dir werde ich Beine machen! Was hast du aus dem Fenster zu glotzen! Ein Schiff, das auf dem Land fährt! Wider die Natur, sündiges Zeug. Und du stehst hier herum, faul wie Mist. Los, nimm das, bring es hinüber zum Herrn, er leidet!“ Und ich, gänsehäutig in der klöterig kalten Mainacht des beginnenden 13. Jahrhunderts, greife nach dem Krug, aus dem Kräuterdünste steigen, Beruhigung für den Grafen, den Turniermörder. Noch ein Schubs, und ich segle durch den niedrigen Türsturz ins gräfliche Schlafgemach, während sich die energische Frau leise fluchend wieder auf den Boden kniet, um den Kopf des Monstrums, des Landschiffers, des wie tot schlafenden Mauritius, in ihren Schoß zurückzubetten.
Vor dem Durchgang zur ehelichen Kammer hängt ein bestickter Fetzen, schäbig wie aus dem Dritte-Welt-Laden. Eine Kerzenflamme beleuchtet die Lagerstatt. Das Bett ist riesig, eine Art Hängematte zwischen vier gedrechselten Holzpfeilern, bedeckt von mottenzerfressenen Fellen und fleckigen Stoffbahnen. Leise stelle ich den Krug neben den im Schlaf stöhnenden Grafen und schleiche wieder zur Tür, ohne mir diese unrühmliche Person genauer anzusehen. Moritz schnarcht, die Zofe murmelt Unverständliches.
Ernüchterung packt mich, wie nach dem morgendlichen Blick auf das katergezeichnete Gesicht des One-night-Stands. All die Museumsvitrinen voll ziselierter Reichskronen, rubinbesetzter Bischofsringe und Stundenbücher mit Mille-fleurs-Randleisten werden fortgespült unter dieser Flutwelle von Lebenswirklichkeit. Es gibt hier zuviel Kontext für meine arme Mediävistenseele.
Da ist die Hand der Zofe, abgearbeitet und krumm, links fehlt ein Finger, die Zähne schwarzbraun und lückenhaft, ein fettiger Zopf und ein gebeugter Rücken. Da ist die stinkende Unschlittkerze mit ihrem dicken Leinendocht, die mir das Gurtbett beleuchtet, die mit räudigen Pelzschwänzen besetzte Überdecke und die Füße des unruhig schlafenden Grafen, in schweißige Lappen gewickelt, gelblich verhornt, Tierklauen. Ich sehe die grell bemalten Wände, die nichts zu tun haben mit der lindenglatten, distinguierten Seidigkeit von Riemenschneider-Figuren oder der strengen Ordnung hochgotischer Buchmalerei.
Und trotzdem ist die Nacht lieblich wie ein locus amoenus aus Wolframs Pfingstschilderungen. Sommerblumen, Gräser und endlose Hektar Wald ziehen herein. Dazu der Gesang einer Nachtigall, der das Herz von einem kräftig arbeitenden Muskel in eine irre in der Nachtluft hüpfende Seifenblase verwandelt. Ich stehe auf dem Steinboden der Burg Beamunt und atme. Die Geschichte geht weiter, ohne sich um meine Akklimatisierung zu kümmern.
Jetzt stampft die Herrin die Turmtreppe vom Hof hoch, leicht keuchend. Eine schwere Frau mit um den Kopf gelegten Zöpfen und miesepetrigem Quarkgesicht. Ihr aus steifem grünem Brokat gefertigtes gebende quetscht Kinn und Pausbacken zusammen wie ein Maulkorb. Sie trägt ein sackartiges Gewand mit Hängeärmeln und Schleppe. Um ihre kaum vorhandene Taille spannt sich ein Gürtel mit baumelnder Riemenzunge und einer Schnalle aus grobgeschnittenen Halbedelsteinen, die in den Goldfassungen sitzen wie Rosinen im Kuchenteig. Der Festfummel ist nicht ganz sauber; für Schneiderstrophen über höfischen Kleiderluxus müßte man mindestens ein Auge zudrücken: Turnierdreck, Fettspritzer und ein tiefroter Weinfleck verteilen sich über die ganze Montur. Madame Beamunt sieht aus wie eine Hippiebraut, die man vor 30 Jahren auf der verschlammten Wiese von Woodstock vergessen hat.
Mit Blick auf den Schlafenden fängt sie halblaut an zu mäkeln. Neben dem Türvorhang steht ein riesiger Weidenkorb voll schmutziger Wolle. Ich krieche dahinter und halte den Atem an. „Wie ein totes Schaf liegt er da!“ nölt die Gräfin, und auf ihrem breiten Bäuerinnengesicht zeigt sich die Erleichterung, diesen klirrenden Haufen Testosteron sprach- und bewegungslos vorzufinden. Die Zofe formiert energische Verteidigungsreden, sie preist den Aufwand, den der Herr Moritz getrieben hat, das prächtige Schiff, die Ausgaben und ermahnt ihre Herrin, den Ritter zu wecken und ihm den verdienten Minnelohn zu gewähren. Ihre verschrammte Arbeitspranke weist dabei aus dem Fenster.
Ich wette, daß da draußen vor den Burgtoren, die Bären, Füchse und marodierende Hungerleider abhalten sollen, im blutgetränkten Gras, das Wrack des Landschiffs liegt, riesig, nutzlos, all seiner höfischen Pracht beraubt. Und die wenigen Toten, höchstens drei oder vier, strecken sich in der muffigen Burgkapelle aus, während ihr Lebenssaft langsam zu kaltem Gelee erstarrt.
Das alles für diese dicke Adelsschlampe. Ihre wegwerfende Handbewegung in Richtung Zofe ist bühnenreif. „Tuo dînen munt zuo, ich wil slâfen unz morgen fruo!“ unterbricht sie die Tiraden. Dann wirft sie den Kopf in den Nacken und rauscht durch den Türvorhang ins Schlafzimmer. Ich ducke mich.
Madame Beamunt ist ganz mit sich selbst beschäftigt, schleudert die hölzernen trippen, dann die bestickten Stoffschuhe von den Füßen, pellt sich aus ihren Klamotten, bis sie im seitlich geschnürten Hemd dasteht. Dann wühlt sie sich in die Kissen zu ihrem Angetrauten. Nur die Zöpfe werden aufgemacht. Sie hat beneidenswert langes Haar, es wickelt sie halb ein, besser als jedes Nachthemd. Der Graf wirft sich unter der Decke hin und her, daß die Pelzschwänze darauf zucken, als säßen sie noch fest an den Hinterteilen von quicklebendigen kleinen Kreaturen. Seine Frau gibt ihm einen Stoß in die Seite. Er ächzt und mäßigt seine Bewegungen.
Nebenan erwacht der Ritter. Vielleicht hat er seine Herzdame gerochen. Er stellt sich klirrend auf die Füße und knurrt. „Ich slief sô unsanfte nie. Ich wande, mîn vrouwe wäre hie unt wolde niht mîn grüezen. Wie möhte ich daz gebüezen?“ Die Zofe klärt ihn auf. Ihr Gesicht, das Hungerwinter, gestorbene Kinder und Prügel aller Art in jeder Falte zeigt, spiegelt ehrliches Mitleid mit dem Geprellten. Dann verdrückt sie sich. Moritz von Craûn steht mit hängenden Armen im Raum, die Wandfackel beleuchtet sein Gesicht. Schlafverquollen und kampfgeschunden trägt es tatsächlich für eine Weile den Ausdruck jenes blökenden Tieres, mit dem ihn die Gräfin vorhin verglichen hat. Klein ist er, muskulös und blond. Vielleicht Mitte Zwanzig. Der Ritter schüttelt sich kurz, drückt die Daumen auf die Augäpfel, daß sie leise in ihren Höhlen schmatzen, und seufzt. Dann schiebt er den Vorhang zur Schlafkammer beiseite und betritt den Raum. Ich höre sein Schnaufen. Langsam schleicht er zum Bett seiner treulosen Geliebten. Dann beugt er sich über ihr tief in die Kissen gedrücktes Gesicht. Ich nutze die Zeit, in der er mir den Rücken zudreht, dafür, mich in die Türgardine einzuwickeln. Vielleicht bin ich ja unsichtbar.
In diesem Augenblick fällt seine rechte Beinschiene mit lautem Scheppern zu Boden. Der Graf stößt einen schrillen Angstschrei aus. Er ist mindestens zwanzig Jahre älter als seine Frau, dazu knochig und fast kahl. Der Alte gestikuliert wild in Richtung Moritz. „Es ist der helle künec, der Gottseibeiuns oder das wütende Heer, sie wollen uns umbringen, Gott sei uns gnädig.“ Sein Runzelhändchen tastet nach dem breiten Oberarm seiner Frau, die sich langsam aufgerichtet hat, stoisch auf die Gestalt ihres Galans starrt und kein Wort sagt. Über das Gesicht des Herrn von Craûn zieht sich ein breites Grinsen. Neckische Grübchen bilden sich in Kinn und Backen. Wirklich nicht übel. Er hat das abgefallene Rüstungsteil vom Boden aufgehoben und klopft damit auf das Bettgestell. „Ich bin der arme Tropf, den Ihr heute beim Turnier erschlagen habt. Ihr müßt jetzt für immer mein Begleiter in der Hölle sein.“ Der Graf springt mit einem heulenden Ausruf aus dem Bett und hechtet in Richtung Tür.
Vielleicht hat ihm sein Pfaffe einmal die Visio Tnugdali mit ihren genußvollen Höllenschilderungen vorgelesen, denn er zittert vor Angst und stolpert über den Teekrug, den ich neben dem Lager abgestellt hatte – tut mir leid –, knallt mit dem Kopf gegen den Bettpfosten und sinkt zu Boden. Moritz schüttelt lachend den Kopf, schiebt die Decke zur Seite und streckt sich neben Madame Beamunt aus. „Dieses Bett ist halb leer, ich weiß nicht, wer hier reingehört.“ Sie sitzt immer noch aufrecht da, überrieselt von diesen Haarmassen. Entspannt ist sie nicht, aber ihre Augen glänzen. Eine plumpe weiße Hand wandert durch das Bettzeug und streift die Wange des Ritters. „Ihr seid der kühnste Mann, von dem ich je gehört habe, weil Ihr Euch so weit vorwagt. Ich waene, ein wunder hie geschiht, dâ von man immer maere saget, biz der jüngeste tac betaget!“ Und tatsächlich, jetzt drückt sie ihm ihre speichelfeuchten Lippen ins Gesicht. Moritz rührt keinen Finger. Er läßt sich betatschen, die andere Beinschiene abmontieren, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Gräfin gurrt. Vom Bettvorleger her kommen dumpfe Geräusche, die sie nicht stören. Es geht sehr schnell. Er zerrt ihr Hemd hoch bis unters Kinn, grinst ihr noch einmal ins Gesicht und packt es dann in den Seidenstoff ein, Mopsbacken, Zitterlippen, alles. Dame ohne Kopf, dafür mit Unterleib. Dann macht er es sich zwischen den dicken Oberschenkeln bequem und startet durch. Sie zappelt ein bißchen, wird endlich still. Nach höchstens drei Minuten steigt der Ritter wieder ab und leckt sich die Lippen wie ein Raubtier nach einer saftigen Keule. Sein Blick wandert durch den Raum und bleibt an meinem Versteck hängen.
„Und was haben wir hier, hinter dem Vorhang? Ein kleines magedin! Mager wie ein mandelrîs. Hast du auch schön zugeschaut, was ich der vrouwe zu schmecken gegeben habe? Schon als ich eingetreten bin, habe ich dich gesehen. Ein echter wîgant spürt jeden Feind im Rücken. Komm nur her, du bist die nachspîse!“ Und er zerrt mich am Ärmel zum Bett, wo die Gräfin, noch schwer atmend, liegt. Von ihrem Ganzgesichtsknebel hat sie sich inzwischen befreit. Ihre Brüste fallen nach beiden Seiten aus dem zerfetzten Hemd.
„So, mîn spannedickes wîp, mach Platz! Wenn ich gewußt hätte, wie du unter deiner wât aussiehst, hätte ich nie das Landschiff bauen lassen! Runter mit dir!“ Er greift zu und wirft die Dame aus dem eigenen Bett. Auf ihrem ohnmächtigen Mann landet sie immerhin weich und ist so perplex, daß sie nur leise schluchzen kann. Moritz ist noch nicht fertig. Er schraubt an seiner rechten Hand herum, blaugequetscht von den eisernen Turnierhandschuhen, und zerrt einen Ring vom Finger, den er der Gräfin nachschleudert: „Nemet wider iuwer golt, ich wil iu nimmer werden holt!“ Dann hebt er mich hoch und befördert mich in die nach Ziege riechenden Laken.
Es ist so, wie man es nie haben wollte, ohne vorausgehenden Kinobesuch, Zigarettengeplänkel und Verhütungsdiskussion. Er liegt auf mir und zwinkert. Das getrocknete Blut verklebt Brauen und Wimpern. Er lacht, reißt mein Kleid in der Mitte durch, stutzt bei der Unterwäsche. „Was ist das? Ûzlendisch dinc, weg damit!“ Um Vorspiel und G-Punkt kümmert er sich nicht. Die Gräfin war in der Tat ein magenfüllendes Hauptgericht. Ich gönne ihr, daß sie zuhören muß, und stöhne ein bißchen. Seine Hände sind wie Schmirgelpapier. „Ha, dürrez lennelîn, an diese Nacht wirst du noch lange denken! Ein richtiges Bett, mit golter und deckelachen aus baldekîn, das hat dein kleiner Hurenarsch noch nicht gespürt, was? Und das hier auch nicht!“ Es wird ein kurzes Vergnügen, ich atme Schweiß, Blut und alten Dreck, umklammere seinen mageren Hintern. Sein Griff ist eisenhart, man spürt jede geworfene Lanze noch einmal.
Plötzlich bin ich sehr müde. Die Umstände sind nicht geeignet, um in Tiefschlaf zu fallen, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, daß mir mit diesem Kerl an der Seite nichts passieren kann. Also mache ich es mir gemütlich, den Kopf auf seiner Brust, studiere ein bißchen sein Gesicht. Sein Haar ist noch blonder als Markos. Er ist ein Angeber, denn kaum spürt er meinen Blick, lacht er wieder unverschämt: „Wir Herren können eben doch besser vügeln und smeichekôsen als die geburen. Nicht wahr, es war gut?“ Sein Gebiß ist nicht ganz so furchtbar wie das der Zofe. Er bemerkt mein Interesse und tippt mit einem schmutzigen Fingernagel gegen die vorderen Schneidezähne. „Helfenbein, hat mir ein Sarrazîn gemacht im Heiligen Land. Vor zwei Jahren war ich dort unten. Schreckliche Seestürme. Sand und Hitze. Nur ein adeler schwebte in der Wüste über uns und spendete ein wenig Schatten. Soll ich dir davon erzählen?“ Ich nicke, er beginnt zu reden, und in einer endlosen Woge mittelhochdeutscher Aufschneidereien dämmere ich weg.
Die Kastanie wedelt mir fünffingrig zu. Es ist still auf dem Hof, kurz nach Sonnenaufgang. Nur im Papierkorb streiten ein paar Spatzen um ein altes Brötchen. Ich habe das adlige Sperma mit kaltem Wasser auf der Mitarbeitertoilette abgewaschen, eher symbolisch, denn dieser Ritterschlag dürfte gesessen haben. Ich hoffe nur, daß der kleine Moritz schönere Zähne haben wird als sein Vater. Aber hoffentlich sein Haar und seine Armmuskeln. Mein Kleid hat einen großen Riß, und ich stinke nach Burg Beamunt, habe Dreck unter den Fingernägeln und einen großen Bluterguß über beiden Oberschenkeln.
Das verschimmelte Buch ist noch da, aufgeschlagen auf Seite 87. Schnell lese ich zu Ende. Alles läuft ab wie letzte Nacht. Der Ritter tobt, der Graf wird ohnmächtig, die Gräfin genagelt, ich komme diskreterweise nicht vor. Das Ende ist lehrhaft und höfisch. Die vrouwe jammert auf der höchsten Zinne über ihr Fehlverhalten, und die Zofe würgt ihr noch rein, daß sie sich tatsächlich äußerst unpassend benommen hat, von wegen Verweigerung des Lohnes und so weiter. Minnekasuistik vom Feinsten. Doro wird schon etwas damit anfangen können.
Ich stelle das Buch zurück ins Regal, zwischen ‚Minnesangs Frühling‘ und den Benecke-Müller-Zarncke. Meine Aktentasche lasse ich oben, mitsamt dem angefangenen Exposé. Das einzige, was ich mitnehme, ist der Bierdeckel mit Markos Telefonnummer. Paul Weller ist die richtige Musik für die erste gemeinsame Nacht.
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