Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Guy Helminger (Bild: ORF - JohannesPuch)
Guy Helminger
Pelargonien

Es gab wenig, das Frank Perl so erfreute, wie das Fahrrad fahren. Da waren Tage, an denen hob er sich morgens kurz nach dem Frühstück in den Sattel, und erst wenn es dunkel wurde, merkte er, daß er die ganze Zeit nichts gegessen hatte. Er fuhr in der Stadt herum, und ab und an, wenn es sich anbot, wenn er wußte, daß es ihm dieses seltsame Glücksgefühl bescheren würde, ließ er den Lenker los, richtete sich auf und schlug einem Passanten im Vorbeigleiten auf den Hinterkopf. Er drehte sich danach nie um, schaute sich nie die überraschten Mienen der Gedemütigten an. Er fuhr einfach weiter, wissend, daß die Gesichter in seinem Rücken in all ihren stumpfen Variationen doch immer mit dem gleichen Ausdruck völliger Sprachlosigkeit über dem Bürgersteig hingen, während in seiner Brust im selben Moment eine Sauerstoffflasche geöffnet wurde und etwas sich aufrichtete in seinen Gliedern. An sehr schönen Tagen radelte Perl nach so einem Schlag einmal um den Block und steuerte sein Opfer erneut an.

Die Stadt hatte etwas von einem riesigen Blumenkasten, in dem die vom Vorjahr übrig gebliebenen Erdbrocken sich zu kleinen schimmeligen Wohneinheiten strukturierten. In den Furchen dazwischen lief die eine oder andere Kellerassel, erschrocken über so viel Licht, das plötzlich über den Dachgiebeln stand und von dort aus jede noch so verwinkelte Ecke ausputzte. Nur die Blumen fehlten.
„Etwas fehlt immer“, sagte Perl und faßte sich ans rechte Ohr. 
Er sah die Wagen, die sich langsam und laut aus der Stadt hinaus Richtung Autobahn schoben, sah, wie ihre Schatten stotterten, länger wurden, sich in aller Ruhe ausdehnten und wie Geisterfahrer die Gegenfahrbahn benutzten, während sein Rad ihn fast lautlos und gleichmäßig über den Bürgersteig ans Ende des Tages trug.

In der Dämmerung stellten die Straßenleuchten ihre schwachen Kegel auf den Asphalt. Vögel hockten merkwürdig bewegungslos im Rinnstein und schienen auf das nächste Paar Reifen zu warten. Perl beschloß, an den Grünflächen am Stadtrand vorbeizufahren, dort, wo man nur an Tagen wie diesem etwas sehen konnte, wenn der Mond zu voll war und sein Licht wie aus einer Sprühflasche über der kaum befahrenen Straße hing. Trotzdem blieb der Asphalt trocken. Perl atmete so wenig wie möglich und horchte über die Wiesen. Dort drückte jemand mit zu großen Händen die Stille ins Gras.
Dann platzte plötzlich dieser Wagen an ihm vorbei, schleuderte im selben Moment und überschlug sich einmal, bevor er auf allen vier Rädern wieder zum Stehen kam. Perl bremste sofort und sah sich das Auto aus der Entfernung an. Nichts rührte sich. Er legte sein Fahrrad auf den Asphalt und ging auf das Unglück zu.

Das Dach war eingedrückt und die Frontscheibe zersplittert. Eine Frau öffnete von innen ein Stück weit die Fahrertür. Perl sah, daß sie steif mit dem Sitz verschmolzen war und daß nur ihr linker Arm sich bewegte, so als gehörte er zu einem anderen Körper. Ihr Mund stand etwas offen, während sie Perl anschaute. Kleine Blutspritzer hatten sich wie zu dunkle Sommersprossen über ihr Gesicht verteilt. Auf ihrem Schoß häufte sich das Glas. Perl hielt ihrem Blick stand und dachte: wir verstehen uns gut.

Er zog die Tür auf, beugte sich über die Frau und löste den Sicherheitsgurt. Dann versuchte er, sie unter den Armen zu greifen und etwas anzuheben.
Die Frau wimmerte.
Perl ließ sie zurück in den Sitz gleiten und schaute ihr erneut in die Augen.
„Ich bin jetzt da“, sagte er.
Die Frau blickte auf das Glas in ihrem Schoß.
Perl packte sie erneut unter den Armen und begann sie aus dem Auto zu ziehen.
Die Frau wimmerte.
„Was machen Sie da“, rief jemand.
Perl drehte den Kopf, während er die Frau vorsichtig aus dem Wagen zog.
Der Mann eilte auf sie zu und rief: „Das dürfen Sie nicht!“
Perl legte die Frau auf den Asphalt. Ihre Beine fielen seltsam geknickt nach außen.
„Wenn sie was an der Wirbelsäule hat“, schrie der Mann, „sind Sie denn vollkommen verrückt.“
Perl wartete, bis der Mann bei ihm war und sagte: „Ich bin jetzt da.“
„Haben Sie einen Krankenwagen gerufen, die Polizei verständigt?“ fragte der Mann schnaufend.
„Etwas fehlt immer“, sagte Perl und faßte sich ans rechte Ohr.
Einen Moment lang wurde es dunkler. Eine Schicht aus schwarzen Wasserfarben zog einige Blätter lang vorbei. Dann stand der Himmel wieder da, nachtblau und unfehlbar.
Der Mann kniete sich neben die Frau, und Perl überlegte, ob er ihm auf den Hinterkopf schlagen sollte. Aber sein Fahrrad lag zu weit weg. Im Stehen brachte das nichts.
„Sind Sie fertig“, sagte Perl.
Der Mann stand auf und blickte ihm in die Augen.
Wir verstehen uns nicht, dachte Perl und sagte: „Am besten, Sie gehen jetzt!“
Von unten wimmerte die Frau.
Der Mann schaute Perl noch einen Moment lang an, dann ging er weg.
Perl hockte sich neben die Frau und streichelte ihr über den Kopf. Sie versteifte sich und wimmerte etwas lauter. Irgendetwas tat ihr weh.
„Ich bin Frank“, sagte Perl, „Frank Perl.“
Ein leichter Benzingeruch lag über der Straße im nieselnden Licht.
Die Frau hat sehr große Augen, dachte Perl, das mag ich. Er schaute den Bordstein entlang nach seinem Fahrad und sah, daß der Mann dort noch stand und wartete.
Ich hätte ihn schlagen sollen, dachte Perl und streichelte der Frau über den Kopf. Ihr rechter Arm lag seltsam leblos neben ihr. Perl rauchte nicht, sonst hätte er ihr eine Zigarette angeboten. Statt dessen sagte er: „Sie waren zu wild. Sie haben die Kontrolle verloren.“
Die Frau wimmerte.
Dann wurde es allmählich laut.
Über der Stille im Gras hatten sich Grillen versammelt und zirpten. Ihre Flügel bewegten sich rasch gegeneinander und trieben als weit verstreuter Chor einen gemeinsamen Klang über die Frau und den Wagen hinweg. Perl hatte das Gefühl, daß nun alle Geräusche sich miteinander verbanden, sich durchdrangen, das Schrillen aus den Wiesen, das Wimmern der Frau, das Schnaufen des Mannes aus sicherer Entfernung. Alles zusammen bildete eine Kugel aus Tönen, und Perl saß mitten drin. Dann kam ein neues Geräusch dazu. Erst dumpf und leise, so daß Perl es noch außerhalb seiner Kugel wähnte, dann immer deutlicher, und schließlich fuhr es laut in die Szene hinein. Der Krankenwagen hielt direkt neben Perl. Der Mann kam wieder angelaufen und rief: „Da ist er! Da ist er!“
Die Sanitäter knieten sich neben die Frau.
Einer sagte: „Gehen Sie doch mal zur Seite.“
„Ich war als erster da“, sagte Perl.
„Ja, ja“, sagte der Sanitäter.
Er strich der Frau über die Stirn und fragte: „Können Sie mich hören?“
„Mir ist kalt“, sagte die Frau.
„Wir bringen Sie in die Uni-Klinik“, sagte der Sanitäter.
Die Frau schloß die Augen.
Perl blieb noch, bis der erste Polizeiwagen ankam, dann setzte er sich aufs Fahrrad und fuhr nach Hause.

Am nächsten Morgen stand Frank Perl in der Uniklinik und fragte beim Empfang nach der Frau, die gestern abend nach einem Unfall eingeliefert worden sei.
Im Flur roch es nach Desinfektionsspray. Eine ältere Dame im Rollstuhl fuhr an ihm vorbei und grüßte. Perl klopfte leise an die Zimmertür und trat ein. Die Frau lag in einem Bett am Fenster und schien zu schlafen. Beide Beine sowie ihr rechter Arm waren eingegipst. Das zweite Bett im Zimmer war nicht belegt.
Sie wartet, dachte Perl.
Als er sich auf ihr Bett setzte, öffnete die Frau langsam die Augen.
„Wie geht es Ihnen?“, sagte Perl, während das Licht in Form eines winzigen zitternden Reflexes eine passende Stelle in ihren Augen suchte. Sie sah ihn an, und Perl wußte, daß sie sich verstanden.
„Was?“ sagte die Frau.
„Ich habe Sie gerettet“, sagte Perl und faßte sich ans rechte Ohr.
„Danke“, sagte die Frau.
Ihr Blick heftete sich an die Decke. „Wer war der andere Mann?“ fragte sie.
Perl schwieg.
Sobald sie nicht miteinander sprachen, wuchs eine blütenlose Stille ins Zimmer hinein. Aber nichts bewegte sich. Meistens tropfen doch die Hähne, dachte Perl und schaute auf den Plastikvorhang in der Ecke des Zimmers.
„Ich werde Ihnen Blumen vorbeibringen“, sagte er.
Die Frau sah zum Fenster hinaus. Dort spannte sich der Himmel großzügig hinter den Flug zweier Tauben.
Perl streichelte der Frau übers lange, dunkle Haar.
„Wie heißen Sie?“ fragte er.
„Bischoffsky“, sagte die Frau, „Petra Bischoffsky.“ Und nach einer Weile, in der Perl sich auf die kaum hörbaren, rhythmischen Schübe ihres Atems konzentriert hatte: „Wieso sind Sie hier?“
„Sie waren zu wild. Sie hätten sterben können. Wenigstens haben Sie gegessen“, sagte Perl, während sein Blick das Tablett mit den Resten vom Frühstück streifte.
Die Frau versuchte, ihren Körper etwas nach oben in die Kissen zu schieben. Ihr Gesicht verzerrte sich dabei.
„Ich fahre viel Fahrrad“, sagte Perl, „man sieht viel mehr von der Stadt, in der man lebt. Jeden Tag entdecke ich neue Dinge. Ab und zu fallen mir auch Menschen auf. Das macht mich froh.“
Die Frau blickte an ihm vorbei zur Zimmertür. Perl hörte, wie ein Wägelchen mit abgeräumten Tabletts über den Flur geschoben wurde.
„Was erwarten Sie von mir?“, sagte die Frau, „wollen Sie Geld?“
Perl sah, wie sich die Augen der Frau verdunkelten. Das Licht rutschte ihr aus den Augenwinkeln und zog sich hinter die Fensterscheiben zurück. Trotzdem blieb es hell im Zimmer.
„Sie sind geschwächt“, sagte er. „Ich verstehe das. Ich komme morgen wieder.“ Dann stand er auf und verließ die Klinik.

Am folgenden Morgen hatte Perl Blumen dabei. Er hatte den Strauß selbst zusammengestellt. „Nicht einfach nur Rosen“, hatte er zur Verkäuferin gesagt und sich über die Auslage gebeugt. Es waren junge Blumen. Die Frau im Krankenhaus war älter.

„Ich habe keine Vase“, sagte sie.
Perl besorgte eine bei der Stationsschwester.
Es geht der Frau besser, dachte er, aber ihre Haare sind etwas zu lang. Im Zimmer häufte sich noch immer die Stille, sobald sie nicht miteinander redeten. Aber die Blütenblätter bewegten sich nun darin und rührten die Stimmung um.
„Was machen Sie beruflich“, fragte die Frau.
Perl überlegte einen Augenblick. Dann sagte er: „Ich trage Zeitungen aus. Zeitungen und Prospekte. Früh morgens. Ab acht habe ich frei. Den ganzen Tag. Ich brauche nicht viel Schlaf. Und Sie?“
Die Frau sah ihn an, und Perl hatte das Gefühl, auf seinem Fahrrad zu sitzen und jemandem auf den Hinterkopf zu schlagen.
„Ich bin Soziologin“, sagte sie. „Ich arbeite bei der BZGA, der Bundesanstalt für gesundheitliche Aufklärung. Wir machen diese Aids-Aktionen. Sie kennen doch die Plakate.“
„Sie haben doch kein Aids, oder?!“ fragte Perl.
Petra Bischoffsky lachte.
Das ist das erste Mal, daß sie lacht, dachte Perl.
„Nein“, sagte sie, „wir klären auf. Wir weisen die Leute darauf hin, daß sie Kondome benutzen sollen.“
„Das hätte ich auch gemerkt“, sagte Perl und faßte sich ans rechte Ohr, „wenn Sie Aids hätten, meine ich.“
Hinter den Glasscheiben schien sich das Sonnenlicht zu stauen, ehe es sich zu einem Strahl gebündelt über die Blumen ergoß.
„Mögen Sie Blumen?“ fragte Perl.
Die Frau antwortete nicht.
Nach einer Weile sagte Perl leise: „Ich mag sie sehr.“
Sofort begannen die Augen der Frau unruhig zu flattern, so als ob plötzlich ein Windstoß durch das Zimmer fegen würde. Perl legte eine Hand auf den Gips ihres linken Schenkels und sagte: „Pelargonien sind mir am liebsten.“ Er wartete einen Moment lang und schaute auf die kleinen Schnitte im Gesicht der Frau. „Sie wissen nicht, was das ist. Ja, das wissen die wenigsten. Weil alle sie Geranien nennen. Das ist aber falsch.“ Perl merkte sofort, wie er in der Achtung der Frau stieg. „Mit Geranium haben Pelargonien aber nichts zu tun“, sagte er. „Alles Storchschnabelgewächse. Und daher kommt der Irrtum. Storchschnabelgewächse heißen botanisch Geraniceae. Nicht wahr“, sagte Perl und nickte mit dem Kopf. „Pelargonien sind reich sprießende Pflanzen, und wo gibt es das schon, daß die Blüten fast das gesamte Blattwerk bedecken.“
Die Zimmertür ging auf und die Stationsschwester sagte: „Frau Bischoffsky, könnten wir… Ach, Sie haben noch Besuch. Na, dann später“, und schloß die Tür wieder.
„Nein, nein“, sagte Petra Bischoffsky.
Perl hörte, wie die Tür vom Nebenzimmer geöffnet wurde. Dann sah er der Frau in die Augen und sagte: „Ich glaube, es ist an der Zeit, uns zu duzen.“

In der Stadt lag viel Erde. Gärtner arbeiteten in den Parks. Zwischen den Bäumen am See standen Menschen wie faule Schilfrohre. Perl radelte zwischen den Wiesen umher, fand aber niemanden, den er gerne geschlagen hätte. Es war lange hell an diesem Tag, so lange, bis Perl in die Außenbezirke fuhr. Dort verrohte innerhalb einer Viertelstunde das Licht zwischen den spukenden Kindern, und es wurde dunkel.

„Gut, gut, ich erzähle es Ihnen“, sagte Petra Bischoffsky.
Perl stand am Fenster und hörte, wie sich ihre Stimme aufregte, ohne auch nur im Geringsten lauter zu werden. Der Geruch der Blumen lag schwer und dicht im Zimmer, während sich unten vor dem Krankenhaus die Birkenbäume verzweigten. Perl sah, wie ein Wagen vor der Schranke hielt. Ein Arm drückte auf die Klingel. Die Schranke ging nach kurzer Zeit hoch, und der Wagen fuhr auf den Parkplatz.
„Ich habe mich an dem Abend von Schippo getrennt“, sagte Petra Bischoffsky. „Ich war wütend und fuhr zu schnell. Das ist alles.“
„Schippo, das ist doch kein Name“, sagte Perl und drehte sich um.
„Er kommt aus Albanien. Alle nennen ihn so“, sagte die Frau. „Warum erzähle ich Ihnen das jetzt?“
„Ja“, sagte Perl und fasste sich ans rechte Ohr, „mit Ausländern ist das so eine Sache. Versteh mich nicht falsch, aber die kommen aus einer anderen Gegend. Da gibt es Regeln, die uns fremd sind. Blutrache zum Beispiel. Weißt du, was das ist.“
Perl sah, daß die Frau sich bewegen wollte. In ihrem linken Arm spannten sich die Muskeln. Er setzte sich neben sie und streichelte ihren Gipsverband am rechten Bein.
„Es gibt schon merkwürdige Menschen“, sagte er, „ich kannte einen, der hat Hunde geklaut und sie dann mit den Hinterbeinen an einem Haken in der Wohnung aufgehängt, um ihr Gejaule aufzuzeichnen. Er war kein schlechter Mensch, vielleicht ein Künstler. Ich weiß nicht.“
In den Zimmerecken wurden Schatten sichtbar. Perl sah aber die dazu gehörigen Gegenstände nicht.
„Ich bin doppelt so alt wie Sie. Ich bin 38. Ich könnte Ihre Mutter sein“, sagte die Frau.
„Nein!“ antwortete Perl ungewohnt schnell, „das könntest du nicht. Aber ich verstehe auch nicht, warum du das sagst.“
„Sagen Sie mir doch einfach, was Sie von mir wollen?!“ sagte die Frau.

Perl bog beim Krankenhaus um die Ecke. Am Ende der Straße sah er einen alten Mann mit Krückstock gehen. Er ging aus dem Sattel, aber als er mit dem alten Mann auf gleicher Höhe war, löste seine Hand sich nicht vom Lenker. Perl wäre fast gestürzt, behielt dann doch das Gleichgewicht und wischte am alten Mann vorbei. Der Bürgersteig schnalzte kurz unter dem Vorderrad, während Perl weiter an einer Gruppe von Jugendlichen vorbei raste. Lange fuhr er im Schatten der Häuser. Dann griff das Licht ihm plötzlich von vorne in die Augen, und Perl beschloß, die Frau morgen nicht zu besuchen!
„Dann denkt sie nach“, dachte Perl.
Das Licht blieb an diesem Tag in seinen Augen, bis er vom Fahrrad stieg.

Der Morgen war lang. Obwohl Perl die ersten Kästen vor einigen Fenstern sah und die kleinen samtartig behaarten Blätter als stehende Pelargonien identifizierte, machte ihn das Fahren müde. Gegen Mittag hielt er bei einem türkischen Imbiß am Barbarossaplatz und bestellte sich mit Hackfleisch gefüllte Auberginen und eine Cola. Er blieb lange nachdem er gegessen und gezahlt hatte auf seinem Hocker sitzen und sah zu, wie die Sonne das Fladenbrot im Fenster ausdörrte. Menschen wuchsen vor der Theke, verzweigten sich und verschwanden.

„Fehlt Ihnen etwas“, fragte der Verkäufer ihn, als gerade niemand im Imbiß war.

Perl sah ihn an und faßte sich ans rechte Ohr. Draußen trat er in den flach gepressten Schatten der Häuserzeile.

Der Tag heute ist lang, dachte Perl, aber die Stunden sehr kurz. Wie geht das zusammen?

In den Briefkästen steckten Prospekte wie geknickte Wünsche. Perl hatte nicht vor, die Stadt zu verlassen.



„Das habe ich dir gebastelt heute Nacht“, sagte Perl, als er das Krankenzimmer betrat. Er stellte einen meterhohen Kranich aus mit Gips gehärtetem Zeitungspapier und Prospekten auf Petra Bischoffskys Bett. Der Schnabel des Tieres war dunkel angemalt und die Flügel leicht angewinkelt, so als wollte er gerade zum Flug ansetzen.

„Mußten Sie die Zeitungen nicht austragen?“ fragte die Frau.

„Oh, nein, das war Altpapier“, sagte Perl. „Ich habe mir Urlaub genommen, solange du mich noch brauchst.“

„Ich brauche Sie nicht“, sagte die Frau.

Perl strich dem Kranich über den Rücken.

„Wenn man die Augen schließt, fühlt sich das wie Federn an“, sagte er.

Im Zimmer war das Licht so blau, als blicke Perl nach oben in einen wolkenlosen Himmel und schaue den Kranichen bei ihrer Wanderung zurück nach Europa zu. Vom Fenster dufteten Blumenwiesen. Perl dachte daran, den Wasserhahn aufzudrehen und das Becken zu füllen. Dann spürte er, wie der Kranich sich unter seiner Hand bewegte. Ein dumpfes Knacken zog wie ein schmaler Kondensstreifen durch den Raum. Perl öffnete die Augen und sah den linken Flügel des Kranichs auf der Bettdecke liegen. Die Augen der Frau glänzten eng und stumpf über dem Kopfkissen.

„Das hättest du nicht tun sollen“, sagte Perl.
„Hören Sie auf, sich ständig ans Ohr zu fassen“, schrie die Frau. „Was glauben Sie eigentlich! Was? Was?“ schrie sie und schlug mit ihrer linken Hand auf den Kranich ein.
Perl zog den Vogel vom Bett und verstand nicht, was sie gegen das Tier hatte. Er sah, wie der Himmel rasch hinter der Zimmerdecke verschwand. Kleine Risse oder Schnitte darin fielen ihm auf, so als habe man die Umgebung dem Gesicht der Patientin angepasst.
„Hier“, schrie die Frau und warf den Flügel von ihrem Bett zu Boden.
„Ein schlimmer Unfall“, sagte Perl, „aber ich bin jetzt bei dir.“
Die Frau starrte ihn an und schwieg.
Perl hörte ein Klopfen und sah, wie sich die Zimmertür langsam öffnete. Eine ältere Dame im Rollstuhl bewegte sich ein Stück herein.
„Oh“, sagte sie, „hallo!“ Dann machte sie kehrt und schloß die Tür wieder hinter sich.
Perl hörte, wie sie jemanden auf dem Flur grüßte. Einige Sekunden später war das Zimmer wieder isoliert.
Ein zentimeterdicker Verband, dachte Perl, um jedes Zimmer ein zentimeterdicker Verband. Er trat mit dem Kranich ans Fenster und sah, wie unten ein Wagen vor der Schranke hielt.
„Wir haben die gleiche Haarfarbe“, sagte Perl, „meine sehen etwas wie Unkraut aus, aber deine sind zu lang. Wenn du willst, schneide ich dir die Spitzen. Ich habe eine Schere mitgebracht.“
Ohne sich umzudrehen, sah Perl, wie ihr linker Arm die Klingel suchte. Unten war der Parkplatz bereits voll. Die Schranke öffnete sich nicht. Niemand kam. Perl stellte den Kranich aufs Fensterbrett, zog zwei Margeriten aus der Vase und entsorgte sie im Mülleimer hinter dem Plastikvorhang. Die Frau klingelte erneut.
„Es wird niemand kommen, jetzt“, sagte er.
„Was?“, schrie die Frau.
„Es wird niemand kommen“, wiederholte Perl. „ich habe mit der Stationsschwester geredet, und sie gibt uns etwas Zeit.“

„Was haben Sie?“ schrie die Frau.
„Wir sollten wirklich deine Haare schneiden“, sagte Perl.
„Ich rufe jetzt meinen Freund an“, sagte die Frau.
Perl ging um ihr Bett herum und reichte ihr den Telefonhörer.
Die Frau blickte ihn an, drehte dann ihren Kopf dem Fenster zu.

Auf ihrem Balkon war ein ziemliches Durcheinander. Müllsäcke standen in der Ecke, alte Zeitungen lagen gewellt auf einem roten Klappstuhl. Der Plastiktisch war braun von Dreck. Perl stellte erst die Balkonkästen mit den Pelargonien auf die Brüstung und wischte anschließend den Tisch sauber.
Das wird sie freuen, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt, dachte er.
Mit den Zeitungen hatte er nichts zu tun. Er schaute sich seine Pflanzungen an und stieg die Leiter hinunter in ihren Garten. Dort blühte bereits der Kirschbaum.

Drei große Lichtfliesen lagen quer über dem PVC-Boden. Die Blumen ließen die Köpfe hängen. Perl trug die Vase hinter den Plastikvorhang, stopfte die welken Pflanzen in den Eimer und goß das leicht faulig riechende Wasser ins Waschbecken. Die Frau sprach heute nicht. Die leere Vase stellte er vor den Schrank auf den Boden.
„Pelargonien“, sagte er und faßte sich ans rechte Ohr, „werden am besten durch Samen oder Stecklinge vermehrt. Das solltest du wissen. Man bricht einfach Triebe ohne Blütenansatz von der Mutterpflanze ab. Die Größe des Stecklings spielt keine Rolle, aber er sollte mindestens ein einigermaßen entwickeltes Blatt haben. Ja, was noch. Sie brauchen viel Wasser und viel Sonne natürlich. Aber das machen wir schon.“
Wenn Perl nicht sprach, konnte er sein Blut rauschen hören. Er hielt kurz, ohne daß die Frau es merkte, die Luft an und horchte in seine Ohren hinein. Dort war ein lautes Fließen, ein Schäumen an den Ufern seiner Person. Es klang so, als sitze er auf seinem Rad und der Wind schlittere an seinem Kopf vorbei.
Das hatte ich früher nie, dachte Perl, daß ich mich nicht bewege und doch so schnell unterwegs bin. Seine Hand klatschte gegen die Metallstange am Ende des Bettes.
Dann sprach die Frau doch.
„Könnten Sie nicht einmal einen anderen Pullover anziehen“, sagte sie.
„Ich schwitze nie“, sagte Perl. „Ich kann den ganzen Tag Fahrrad fahren, ohne daß sich auch nur ein Tropfen auf meiner Stirn zeigt.“
Über dem Kranich auf dem Fensterbrett flogen zwei Tauben und schnitten den Himmel in drei ungleich große Teile. Die Lichtfliesen begannen sich zeitlupenhaft die Wand hochzuziehen. Perl hatte das Gefühl, der Pegel steige, so als säße er in einem Becken, in das sich die Sonne nach und nach verflüssigte. Nur einmal kam die Stationsschwester und fragte ihn, wie es der Frau gehe. Er gab ihr die Vase zurück und bedankte sich. Draußen kletterten Eichhörnchen etwas zögerlich die Birkenstämme hinab auf den Parkplatz und zogen den Abend hinter sich her. Perl wünschte der Frau eine angenehme Nacht.

Am Tag ihrer Entlassung brauchte Perl nichts zu packen, denn die Nachthemden gehörten dem Krankenhaus. Er gab der Frau eine Hose und ein Hemd von sich und sagte: „Ich habe uns ein Spezialtaxi bestellt, so eins, wo auch Rollstühle reinpassen.“
Im Flur schob er die Frau an den Wägelchen mit den Essenstabletts vorbei und achtete darauf, daß die eingegipsten und nach vorn gestreckten Beine der Frau nirgends gegen stießen.
Ich hätte sie gerne mit dem Fahrrad abgeholt, dachte Perl, aber das war nicht möglich.
Unten vorm Empfang saß eine ältere Dame im Rollstuhl und grüßte.
Als das Taxi losfuhr, sagte Perl: „Ich habe deinen Arbeitgeber angerufen und ihm mitgeteilt, daß du noch einige Zeit zuhause bleiben mußt. Die Vera klingt sehr nett. Vielleicht könnten wir sie ja mal zum Essen einladen, wenn du wieder gesund bist, meine ich.“
Durch die geöffneten Fenster schnitt angenehm der Wind. Die Birken am Straßenrand wischten im Takt seines Herzschlages vorbei.
Ich bin jetzt da, dachte Perl.
Der Taxifahrer drehte sich einmal um, schaute die Frau an und blickte wieder nach vorn. Einen Moment lang verspürte Perl das Bedürfnis, in den ausrasierten Nacken zu schlagen, aber die Frau sagte: „Wohin fahren wir?“
In den Dachrinnen sammelte sich das Mittagslicht und staubte die Fassaden hinab.
„Wir gehen essen“, sagte Perl, „du mußt jetzt viel essen.“
Als sie vor dem türkischen Imbiß ausstiegen und der Taxifahrer auf das Geld in seiner Hand blickte, sagte er: „Da fehlt was!“
„Ja“, sagte Perl, „Moment.“
Am Nachmittag des folgenden Tages klingelte Perl an ihrer Haustür. Das Licht war gut und wuchs randlos aus ihrem Garten. Sogar die untersten Äste des Kirschbaumes waren sonnenverhangen und beugten sich unter der Last der Erde zu. Perl blickte hoch. Auf dem Balkon fehlten die Pelargonien, die er gepflanzt hatte. Er klingelte erneut und horchte in die Wohnung hinein. Dort war die Stille von etwas, das sich nicht bewegte. Er nahm einen Werbeprospekt aus ihrem Briefkasten und setzte sich neben sein Fahrrad auf die kleine Vorgartenmauer.
„Ich warte“, dachte er und schaute sich die Hochglanzbilder an. Von Zeit zu Zeit spähte er nach beiden Seiten den Bürgersteig hinauf und hinab. Der alte Mann mit Krückstock fiel ihm ein und daß er fast gestürzt wäre.
Menschen gingen an ihm vorbei und zogen die Köpfe ein wie scheue Gewächse. Ein anderer redete sehr laut, und Perl starrte ihn an, bis er verstummte. Dann schaute Perl den Himmel an. Als es dunkel war, fuhr Perl ohne das Licht einzuschalten nach Hause.
Tags darauf stand Perl erneut vor ihrer Tür. Er hatte eine andere Zeit gewählt und klingelte in aller Frühe. An den Dachgiebeln hingen bereits die ersten Lichtverdickungen. Auf dem Balkon fehlten noch immer die Pelargonien.
Da riß die Frau die Tür auf.
„Geh endlich!“, schrie sie. „Laß mich in Ruhe!“
„Ich habe Blumen“, sagte Perl.
„Ich scheiß’ auf deine Blumen“, schrie die Frau.
Perl fühlte, wie sich etwas in seinem Kopf veränderte. Ein dumpfer Schmerz pochte hinter der Stirn.
„Was ist los mit dir“, sagte er und faßte sich ans rechte Ohr. „Geh!“ schrie die Frau. „Geh!“
Dann knallte sie die Tür.
Und mit dem Knall fiel Perl ein, daß er ihre Haare noch immer nicht geschnitten hatte. Er dachte an die Leiter, die seitlich vom Haus in der Wiese lag und sagte leise vor sich hin: „Eine Schere wird die Frau sicher haben.“
Er ging zu seinem Fahrrad und schloß es ab.