Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Arne Roß (Bild: ORF - Johannes Puch)
Arne Roß
Pauls Fall

Paul fuhr herum, suchte mit seinen Blicken die Uhr, fand sie über der Küchentür, verweilte so, kauernd fast, drehte dann den Kopf langsam zurück und schaute wieder durch das schräg geöffnete Fenster hinaus, die Ellenbogen auf die Zeitung gestützt und vorgebeugt. Draußen war kein Mensch zu sehen, ein paar Blätter lagen auf der Straße und in der Einfahrt, ein schwacher Wind wehte darüber hinweg. Der alte Mann seufzte, setzte sich zurück und rieb seinen Ellenbogen. Er las weiter.
       
        Um kurz nach zwölf sah er ein zweites Mal auf die Uhr. Einige Minuten verharrte er so, bis sich sein Gesicht verzerrte und er den Kopf vorsichtig zurück zum Fenster drehen musste. Der Dunst hatte sich ein wenig davongemacht, von Wolken war nichts zu sehen. Ein Streifen Sonnenlicht lag auf dem Küchentisch.
       
        Zwanzig Minuten später wandte er sich ein drittes Mal um, hielt es aber nicht lange aus, die Zeiger mit seinen Blicken voranzutreiben. Er nahm seine Beine unter dem Küchentisch hervor und machte es sich, nach einer halben Drehung auf dem Stuhl, mit direktem Blick auf die Uhr bequem. Von der Uhr schweifte sein Blick durch die Küchentür zum Flur und durch den Flur ins Schlafzimmer und im Schlafzimmer zum Bett und neben das Bett zum Nachttisch mit dem Wecker, der Taschenlampe und dem aufgeschlagenen Buch, das auf einer das Holz schützenden Glasplatte lag, und in der Glasplatte bewegte sich etwas, Sekundenbruchteile bloß, durch den gespiegelten Fensterhimmel.
       
        Er wartete, bis ein zweiter Schatten durch das Glas huschte, er hörte Flügelschlagen. In der darauffolgenden Stille schloss er die Augen und massierte seine Stirn, die mehr als zuvor in Falten lag. Er öffnete die Augen wieder, vergewisserte sich mit einem raschen Blick auf die Uhr, wie spät es war, kurz nach halb eins, schwang seinen Körper zurück vor den Küchentisch und schaute aus dem Fenster.
       
        Vor dem Haus stand eine junge Kastanie, die noch nicht viele Blätter verloren hatte und dem alten Mann mit der Kraft des an diesem Tag zur Verfügung stehenden Lichtes auf die Zeitung leuchtete. Gegenüber der Kastanie wuchs im Schatten zweier gelbverfärbter Lärchen ein Essigbaum, dessen Blätter teils die Einfahrt, teils die umliegenden Beete bedeckten, nur seine dunkelroten Spitzen lagen in der Sonne, deren Licht inzwischen vom Küchentisch auf die Fensterbank gewandert war, dieses wie der Tag und die Luft unversehrte Licht. Und die Luft strömte durch das schräg geöffnete Fenster herein, sie roch nach einem letzten milden Tag im Herbst, sie trug die Sonnenstille der Straße ins Haus.
       
        Er blieb am Küchentisch sitzen und schaute in die Zeitung, ohne umzublättern und ohne sich noch einmal seiner Zeit zu vergewissern. Der Wind frischte auf, die hängenden Zweige der Birke vor dem Haus auf der anderen Seite der Straße begannen zu tanzen. Die hereinstömende Luft bewegte eine Ecke der Zeitung, und er schob seine Hand darüber. Das Geräusch verschwand. Die Zweige der Birke hingen jetzt reglos herab. Über ihnen, in großer Höhe, flog ein Flugzeug vorbei, schnell und kaum hörbar. Es verschwand hinter dem schwarzen Dach des gegenüberliegenden Hauses.
       
        Er zog die Hand zurück und begann aus dieser Bewegung heraus über die Zeitung und den Küchentisch zu streichen, immer wieder, von links nach rechts, und vorsichtig, als wolle er sie nicht richtig berühren. Dann seufzte er auf, griff mit der linken Hand nach einem roten Kugelschreiber, drückte die Mine aus dem Gehäuse und fuhr fort zu lesen. Nach ein paar Sätzen hielt er inne, nahm den Kugelschreiber in die rechte Hand und setzte ihn vorsichtig, mit zittrigen Fingern, auf das Papier. Er begann, das, was er schon gelesen hatte, zu unterstreichen, kam bald weiter, unterstrich und las jetzt gleichzeitig, immer schneller, drückte fester auf, und seine Finger klammerten sich an den Kugelschreiber, als ziehe dieser sonst ohne sie fort. Dort, wo es ihm gelang anzuhalten, riss das dünne Papier der Zeitung auf.
       
        Als er fertig war, zog er einen blauen Kugelschreiber hervor, setzte, weil er fast alles unterstrichen hatte und sich im Roten nicht mehr zurechtfand, an, ein zweites Mal durch den Artikel zu gehen, hielt abermals inne und schaute auf das Bild in der Mitte. Es zeigte den aus großen weißen Steinen gemauerten Rohbau eines Einfamilienhauses, in dessen Dachstuhl ein Zimmermann arbeitete. In der Aussparung für die Haustür, vor einem langen Brett, das den noch treppenlosen Eingang überbrückte, saß ein struppiger, weißer Hund mittlerer Größe, er hatte die Ohren gespitzt und schaute aus dem Haus, das im Hintergrund eingerahmt war von zwei Pappeln in vollem Laub, zurück zum Betrachter.
       
        Paul hob den Kopf, und während er nun wieder aus dem Fenster sah, tastete er über die Zeitung, stieß gleich gegen eine flache Erhebung, zog, ohne hinzusehen, ein altes Holzlineal unter der Zeitung hervor, beugte sich nach vorn und beobachtete den Weg, der hinter der Kastanie zum Haus führte. Er verharrte so und horchte. Er hörte eine Autotür zuschlagen, er hörte einen Motor. Einige Augenblicke später fuhr ein Auto langsam und fast lautlos am Küchenfenster vorbei, der Fahrer beugte sich über den Beifahrersitz und grüßte den alten Mann. Er grüßte nicht zurück.
       
        Jedoch erhob er sich jetzt, um einen besseren Blick auf den Plattenweg zu haben, er beugte sich, auf den Küchentisch gestützt, weit vor. Jenseits des Weges reichten die Beete, bepflanzt mit Rosenstöcken und in der Mitte unterbrochen von einem Gartenzaun, bis zum Nachbarhaus, von dem er den vorderen Teil sah, davor eine Katze, die an etwas heranschlich, was außerhalb seines Blickfeldes lag. Von der Straße aus betrachtet unterschied sich sein Haus nicht von dem seines Nachbarn, das weiße Holz, das die inneren Mauern verkleidete, das schwarze Dach, der Sockel mit den Kellerfenstern, in die Jahre Gekommenes, Fertiges.
       
        Wie bei dem alten Mann war das Küchenfenster des Nachbarn nach innen gekippt, und so saß auch dieser am Küchentisch und las in der Zeitung, nur der Streifen Sonnenlicht auf dem Küchentisch hielt sich dort länger als hier.
       
        Der alte Mann setzte sich wieder hin, legte das Lineal aus der Hand und drehte sich zur Uhr, es ging auf eins zu. Aber das half nichts. Er stand erneut auf, verließ sogar seinen Platz, ging zu dem Kalender, dem der Gaswerke, der neben der Küchentür hing, nahm das rote Rähmchen und steckte es vom achtzehnten auf den neunzehnten Oktober, einem Sonntag, ließ es aber nicht los, zog es sogar zur Hälfte wieder heraus und schob es doch zurück.
       
        Neben dem Kalender hing eine kleine Pinnwand aus Kork, er studierte dort einige Termine, die unter der Abkürzung ‚G.‘ und dem Wort ‚Landfrauen‘ auf einem karierten Zettel verzeichnet waren. Langsam fuhr er mit dem linken Zeigefinger über die Zahlen des Zettels, ohne innezuhalten, dann, über dem Termin des 20. Oktobers, ließ er ihn fallen, als sei er über eine Grenze hinausgeraten.
       
        Der Zeigefinger hatte einen defekten, krallenartigen Nagel, und die Haut der Fingerkuppe sah aus wie etwas stümperhaft Genähtes, Falten, die nicht mehr zu glätten waren, und mit diesem Finger kratzte er sich nun am Kopf, er schaute sich in seiner Küche um, die gelben Hängeschränke zu beiden Seiten, sein Platz am Fenster, die Spüle mit dem Frühstücksgeschirr, der Herd, der Kühlschrank, die Pinnwand mit den Terminen, der Kalender, der Stuhl neben der Küchentür, die Uhr darüber, der Brotkasten, die Brotschneidemaschine, die Durchreiche zum Wohnzimmer, sein Platz, und wieder zurück, bis sein Blick durch die Küchentür in den Flur schlüpfte und von dort ins Schlafzimmer, wo Staub träge durch einen jetzt hereinfallenden Sonnenstrahl trieb, ein Lächeln fuhr über sein Gesicht.
       
        Da saß er wieder und unterstrich die wichtigsten, schon rot unterstrichenen Passagen des Artikels noch einmal mit Blau. Er drückte fest auf, sah, wenn er den Kugelschreiber absetzte, seine Hand zittern, gelegentlich rutschte er ab. Aber er war beruhigt, dass er konzentriert arbeitete, ohne aus dem Fenster zu schauen. Erst als draußen der auffrischende Wind die Kastanie schüttelte und die Gärten und die Straße mit dem Geräusch fallender Blätter, Früchte und Zweige belebte, hob er den Kopf, roch etwas - und sprang auf, knickte um, und humpelte zum Backofen neben der Spüle, öffnete ihn und rettete den Kuchen.
       
       
       
       
        Als sie heimkam, saß er immer noch am Küchentisch und guckte aus dem Fenster. Von hinten sah er aus, als habe er geschlafen, sein Haar war zerzaust, sein Hemd hing aus der Hose, der Kragen war ohne Krawatte. Was machst du da, fragte sie verwundert und stellte die Einkaufstasche auf den Stuhl neben der Tür. Er reagierte nicht. Er ließ sie die Sachen auspacken und in den Kühlschrank stellen, er ließ sie sagen, ich habe den Joghurt vergessen, kannst du ihn nachher besorgen, du wolltest doch sowieso nochmal raus, er ließ sie reden. Er schaute aus dem Fenster, strich mit der Hand über den Küchentisch und schwieg. Er hörte, wie sie ihre Einkaufstasche in der großen Schublade unter der Brotschneidemaschine verstaute. Soso, sagte er auf einmal, wann soll ich das denn noch machen? Sie antwortete nicht, sondern pfiff, während sie das Brot in den Brotkasten legte, im Flüsterton eine kleine Melodie vor sich hin. Hörst du, sagte Paul, Gerda? Aber sie war schon auf dem Weg durch den Flur, er hörte sie die Kellertür öffnen und hinuntergehen, ihr Pfeifen verschwand. Kurz darauf fiel etwas zu Boden, es gab einen trockenen, metallischen Laut. Dann kam sie wieder herauf, zog ihre Steppjacke aus, hängte sie in die Garderobe neben dem Spiegel im Flur, und ging ins Bad, wo sie sich die Hände wusch, sie machte sich frisch. Er hörte sie die Badezimmertür schließen, es war plötzlich still.
       
       
       
       
        Was ist los, Paul? Er erschrak. Gerda stand neben ihm, mit ihrem Portemonnaie, das sie in die Küchentischschublade legen wollte, aber er saß davor und blickte sie nicht an, er schaute aus dem Fenster. Komm, mach mal Platz, sagte sie, beugte sich zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, auf die Falte zwischen den Augenbrauen, die er sich eben noch gerieben hatte. Du schwitzt ja, sagte sie, ihre Brille war ein bisschen beschlagen. Du hast dein Strickhütchen noch auf, sagte er mit Blick auf die Zweige der Birke, die hin- und herschwangen, ich habe stundenlang auf dich gewartet, ich wollte längst weg sein. Er nahm ihr das Portemonnaie aus der Hand, wollte aufstehen und der Schublade Platz machen, aber Gerda berührte ihn plötzlich am Arm. Und was ist mit dem Kuchen, fragte sie erschrocken. Er zeigte zum Herd. Da steht er doch, antwortete er, den hab ich gerettet, du hast den Wecker doch nicht gestellt, du wolltest um zwölf wieder zuhause sein. Er zog die Schublade mit einem Ruck auf, warf das Portemonnaie hinein und stieß sie wieder zu. Warst du zwischendurch eigentlich mal da? Sie lächelte ihn an. Hörst du? Bisschen dunkel, sagte sie, aber es geht, auch ohne Zuckerguss.
       
        Während sie das Frühstücksgeschirr abwusch, blieb er sitzen und drehte seine Teetasse in den Händen, die wasche ich selbst ab, sagte er zum Fenster hin. Auf die Tasse waren ein paar dunkelgraue, bläulich schimmernde Fledermäuse getuscht. Eine von ihnen flog von innen her hinaus zum Henkel. Eine andere hing darin und schlief. Die dritte flog an der äußeren Wand hinauf, und er verfolgte ihren Flug über den Tassenrand hinaus, und rasch wieder hinein und hinunter, bis auf den Boden, wo in einem trockenen Rest Tee eine kleine Fliege klebte, neben der vierten Fledermaus, die dort ihre Flügel ausbreitete. Wir müssen die Blumen aus dem Haus schaffen, sagte er zu Gerda, überall tauchen diese Viecher auf. Er steckte den Zeigefinger mit dem krallenartigen Nagel in die Tasse. Als er ihn wieder herauszog, klebte die Fliege daran. Das saubere Geschirr muss ich auch immer erst abwischen, sagte er, selbst in den Schränken sind welche. Gerda pfiff im Flüsterton und klapperte mit den Tellern. Und setz endlich dein Strickhütchen ab, sagte er, ohne sich umzudrehen.
       
        Sie stellte das Geschirr in den Schrank. Gib her, sagte sie und verlangte seine Tasse, um sie abzuspülen. Er legte sie in ihre Hand, aber sei vorsichtig, sagte er. Den Zitronenkuchen nimmst du nachher mit zu Professor Schneider, fuhr sie fort und hielt ihre Nase in einen Luftzug, der durch das Küchenfenster hereinströmte, riecht gut, findest du nicht? Er schaute auf die sanft bewegten Zweige der Birke vom Nachbarn gegenüber. Was sollen denn die mit dem Kuchen anfangen, den backst du doch nur, weil er dir immer seinen Sandkuchen aufzwingt. Nein, sagte sie, die kommen heute von der Beerdigung seines Schwagers zurück, die freuen sich über die Aufmerksamkeit, ich habe ihnen Bescheid gesagt, dass du kommst. Deine Aufmerksamkeit, brummte er und entdeckte ein paar Wolken am südöstlichen Himmel, die Sonne verschwand, und draußen fuhr ein Auto durch den Schatten. Der Fahrer grüßte, Paul grüßte. Dr. Frost kommt gerade nach Hause, sagte er und lachte. Die Sonne tauchte wieder auf, das Auto bog in die Einfahrt des Hauses hinter der Birke ein. Und was ist eigentlich mit Frau Schneider, fragte er nach einer kleinen Pause und sah sich um. Gerda gab ihm seine Tasse zurück und lächelte ihm zu. Hörst du? Was denn, fragte sie. Nichts, antwortete er, ich wollte nur wissen, ob Dr. Frost schon sechzig ist.
       
       
       
       
        Einige Minuten später hörte er eine Böe anschwellen, sie hielt für einen Moment ihre Kraft und ebbte dann ab, ohne ganz nachzulassen, Blätter fielen auf die Kanten, Stiele tanzten über die Straße, kleine Zweige, ein Aufklatschen, das gefangene Rascheln, der Schauer der Vereinzelung. Ich mach mich auf den Weg, sagte er und legte seine Hände als Fäuste auf den Tisch, als habe er in diesem Augenblick eine Entscheidung getroffen, er stemmte sich hoch, verlagerte, indem er vom Tisch abließ, das Gewicht seines Körpers von den Fäusten auf sich selbst und geriet darüber ins Schwanken, oh, stöhnte er, er machte Anstalten, sich auf seinen Stuhl fallen zu lassen, fing sich aber über dem Küchentisch, gebeugt, sein Haar hing ihm ins Gesicht. Was schaust du mir zu, sagte er zur Tür hin, ohne sich umzudrehen, und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, aber er bekam keine Antwort. Sein Atem ging schwer, er schaute auf den Küchentisch, er sah ein paar Krümel, die vom Frühstück übrig geblieben waren, eingerahmt von der zusammengefalteten Zeitung, den Kugelschreibern, dem Lineal und der Tasse. Und wieder zuckte er zusammen, als habe ihn etwas berührt.
       
        Nachdem er den Küchentisch und schließlich den gelben Linoleumfußboden lange genug angestarrt hatte, entdeckte er auch vor dem Stuhl noch einige Überbleibsel seines Frühstücks. Er versuchte sie mit dem rechten Fuß zur Seite zu schieben, blieb aber hängen, an einem Hindernis, das er nicht erkennen konnte, und so kletterte sein Blick über den Straßenschuh hoch zum rechten Bein seiner Flanellhose, zu den Flecken darauf, an denen er mit seinem beschädigten Zeigefinger kratzte, langsam und behäbig, aber da war kaum etwas herauszukratzen. Dann entdeckte er andere Flecken, kratzte daran weiter, jetzt mit mehr Druck und mit Hilfe der anderen Finger, er kratzte das Bein, sein Geschlecht, seinen Bauch, den Arm, mit dem er sich abstützte, den Kopf, seine Ohren. Ich mach mich auf den Weg, sagte er, hörst du. Er legte die Hand zurück auf den Tisch und sah gesenkten Kopfes durch die Armbeuge hindurch zur Küchentür, aber da war niemand, nur der Flur kopfüber, ein paar blasse, unruhige Schatten, die grauen Gardinen im Schlafzimmer, durch das, allmählich fahler werdend, immer noch ein Sonnenstrahl fiel, der Nachttisch mit dem Buch, und die Seiten, die sich bewegten, leicht gewordene Dinge, und ein bisschen steif.
       
       
       
       
        Er schob den Stuhl an den Küchentisch und ging aus der Küche. Ich mach mich auf den Weg, rief er die Kellertreppe hinunter, ich bin zum Abendbrot wieder da, hörst du? Gerda unterbrach das Sortieren, ihr Gesicht erschien unten an der Treppe. Schrei doch nicht so, sagte sie, sie keuchte, ihre Brille war immer noch beschlagen, was meinst du? Für wen der eingepackte Kuchen da ist, sagte er, da auf dem Herd. Das weißt du doch, antwortete sie, ich hab es dir eben gesagt, der ist für Professor Schneider. Aha, antwortete er, den soll ich wohl mitnehmen. Sie schaute ihn an und schwieg. Ich gehe jetzt sowieso, sagte er, ich bin zum Abendbrot zurück, nicht später als acht. Er hörte in der Küche den Backofenwecker klingeln. Und nimm endlich dein Strickhütchen ab, sagte er, als er gerade gehen wollte. Warte, antwortete sie und setzte es ab, ein paar silberne Haare klebten ihr an der Stirn, du kannst es für mich auf die Garderobe legen. Sie sah ihn über den Rand ihrer beschlagenen Brille hin an und reichte es ihm, er kam ihr ein paar Stufen entgegen, streckte sich, da berührten sich ihre Finger. Und geh nicht vor drei zu Professor Schneider, die machen Mittagsschlaf, sagte sie. Ja, sagte er und lachte. Außerdem feiern sie heute in der Neubausiedlung Richtfest, setzte sie hinzu, der Pastor ist bestimmt auch da. Das war doch schon längst, sagte er.
       
        Oben legte er das Strickhütchen neben seine Hüte auf die Garderobe, er machte Platz und stapelte sie übereinander. Einige Hüte hatten Flecken, über die jemand schon einmal gewischt hatte, ohne ihre Größe zu verringern, im Gegenteil, sie waren nur größer geworden, mit den alten Flecken als umso dunkleren Kernen. Ich gehe ohne Hut, rief er den Flur entlang, er drehte einen in den Händen und strich über den speckigen Rand. Was ist denn nun noch, fragte Gerda, die die Kellertreppe heraufgestiegen war und im Flur stand, du wolltest doch längst weg sein. Ja, sagte er, der Hut. Ja, antwortete sie, der Hut, es ist warm draußen. Also, bis nachher, sagte er. Er ging mit großen Schritten zur Haustür. Warte mal, Paul! Sie schwieg und lauschte. Das Telefon klingelt. Sie hielten den Atem an, und es ging Wind ums Haus. Da, sagte Paul. Sie sahen sich an. Nein, sagte sie, doch nicht, vielleicht war es nur das letzte Klingeln. Ich höre nichts, sagte er, wer soll denn jetzt auch anrufen, der Junge nicht. Nicht jetzt, fügte er hinzu und kratzte sich am Ohr, er hat lange nicht mehr angerufen - überhaupt, seit Tagen hat das Telefon nicht mehr geklingelt, es ruft niemand an. Oder es ist etwas kaputt, sagte er. Gerda verschwand auf der Kellertreppe. Er ging bis zur Kellertür und schaute ihr hinterher. Sie blieb stehen. Hast du verstanden, fragte er. Ja, antwortete sie und stieg weiter hinunter, ich bin nicht schwerhörig.
       
        Dann ging er, legte den Hut auf den Küchentisch und steckte den eingewickelten Kuchen in einen blauen Beutel, er knöpfte seinen Mantel zu. Im Flur warf er einen letzten Blick in den Garderobenspiegel, strich sich durchs Haar, das wieder nach vorne gefallen war, sah das Strickhütchen auf der Hutablage zusammensacken und schaute die Treppe ins obere Geschoss hinauf. Dort war alles dunkel.
       
        Als er schon jenseits der Haustürschwelle stand, sah er Gerda durch den Flur und das Wohnzimmer hindurch auf dem Rasen vor der Terrasse Laub harken, neben ihr ein alter Farbeimer, in dem Spitzhacke, Harke und Handschaufel steckten, diese Dinge. Er sah ihr eine Weile zu und wartete, bis sie für einen kurzen Augenblick aufschaute und er ihr eine Kusshand zuwerfen konnte. Sie winkte in ausgeblichenen, rosa Gummihandschuhen zurück, mit dem freien, sauberen Arm wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
       
       
       
       
        Nachdem er abgeschlossen hatte, rüttelte er noch einmal an der Haustür, um sich zu vergewissern, dass sie richtig ins Schloss gefallen war. Durch die Wellen des gelben Glases sah er Gerdas Umrisse, sie arbeitete jetzt direkt vor der Terrassentür, und er wartete, bis sie von dort verschwunden war. Erst dann wandte er sich um und ging, jede der flachen Stufen einzeln nehmend, durch den Vorgarten zur Straße hinunter. Auf Höhe der Kastanie, deren herabgefallene Blätter ihm den Zustand des Plattenweges verbargen, entdeckte er plötzlich, dass hinter der Birke gegenüber ein Mann näherkam und zielstrebig, jedoch leicht gebeugt, auf die Straße zusteuerte, der Autofahrer, der ihn vorhin gegrüßt hatte, es war Dr. Frost.
       
        Im gleichen Augenblick drang aus Südwesten, aus Richtung der Gärten, die jenseits der Terrasse lagen, das Flappen von Hubschraubern heran. Es war eine ganze Hubschrauberstaffel, die über die Siedlung kam. Heute ist Kampftag, rief Dr. Frost, in den Feldern beim Gutshof sollen überall Manöverfahrzeuge stehen, ein paar Panzer habe ich auch schon gesehen, hinten beim Flüchtlingslager. Sie schüttelten einander die Hände. Dr. Frosts Hand fühlte sich kühl und feucht an. Plötzlich tauchte noch ein einzelner Hubschrauber auf, seine Rotoren wischten durch den wieder wolkenlosen Himmel. Dann brach der Lärm ab. Kaum ist Herbst, hat man hier keine Ruhe mehr, sagte Dr. Frost, und das ausgerechnet heute, die Zeitung sagt, so warm war es im Oktober lange nicht, Ihre Frau arbeitet ja sogar im Garten. Ja, sagte Paul, es soll regnen.
       
        Und, stieß Dr. Frost plötzlich hervor, haben Sie vorhin auch die Tiefflieger gehört? Wann soll das gewesen sein, fragte Paul. Gegen zwölf. Nein, antwortete er, ich habe gearbeitet. Aber die Wände haben doch gewackelt, als würden sie gleich einstürzen, rief Dr. Frost und riss die Augen auf. Dann seufzte er. Unsere Häuser kommen langsam in die Jahre, diese Pappschachteln, unseres brauchte auch mal wieder einen neuen Anstrich. Er fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste, graue Haar. Wenn bloß dieser Kriegslärm nicht wäre, sagte er. Paul horchte auf. Diesmal flog ein Hubschrauber in größerer Entfernung vorüber, er war nirgends zu sehen.
       
        Also, sagte Paul, ich mach mich auf den Weg. Ja, sagte Dr. Frost hastig, der Wind zauste ihm ein wenig im Haar, Strähnen hingen ihm in die Stirn, er schob sie zurück, aber der Wind gab nicht nach, und Dr. Frost musste sein Haar mit den Händen auf dem Kopf festhalten. So überragte er Paul. Ich geh nachher auch nochmal los, sagte er, zum Richtfest in der Neubausiedlung, er sprach an Paul vorbei, als sehe er sich selbst schon auf dem Weg zum Richtfest, und Paul sah auf die krummen Beine seines Nachbarns, auf die Füße, die in eng verschnürten Schuhen steckten, klobige Dinger, deren Gummisohlen außen stärker abgelaufen waren als innen. Vorsichtig hob Dr. Frost die Hände. Man muss das gute Wetter nutzen, sagte er mit einem Blick in den Himmel.
       
        Dann schaute er durch das Geäst der Birke zurück zu seinem Haus, eine neue Böe warf sein Haar nach vorne, es schien ihn an der Stirn zu kitzeln. Er erinnerte sich daran, es festzuhalten, und presste die Hände darauf, als hielte er eigentlich seinen Kopf fest, zwischen den Fingern zitterten die Haarspitzen wie Strandgras. So vieles an Dr. Frost war aus Haar gemacht, unter dem Rollkragen seines Pullovers quollen ein paar von der Brust aus hochgekrochene Haare hervor, starker Bartwuchs, dem keine morgendliche Rasur gewachsen war, überzog sein Gesicht, es schimmerte blauschwarz, und sein grauer Schopf lag unter Händen, in deren Behaarung der Wind fuchtelte, die Haarwelt in Bewegung über der Blässe des Alters. Und mit Blick auf die Zweige der Birke, die jetzt allesamt in eine Richtung strebten, aus der Siedlung heraus, als zerrte etwas an ihnen, stellte Paul fest, dass es Dr. Frost nicht gut ging. Der Wind ließ nach und die Zweige fielen zurück und tanzten auf der Stelle, hinter dem Haus wiegten die Äste einiger Tannen behäbig auf und nieder. Lassen Sie sich nicht aufhalten, sagte Dr. Frost mit löchriger Stimme.
       
        Wollten Sie eigentlich zu mir, fragte Paul jetzt, aber ein Hubschrauber, der plötzlich hinter dem Haus auftauchte, verschlug Dr. Frost die Sprache. Träge, das Heck seines dicken, länglichen Rumpfes leicht erhöht, schwebte der Hubschrauber einen Augenblick lang über dem Haus. Aufgeschreckte Tauben flogen davon, ihr Flattern und Flügelschlagen hilflos neben der Gewalt der Rotoren, Staub wirbelte auf, die Kastanie bog sich im Wind, der Boden bebte. Dann schwenkte der Hubschrauber zur Seite und flog langsam, ohne an Höhe zu gewinnen, über die Siedlung hinweg, und sie schauten ihm nach, bis er hinter der Birke verschwunden war, und das Flappen verebbte.
       
        Sie verharrten in einer Betäubung, in die sich nur langsam wieder die Geräusche der Siedlung mischten, der Lärm eines schnell fahrenden Autos auf der Hauptstraße, und eine neue Böe fuhr in die Birke, verwischte die Gewöhnung, im Essigbaum lösten sich Blätter, Zweige schlugen gegeneinander, fielen zu Boden, wurden fortgetrieben, über die Straße, in windgeschützte Ecken, wo sie sich sammelten hinter kleinen Haufen aus Blättern, Sand und Schmutz, die der Regen vor die Abflussgitter geschwemmt hatte, und obwohl der Wind nun abflaute, blieb ein Widerhall in der Luft, das Stöhnen des nahenden Winters, der durch entlaubte Bäume fuhr, jenseits der Gärten, es versiegte nicht ganz. Aber der Tag blieb freundlich, jetzt, zur Mittagszeit, hatte der Dunst sich aufgelöst, ein Kondensstreifen führte quer über den klaren, blauen Himmel, von Wolken war keine Spur mehr.
       
        Dr. Frost hatte die Hände vom Kopf genommen und überließ sein Haar dem Wind, ja, sagte er, Zeit, dass ich gehe, ich muss nach Hause, Essen machen, meine Frau kommt gleich zurück. Er reichte Paul die Hand. Und was haben Sie vor? Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, antwortete Paul, bei Professor Schneider vorbeigehen und dergleichen, nicht der Rede wert. Er hob den Beutel mit dem Kuchen leicht an. Grüßen Sie ihn schön, sagte Dr. Frost, ohne von Pauls Hand zu lassen. Paul nickte. Also vielleicht bis später, beim Richtfest, fügte Dr. Frost hinzu – oder heute abend, wenn genug Zeit ist zum Reden und weniger Lärm am Himmel.
       
        Schönen Gruß an Ihre Frau, sagte Paul und schüttelte seine Hand frei, er nahm aus der anderen den Beutel, tippte sich, als salutierte er, an die Stirn, also auf Wiedersehen - und ging, ohne sich des Gegengrußes zu versichern, davon, er ließ Dr. Frost stehen, er schaute sich nicht mehr um, auf Wiedersehen, und schon waren da vor ihm der vom Tau getrocknete Asphalt, die staubigen Umrisse einiger Pfützen, die Reklamesendung im Rinnstein vor dem Regengitter. Und in den Tiefen der Kanalisation hörte er das Gurgeln eines Abflusses.
       
       
       
       
        Nachdem er am Ende der Straße nach rechts zur Hauptstraße abgebogen war, ging er langsamer, stockte, blieb stehen, guckte sich um und begann in seiner Manteltasche nach etwas zu suchen. Die Straße, auf der er stand, fiel zwischen älteren Häusern und einem Knick, der ein Feld abschottete, steil ab zu einer alten Eiche, deren Äste über die Einmündung zur Hauptstraße ragten, und er schaute, während er weitersuchte, hinüber zur Sparkasse, erblickte über ihrem Dach, eingerahmt von zwei Pappeln, den Arm eines Baukrans, sah dahinter die von weiteren Knicken durchzogenen Wiesen und Felder, einzelne Bäume und Büsche, auch Baumreihen, und die Überlandleitungen, die sich in lang gezogenen Wellen über das Eisenbahngleis spannten.
       
        Sie haben da etwas verloren, sagte plötzlich jemand, als er ein Stück weitergegangen war. Er drehte sich um und sah einen älteren, aber immer noch kräftigen Mann hinter dem Knick auf dem Feld stehen. Vor ihm, mit dem Rücken zu Paul, saß ein zweiter, etwas jüngerer Mann, er trug einen schwarzen Hut, und Paul sah, dass er ein Butterbrot aß und Bier aus einer Flasche trank. Hinter den beiden Männern, mitten auf dem Feld, lag ein unfertiges, aus alten Holzlatten gezimmertes Gerüst, an dem ein großes Schild lehnte. Darauf war neben den Namen von Auftraggebern, Architekten und Baufirmen die Fotografie vom Modell einer Einzelhaussiedlung zu sehen, die an dieser Stelle entstehen sollte. Die Wände der Häuser waren weiß, ihre Dächer schwarz. Auf der Straße und in den Gärten standen einige Figuren aus durchsichtigem Kunststoff, spielende Kinder oder Nachbarn, die über die Zäune hinweg in ein Gespräch vertieft waren. Am äußeren linken Bildrand bog ein Auto in die Einfahrt eines Hauses ein, niemand saß darin, das Auto hatte keine Sitze, im Inneren herrschte überall Weiß. Das Modell der Siedlung war von schräg oben aufgenommen worden, so dass auch die alte Eiche an der Hauptstraße, ein Baum aus braunem und grünem Karton, noch auf das Bild passte.
       
        Nicht dass ich wüsste, sagte Paul. Sehen Sie, da liegt es, sagte der Mann und deutete auf etwas Buntes, das im Gras neben dem Knick lag, ein in Papier gewickelter Bonbon, ist Ihnen gerade aus der Tasche gefallen. Paul hob den Bonbon hoch. Danke, sagte er, was machen Sie da überhaupt auf unserem Feld. Na, sehen Sie doch, sagte der Mann, hier soll gebaut werden. Davon weiß ich nichts, erwiderte Paul. Er strich über die Blätter eines Busches, ein paar lockere riss er ab, auch einen kleinen Zweig. Im gleichen Augenblick fing auf der anderen Straßenseite, hinter einer Tür zwischen Haus und Garage, ein Hund an zu bellen, heiser und um Lautstärke bemüht, jenes Kläffen alternder Hunde, die, auch wenn sie frei herumlaufen, nicht mehr weit damit kommen.
       
        Na, dann weiß ich ja Bescheid, sagte Paul und begann den Bonbon auszuwickeln. Alles klar, antwortete der Mann, und auch sein Kollege drehte sich um, er grinste über die ganze Breite seines blassen und zugleich fleckigen Gesichts, hob den Daumen und grüßte wortlos. Mahlzeit, sagte Paul und legte sich den Bonbon auf die Zunge. Er tippte zum Gruß mit der Hand an die Stirn, öffnete den Beutel so weit, dass er das Bonbonpapier ohne Mühe hineinfallen lassen konnte, aber es fiel daneben und er musste sich bücken.
       
        Als er wieder hochgekommen war, sammelte er sich einen Augenblick lang, fing an zu kauen, ordnete dabei seine Sachen und knöpfte den Mantel zu, er hörte einen Eisenbahnzug davonrauschen. Plötzlich drehte er sich um und ging in die Richtung, aus der er gekommen war, zurück, er nahm jetzt den Bürgersteig, er kaute den Bonbon, der Hund bellte ihm nach. Zu seiner Rechten standen die älteren, teils hinter ihren Vorgärten versteckten Häuser, sie unterschieden sich alle voneinander, und von hier aus hatte er, als er sich zur Seite wandte, einen Blick über die Büsche des Knicks und über das Feld in die Siedlung mit ihren Gärten, mit ihren immer gleichen Bäumen, den Birken, Tannen und Obstbäumen, ein Schaukelgerüst ragte dazwischen heraus, ein Gewächshaus, ein Essigbaum, und frische Wäsche hing auf den Wäscheleinen in der Sonne.
       
        Als er spürte, dass ihm etwas Spucke aus dem Mundwinkel lief, blieb er stehen. Kurz bevor sie heruntertropfte, wischte er sie mit dem Handrücken weg, er besah die braunen Schlieren und Bläschen auf seiner Haut, rieb die Hand an der Hose ab und ging geradeaus weiter. Vor ihm lag jetzt eine leicht abschüssige und schnurgerade Straße, zu beiden Seiten, hinter Hecken und zwischen einzelnen Tannen und Laubbäumen, die Dächer und Fassaden anderer Häuser, dahinter ein Tannenwald, durch den die Straße wie durch eine Schlucht führte, zu einem Maisfeld, und schließlich, dort, wo die Straße zu enden schien, zu einem Schilfgürtel, über dem ein Raubvogel kreiste.