Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Richard David Precht (Bild: ORF - Johannes Puch)
Richard David Precht
Baader braun

    Der Philosoph Platon mochte die Dichter nicht. Er meinte, daß sie lügen.
    Das stimmt.
    Ich zum Beispiel lüge sehr viel.
    Ich lüge, wenn ich sage, daß ich nie-mals Geld aus dem Portemonnaie meiner Mutter genommen habe, wenn ich nach dem Einkaufen im Edeka ins staubige Postamt in der Kullerstraße ging, ein kleiner Raum mit einem einzigen Schalterbeamten bemannt und einem Schirmständer, den ich nie benutzt habe und einem schlaffen Philodendron mit gelben Rändern.
    Meine Tante, die gegenüber in der Metzgerei Teewurst und Rinderhack verkauf-te, sagt, daß ich viel zu oft ins Postamt gegangen bin. An der Wand hing der flache Kasten mit dem silberglänzenden Metall-rand, und der Schalterbeamte sagte
    – der Nächste
    und ich, während ich den Kopf zur Seite gedreht hielt, so daß ich den Kasten im Au-ge hatte und jede einzelne Marke darin durch meine Brillenglä-ser prüfen konnte, die Jederzeit-Sicherheit-Marken zuerst, den blaugrünen Schuh, der in den Nagel tritt wie auf einer Kinder-zeichnung und den karminrot zuckenden Blitz auf der Vierzi-ger, der wie das Kabel des Bügeleisens aussah, das auch ein Zickzackband hatte, wie eine Kreuzotter, (Gartenschläuche waren Nattern, Feuerwehrschläuche waren Boas), ich sagte
    – Zwei Siebziger, bitte
    obwohl ich keine Siebziger brauchte (Wer braucht schon Siebziger, auf jeden normalen Brief kommt eine Fünfziger). Ich brauchte sie nicht, ich wollte die Siebziger, Heinemann braun, aus dem Satz mit den einundzwanzig Hei-nemännern unter Glas an der Wand, das gleiche Gesicht, der gleiche Ausdruck, die Glatze, die Brille, der steife Nacken, der verletzliche Mund. Nur die Farben waren anders, das machte den Unterschied, der blaue Heinemann sah wirklich sehr nach Post aus, nach einfachem Anzug und korrektem Leben; der olivgrüne war säuerlich, der braune streng, ein wenig verbittert, der helle Vierziger blass wie Limonade.
    Der Allerbeste aber war der Neunzi-ger, purpurrot, wie ich ihn aus dem Michel-Junior-Katalog kannte, heroisch und würdevoll. Kein schnöder Postkasten, kein abgezählter Satz bot ihm einen passenden Rahmen, er war nur wenige Tage im Postamt zu haben gewesen, vor langer Zeit. Jetzt existierte er nur noch im Katalog und bei den Versandstel-len für Sammlermarken, kein Stempel konnte einen Neunziger entwerten.
    – Siebziger will ich.
    Der Schalterbeamte hatte nicht einmal aufgeschaut, seine Finger kramten den Bogen hervor und knick-ten die Marken ab, sein fester Handballen trennte sie sauber heraus.
    Und dann erst sah ich den zweiten Schaukasten, auf gleicher Höhe wie der erste, und dar-in das Plakat, all die Köpfe, die waren auch rot, sagte meine Mutter, wie die Neunziger, aber man konnte es nicht sehen, die Köpfe blickten finster, mehr schwarz als weiß, und ließen sich das Rot einfach nicht anmerken. Sie waren verschieden, nicht das gleiche Bild wie bei Heinemann. Beim erstenmal war der Satz noch komplett gewesen, alphabetisch geordnet, die Wert-vollen und die Wertlosen ließen sich nicht unterscheiden, aber die Würde der tiefroten Neunziger hatten sie allesamt nicht, das sah man wohl. Keinen davon hätte ich sammeln wollen, nicht einmal verraten, ich wollte überhaupt nichts damit zu tun ha-ben, noch bevor ich zu Hause hörte
    – das verstehst du sowieso nicht.
    Zu Hause, das war, wo die Mauersegler durch die Häuser-schluchten schossen, die schrillen Schreie nach Süden, die Heißmangel ihre breite weiße Zunge heraus streckte, meine Mutter mit Herrn Christians Rasen einsäte und Zementplatten verlegte um die Beete herum, ein Einsteckalbum neben das andere für Blumenzwiebeln, Tulpen, Narzissen und Hyazin-then, und auf Christians Balkon wuchs das Geißblatt an der Regenrinne bis zur Mansarde herauf, wo die Alben auf mich warteten mit den Marken, Jederzeit-Sicherheit und Gustav Hei-nemann.
    – So, junger Mann
    gab mir der Schalterbeamte die zwei kleinen braunen Köpfe, einen für mich und einen zum Tau-schen mit Herrn Christians, der schon im Hof auf mich wartete, das dicke Album auf den Knien und der leise Wind darüber hinweg, und man aufpassen mußte, wenn man die Marken mit der Pinzette herauszog, daß sie nicht wegflogen über die Stein-platten zu Diergards Farbenladen oder ins Kellerfenster der alten Albers, diesen schwarzen Schlund mit den Gerümpelzäh-nen davor, Blumenständer und Ölkannen schemenhaft wie eine Kohlezeichnung. Vielleicht flogen die Marken sogar noch wei-ter bis zum oberen Hof, wo Martin Lokotsch und Norbert Ol-schewski auf ihren Eisengeländerpferden am Kellereingang saßen und nach jedem erfolgreich abgewehrten Indianerangriff ihre heißgeschossenen Winchesters kalt pusteten.
    – Eine Mark vierzig.
    Meine Tante, die gerade aus der Metz-gerei gekommen war, sagt, daß sie genau gesehen hätte, wie ich das Portemonnaie geöffnet hätte und Geld herausgenommen und in die Hosentasche gesteckt habe.
    Das ist gelogen.
    Ich hätte das Geld nie vor der Post aus dem Portemonnaie genommen, schon aus Angst vor Türken und Rockern, die mir das Geld hätten entreißen können, oder dem dicken Mischke, der mir so oft auf dem Schulweg auflau-erte. Ich brauchte das Geld gar nicht herausnehmen, ich konnte es genausogut im Portemonnaie lassen. Ich brauchte es erst jetzt aus der Tasche zu kramen und eilig die Silbermünzen in den Drehteller zu schieben, wo sie lagen, viel zu lange, zu sichtbar und zu anklagend für meinen Geschmack, während der Schalterbeamte die dicke Ledermappe mit den Bögen darin schloß und gemächlich die behaarte Hand ausstreckte, das Geld teilnahmslos in die Kasse legte, während ich den Kopf wegge-dreht hielt, das Herz jagte und meine Augen an der Wand die Belohnung über den Köpfen studierten: Sachdienliche Hinwei-se zur Ergreifung.
    – Ist noch was?
    Ich wollte keine Belohnung. Ich würde sie ohnehin nicht kriegen. Wahrscheinlich war sie eine Falle, ein Trick, so anrüchig und unglaubwürdig wie die Lotto-Gewinn-Schecks im Briefkasten, von denen meine Mut-ter sagte, daß das sowieso nur Werbung sei. Aber ich, ich war wirklich, und ich hatte das Geld genommen, etwas Unrechtes getan, das wußte ich wohl, als ich mich wegdrehte und schwei-gend aus dem Postamt ging und mich das helle Licht draußen anstrahlte, das alles an den Tag bringt, in dem Herr Pollack seinen grünen Audi wusch, Herr Pollack mit dem Schnauzbart und der Kunstlederjacke, den keiner mochte und mit dem kei-ner redete, die Seifenschlieren über den Asphalt liefen und hinter der Toreinfahrt Herr Christians auf der Treppe hockte und auf mich wartete, wie ich die heißen 70er in den Hof trug
    – die Marken dabei, Ro-bert?
    Er begutachtete kurz die Gummierung, leicht gelb und ganz unversehrt, er konnte die Marken gebrauchen, auf seine großen Briefe kleben. Die ge-stempelten Lübkes, die er mir gab, die 30er Philatelistentag Garmisch-Partenkirchen und 20 Jahre Vertreibung waren mehr als genug dafür. Und so saßen wir in der Sonne, zwei Männer, die das Ihre getan hatten, aus der Heißmangel kam Dampf, und ab und zu kreischte es in der Luftballonfabrik. Ich blinzelte ins Licht und zu Herrn Christians hinüber und war froh, etwas Gleichwertiges zu besitzen, etwas, wofür es sich wirklich ge-lohnt hatte, Unrecht zu tun.
   
    Das Jahr 1977 war ein guter Jahrgang, die 140er Europaparlament Strassburg in wenigen Wochen ausverkauft, ich kaufte Jean Monnet postfrisch und mit dem Geld aus dem Portemonnaie meiner Mutter auch den wunder-schönen Jugendstil-Block. Ein heißer Herbst stand bevor, und ich, wie alle wahren Philatelisten, freute mich über den schnel-len Anstieg der Werte. Mein Opa Herbert aber schlug mit der fleischigen Pranke auf die selbstgezimmerte Theke seiner Hausbar
    – kurzen Prozeß, sage ich
    und dann nochmal, laut ge-brüllt, daß es durch alle Räume der Villa dröhnte
    – aber ganz kurzen Prozeß
    während er den Whisky runterspülte, die schwere Linke auf den großen schwarzen Zeitungslet-tern
    – der Schleyer, das ist für mich ein Held, ein Held ist der.
    Die halbentblößten Brüste der Zigeunerin im Holzrahmen vibrier-ten, und meine Mutter, erschrocken, viel zu erschrocken, mur-melte jetzt nur noch sehr leise, daß man die Umstände doch gar nicht so genau wüßte.
    Aber Opa Herbert brauchte keine Umstände. Er wußte genug über die Terroristen und seinen Helden, den Schleyer, diesen häßlichen Kopf, der leicht verknittert unter seiner Faust verschwand und der überhaupt nicht wie ein Held aussah, eher wie Opa Herbert selbst, der für mich niemals ein Held war, auch nicht, wenn er wie so oft vom Krieg erzählte und diesen letzten Zigaretten, die man sich da sterbend geteilt hatte.
    Opa Herbert dagegen lebte noch immer und rauchte einfach weiter. Ich sah meine Mutter, die Schultern eingesunken, und ich wußte erst recht, daß dieser Schleyer kein Held sein konnte, wobei die Ritter mir von den staubigen Bierkrügen auf dem dunklen Regalbord zunickten, die leuchtenden Landsknechte auf den Kristallglashumpen, die schwere Kupferlampe und der übervolle Aschenbecher sich in der Scheibe spiegelten und draußen die Dunkelheit sich bleigrau über den Fluß senkte.
    – ein Held, sag ich.
    Meine Mutter blickte jetzt auch hin-aus, das Vogelfutterhäuschen mußte ihr den Blick auf das Was-ser nehmen, keine kleinen Vögel, nur ausgefranste Krähen noch in der Dämmerung
    – die ganze Bande, ex und hopp
    Ich hörte sie seufzen. Sie tat mir leid, die Landsknechte pressten die trotzi-gen Lippen aufeinander, die Zigeunerin lächelte mir aufmun-ternd zu, bis mir klar wurde, was sie von mir verlangten, daß ich mich für sie einsetzte, die Unterdrückten, für meine Mutter, mit der vergessenen Zigarette in der reglosen Hand, die nicht gegen ihren fleischigen Vater ankam, nie angekommen war und jetzt nichts anderes konnte als schweigen und aus dem Fenster sehen.
    Ich aber hatte das Signal gehört und verstanden, daß etwas Unrechtes vorging und daß meine Mutter Hilfe brauchte gegen diesen Menschen, der mein lieber Opa sein wollte und doch nur diese drohend erhobene Faust war, die einem Bulldozer gehörte, der meiner Mutter eine sehr alte Angst machte, ich sagte
    – ich finde die gut.
    Opa Herbert, den stieren Blick auf mich gerichtet, flüsterte heiser
    – wen?
    Die Leere einer nie gekannte Stille.
    – die Terroristen, sagte ich.
    Die bunten Landsknechte gefroren in ihrem ewigem Eis und regten sich nicht mehr, die Zigeunerin lächelte nicht mehr so einla-dend, mein Opa aber, das Whiskyglas in der plötzlich gelähm-ten Hand, blickte mit offenem Mund wie irre geworden in eine unverständliche Welt, in der meine Mutter nun aufsprang, mich streng und dramatisch an der Schulter fasste
    – du mußt jetzt nach Hause
    obwohl es noch nicht sieben Uhr war
    – sofort nach Hause
    mir Geld für den Bus gab, irgendetwas rasch in die Hosentasche gesteckt, die Tür aufriß, mich hinaus-schob in den dunklen kalten Abend, die Haustür schlug zu, und Hunderte von Krähen flogen jetzt über den Fluß zum Bahnhof hin, Geächtete wie ich, überzählige Werte, aussortiert aus der Welt der Gerechten. Ich beachtete meine Tränen nicht, die jetzt ungehemmt flossen, weil meine Mutter nicht hatte sehen wol-len, was ich für sie getan hatte, weil sie zu schwach gewesen war, dachte lieber an die Terroristen, die auch keiner verstand, während ich zur Haltestelle lief und dem Haus meines Opas den Rücken kehrte, dem Reich ungezählter Patentantennassküs-se in geblümten Betttüchern, Schokoladenosterhasen in gehark-ten Vorgärten, dem Katalog des Guten, aus dem ich verbannt war und nun für immer verbannt sein würde.
   
    Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten. Ich wußte, daß ich das Richtige getan hatte, wußte, daß es kein Zurück mehr gab. Meine Welt hatte sich verändert, ich war erwachsen ge-worden und bereit, weiter und weiter zu gehen auf meinem neuen Weg. Ich entwarf einen Terroristen-Satz mit den Namen aus der Zeitung und von den Plakaten, 40er Rasspe orange, 50er Ensslin rot, 60er Krabbe violett, 70er Baader braun, immer wieder tauschte ich die Namen und Werte, bis ich für jedes Gesicht die passende Farbe fand.
    Die Terroristen lebten in meinem Zimmer wie in einem Ein-steckalbum, hatten hier einen sicheren geheimen Unterschlupf. Draußen auf der Straße aber machten sie derweil alles anders. Selbst das Wetter war anders, mehr Krähen, und es regnete weniger.
    – Es regnet nicht mehr
    sagte der Metzger in der Metzgerei, meine Tante hatte Stullen geschmiert, die ausgehungerten Topfpflanzen im Fenster hingen aus ihren grünen Faltpalisaden, der Metzger sortierte Gulaschwürfel, aus dem Transistorradio kam Neues von den Terroristen.
    Ein Gutes hatten die Terroristen, die Leute hatten jetzt ein Thema, über das sie miteinander sprachen, aber stets leise, ir-gendwas war unanständig dabei, und vielleicht mußte man so-gar Angst haben, manche Leute sagten, sie hätten Angst.
    Die Leute waren jetzt die Guten, alle bis auf Herrn Pollack, mit dem noch immer keiner redete. Selbst meine Tante war gut, sie fühlte sich bedroht und zu dem Metzger hingezogen, der katholisch war und sich wie sie um den Papst sorgte
    – der nächste wird ein Neger
    Vielleicht mußte man jetzt auch den Metzger entführen, dachte ich, fett und mit Trä-nensäcken unter den Augen wie der Schleyer, vielleicht mußte ich den Metzger entführen.
    – ein Schwein dachte ich
    die Hände des Metzgers noch voller Reste von Gehacktem, versprenkelten Tupfen, das Rote unsichtbar auf der rosigen Haut, nur weiße Flocken, die man sehen konnte
    – erst schießen, dachte ich, wenn du das Weiße auf seinen Hän-den siehst
    den Händen des Metz-gers, der jetzt ein großes Haus baute, gegen die Terroristen, die Neger, sicher und wuchtig
    – ein Neger, gräßlich.
    Überall am Stadt-rand entstanden Neubau-Siedlungen, die Leute zählten ihr Geld und flüsterten, man wußte ja nie, wegen der Terroristen. Die wilden Felder meiner Kindheit voll Flughafer und Klatschmohn verschwanden, ein zugeklapptes Märchenbuch, die Bagger kamen und Kräne und hoben grauenvoll wirkliche Löcher aus. Wenn die Leute schon sterben mußten, dann wollten sie es wenigstens in ihren eigenen Gärten tun, zwischen Glasbaustei-nen und Rittersporn und der Garagenwand aus künstlichem tiefschwarzen Schiefer.
    – Und die Marken, Junge?
    Der Metzger war freundlich, er wollte die Tante
    – Peng! Peng!
    zuckte der Zeigefin-ger. Ich schwieg, blickte finster in die Auslage, Rindskopfsülze, Zungenwurst, Feldpost-Briefe sammelte der Metzger, Böhmen und Mähren und Generalgouvernement. Er würde seine Mar-ken nicht brauchen, dort wo ich ihn verstecken würde, im Ge-strüpp hinter der Unterführung am Schaberger Bahnhof. Aber auch ich würde meine Marken nicht mitnehmen können in mein neues Leben, dieses Leben, das mir bevorstand, wenn ich erst in den Wäldern an der Müngstener Brücke lebte.
    Der Metzger war weg, hinten in der Schlachtstube.
    – Ich hab dich gese-hen, vor dem Postamt, zischte die Tante leise und barsch, den Mund faltig gespitzt, ein böser Trichter, wie bei Annette Kolb, Bedeutende Frauen, die 30er braun.
    Warum konnte ich keine Tante haben, weich wie Blütenschnee, eine Tante wie Gertrud von le Fort in wunderschönem Blau, die seltene 70er?
    Ich liebte Gertrud von le Fort.
    Ein phantastischer Name.
    – Wenn ich das deiner Mutter erzäh-le
    Aus der Schlachtstube kam kur-zes Klacken, Schlag auf Schlag.
    – Sag’s doch, sag’s doch
    Ich war illegal, für mich galten keine Vorschriften mehr, keine Gesetze, ich war auf der anderen Seite.
    Meine Tante presste die Lippen aufeinander wie mit Uhu ver-klebt, kein Wort mehr. Der Metzger kam zurück, Blut auf der Schürze, die Augen wässrig und leer wie ein Hund, einer, der mehr Glück als Verstand hatte.
    – Schwein gehabt
    Ich drehte mich um, die Augen zu Schlitzen gezogen, und lächelte vieldeu-tig.
   
    Ich kannte keine Angst mehr, ich war nicht allein, nur manch-mal, wenn ich mir einen Vater wünschte, einen, der uns nicht verraten würde, der bei meiner Mutter und mir blieb, oder wenn ich mir Nachts dann doch ausmalte, wie meine Tante mit mei-ner Mutter redete, ihr von ihrem Sohn erzählte, der sie beklau-te, merkte ich, wie etwas heiß in mir wurde. Ich versuchte an die Terroristen zu denken, kaltblütig, ich faßte meinen Puls, zählte die Schläge und beruhigte mich, die Hitze ver-schwand.
    Weil alle Leute Angst vor den Terroristen hatten, verfolgten sie sie in den Nachrich-ten. Ringsum wurde davon geredet, auch auf dem Schulhof, der dicke Mischke wußte alles darüber, er konnte sogar gleichzeitig in die Pissschale pinkeln und davon berichten. Ich stand daneben, wie ich in der Schule immer daneben stand, aber diesmal noch weiter entfernt als sonst.
    Eine Stunde später saßen wir im Deutschunterricht, wo Brigitte Warnke, von der es hieß, daß sie schon einen Busen hätte, soeben das erste Mal rübergeschaut hatte, weil ich den Bleistift weit herausstehend ins Federmäpp-chen geklemmt, sehr englisch
    – Roger
    hineinfunkte. Und nun ein zweites Mal, weil ich ins Federmäppchen raunte
    – den Schleyer? Erschiessen? Geht in Ordnung.
    Das Lächeln auf dem Gesicht meiner Lehrerin gefror.
    – Jetzt wird aufgeräumt
    sagte ich, lauter jetzt und in die ganze Klasse hinein
    – weg mit den Schweinen. Der Baader, der räumt auf, der Rasspe auch und der Stoll.
    Ich verteidigte die Terroristen so laut-hals, daß meine Lehrerin, die schon dreizehn Jahre in der Schu-le war und damit dreizehn Jahre zu lang, die ersten Anzeichen echter Betroffenheit erkennen ließ.
    – die knallen alle ab, sagte ich kopfnickend.
    Meine Lehrerin starrte noch immer fassungslos, Brigitte Warnke aber hing an meinen Lippen. Kei-ner sagte ein Wort, nie hatte man mir so zugehört
    – jetzt kommt die Gerechtigkeit, sagte ich ruhig und kalt.
    Der dicke Oliver Mischke brüllte jetzt, die Gunst der Stunde nutzend, in die Klasse
    – aufhängen, aufhängen!
    und in das blasse Gesicht meiner Leh-rerin hinein
    – alle Terroristen an den Baum!
    brüllte weiter unter dem Gegröle meiner Mitschüler, weil endlich mal was passierte
    – hängen, hängen, den Robert auch!
    Meine Lehrerin aber, die nie etwas anderes von Gerechtigkeit wußte als die gefriergetrock-nete Moral in dem Reclamheftchen vom Ja-Sager und dem Nein-Sager
    (ich habe nie einen solchen Blödsinn gelesen)
    führte mich, den einzigen und wahren Ja-Sager,
    – hängen, hängen!
    den weiten Weg durch die phantasie-verlassenen Flure zwischen all den Schluchten aus Waschbe-tonwänden hindurch bis ins Direktorenzimmer ab, während ich nur die großen teilnahmsvollen Augen von Brigitte Warnke vor mir sah, das Geodreieck am staunenden Mund
    (sie hatte wirklich schon einen Bu-sen)
    und tapfer, noch ganz der Held, der ich soeben vor ihr gewesen war, der versammelten Weltsicht des aufgebrachten Direktors trotzte, der mir als erstes die Hände aus den Hosentaschen abverlangte
    – das kann ich mir denken, bei dem da, gerade bei dem
    und natürlich schon vorher gewußt hatte, was ich für einer bin, so daß ich nur eine Trommel für ihn war, aus der er Stück für Stück Lose heraus-zog, auf denen er die passende Nummer zu meiner Tat suchte, den absoluten Hauptgewinn, sachdienlichen Hinweis zur Er-greifung, bis ich mir zu meiner soeben entdeckten Terroristen-gesinnung tatsächlich den Revolver herbeiwünschte, trotzig, standhaft und purpurrot wie eine 90er Heinemann.
   
    Auf der Straße lag Laub, ein modriger süßer Geruch, etwas, das atmete, gemeuchelt von der Kälte, aber erst später hinter dem Friedhof kamen mir die Tränen über all die Ungerechtigkeit der Welt. Ich ging durch die Moltkestraße, um die Bismarckstraße machte ich einen Bogen, zuviele Rocker, die vor dem stillgelegten Eis-café Venezia auf zwölfjährige Schulkinder lauerten, ging lieber am Schaberger Bahnhof entlang, den versteckten Weg vorbei am Schlachthof aus blutwurstroten Ziegeln und den Gesenk-schmieden mit ihrem biblischen Eisenschrott, der Messerfabrik mit den untersetzten mürrischen Arbeitern im Hof mit Kinnbär-ten und großen schwarzen Hunden. Ich sortierte den ganzen geheimen Terroristen-Satz einschließlich der Ergänzungswerte im Kopf durch, bis ich mir ganz sicher wurde, eine kalte sichere Ruhe, die ich nach Hause trug, eine Klarsichthülle, die mich verschloss, als ich von meiner Mutter hörte
    – Bist du nun völlig verrückt gewor-den?
    Auf dem Tisch lag die A-bendzeitung, sie hatten ein Flugzeug entführt, meine Terroris-ten, die jetzt überall waren, ein Flugzeug das „Landshut“ hieß
    – Landshuter Fürstenhochzeit, Landshuter Fürstenhochzeit
    flüs-terte ich, die Sondermarke, eine 50er mit den verwegenen Rit-tern darauf, Kämpfer wie die Landsknechte auf den Kristallglä-sern über Opa Herberts Hausbar, an die ich noch dachte, als ich um sieben in Christians’ Wohnzimmer in den riesigen violetten Polstersesseln saß und mit den Christians-Kindern „Rauchende Colts“ guckte. Natürlich tat ich so, als ob ich nichts wüßte.
    Aber ich wußte es. Nur ich allein. Ich wußte Bescheid.
    Die Terroristen gingen nach den Marken vor, das Jahr 1975, den Schleyer hat-ten sie für den Hans Böckler genommen, 40er grau/grün, dann die Landshut-Marke, und bald schon würden sie in Mainz zu-schlagen, 1000 Jahre Mainzer Dom kam als nächstes. Ganz unheimlich wurde mir zu Mute, wie langweilig erschienen mir mit einem Mal die „Rauchenden Colts“, ich wußte jetzt, was ich zu tun hatte, ich mußte nach Mainz fahren in den Dom. Zuhause im Bett schlug ich den Diercke-Schulatlas auf, fünf-zehn Zentimeter mit dem Lineal waren dreihundert Kilometer in echt, irgendwie mußte ich das schaffen, hinzukommen und Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Ich war sicher, daß es mir gelingen würde, wenn ich nur irgendwie nach Mainz kam, am nächsten Sonntag vielleicht, wenn keine Schule war. Draußen auf dem Hof schepperte ein Garagentor, der Lack des grünen Audi spiegelte unter der Straßenlaterne, Herr Pollack ver-schwand in seinem Auto, der Motor rasselte.
   
    Am nächsten Morgen war alles vorbei. Holger Christians freute sich
    – vielleicht gibt es schul-frei
    Die Terroristen waren tot.
    Erschossen. Die Bilder in der Zeitung waren schrecklich, das Flugzeug, zerfetzte Leichen. Baader, Ensslin, Rasspe auf der ersten Seite der Zeitung waren auch tot. Herr Pollack war nicht mehr da.
    – Verhaftet, flüsterte meine Tante.
    – Geholt, den Pollack, nickte der Metzger beim Frühstück in der Metzgerei.
    Mir wurde flau, ich konnte nichts essen
    – Jetzt räumen sie auf, und zwar gründlich, der Metzger kaute mit Genug-tuung
    Wenn sie gründlich aufräum-ten, würden sie wohl auch mich holen. Die Klassenlehrerin würde mich verpfeifen, hatte mich vielleicht schon verraten, oder der Direktor, der dicke Mischke war längst bei der Polizei gewesen und meine Tante auf der Wache, hatte es längst bestä-tigt.
    – Er hat immer das Geld aus dem Portemonnaie seiner Mutter genommen.
    Ich war verloren.
    – Für Briefmarken, er hat alles für Briefmarken ausgegeben.
    Sie hat-ten mich.
    – Er hat immer zu allem „Nein“ gesagt, selbst zu Brecht, versicherte meine Klassenleh-rerin.
    Aus, alles aus.
    – Er hat einen Revolver, behauptete der Direktor.
    Die Polizisten hatten die Stirn gerunzelt. Immerhin, ich war minderjährig.
    – Er hat nie etwas Unrechtes getan, glauben Sie mir, log meine Mutter und schielte traurig ins Por-temonnaie.
    – Es ist nur, weil er keinen Vater hat.
   
    Ich brauchte keinen Vater, ich brauch-te ein Alibi. Der Schleyer war tot. Am nächsten Tag im Radio. Erschossen aufgefunden in einem grünen Audi.
    Es gab kein schulfrei.
    Meine Angst blieb, verebbte nur lang-sam.
    Die Tage vergingen.
    Herr Pollack tauchte wieder auf und wusch seinen Wagen, so als wäre nichts gewesen.
   
    Im Post-amt wurde das Porto erhöht, und die ersten Heinemänner mit falschem Wert wurden heraussortiert. Der Satz franste aus und verkürzte sich, auf violette 60er Marken folgten jetzt blaugrüne 80er. Auch die Terroristen wurden weniger, aber sie kamen nicht zu den Versandstellen, sie wurden durchgekreuzt: Stoll, Speitel, Knoll, van Dyck. Nach und nach kamen Kreuze auf die Gesichter, sie galten nicht mehr, einfach durchgekreuzt, wie im Michel-Junior-Katalog mit den vorgedruckten kleinen Kästchen zum Abstreichen.
    Ich fragte mich, an welchem Ort sich dieser Satz wohl vervollständigte, in den Gefängnissen oder besser noch auf den Friedhöfen. Ich stellte mir vor, wie man die Terroristen alle auf den selben Friedhof und nebeneinander in die Gruben legte, daß sie wenigstens hier einmal komplett waren in einer Reihe, jeder an seinem Platz, streng geordnet nach Alphabet und Alter oder nach ihrem Wert.
   
    Sie hatten mich nicht geholt. Es gab Lehrermangel, ein langes halbes Jahr hatten wir Sport mit den Mädchen und ich hüpfte mit Brigitte Warnke rot wie ein Truthahn über einen antiken Turnkasten mit ranzigem Lederbezug. Ich vergaß Gertrud von le Fort. Ich erfuhr zu Hause, daß Herr Pollack in Wahrheit nicht Pollack, sondern Jenusch hieß, und in der Schule, daß es einen neuen Papst gab, der aber wieder mal kein Neger war, dafür ein Pole wie Herr Jenusch, aber was wußte ich schon davon.
    Alles, was ich wußte, war, daß ich eines Tages mal wieder draußen auf der Straße stand, auf der es nach Abgasen und Gestern roch, weil alles wie immer war. Wieder dachte ich an Brigitte Warnke, wie sie beim Sport in ihrer schwarzglänzenden Stretchhose federweich über den Kas-ten gebeugt ihren Po dichter vor mich schob als jede Wirklich-keit, als Herr Christians aus dem Haus kam und Möbel in die Morgensonne stellte, den Blumenständer aus dem Hobbykeller und den Partytisch und augenzwinkernd fragte
    – was machen die Marken?
    Brigitte Warnke verschwand augen-blicklich, die Marken, was sollten sie tun
    – weiß nicht
    was hieß, daß ich älter geworden war, obwohl noch immer so viel jünger als Herr Christians, daß ich ihm das nicht sagen konnte.
    Eine Zeitlang standen wir noch ohne Thema im Hof, und Herr Chris-tians stellte weiter den Sperrmüll an die Straße, die ganze vio-lette Polstergarnitur, und ich rauchte dazu, unbeteiligt und älter. Die Mauersegler schossen noch immer durch die Häuser-schluchten, die schrillen Schreie nach Süden, die Luftballon-fabrik kreischte, die Heißmangel schob ihre breite weiße Zunge heraus wie früher, und auf Christians Balkon wuchs das Geiß-blatt.
    Aber es war nicht wie früher; es war das Ende. Ich hatte aufgehört, Kleingeld aus dem Porte-monnaie meiner Mutter zu nehmen, Lokotsch und Olschewski waren von ihren Eisengeländern am Kellereingang herunterge-klettert, und auch die Terroristen erschossen nun niemanden mehr. Es gab eine neue Dauerserie, Burgen und Schlösser. Wir zogen an den Stadtrand in ein Einfamilienhaus. Die 80er Jahre kamen. Es wurde Zeit.
   
   
    Richard David Precht