Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:52
Roswitha Haring Widersprüchliche Analyse
Roswitha Haring las auf Vorschlag von Martin Ebel ihre Erzählung "Das halbe Leben". Die Jury besprach den Text sehr detailiert, aber widersprüchlich.
Roswitha Haring (Bild: ORF - Johannes Puch)
Thema "Auflösung des Ich"
Haring thematisierte die von Heinrich Detering als "literarisches Symptom" des diesjährigen Bachmannwettbewerbes erkannte "Auflösung des Ich" aus der Sicht eines Kindes.

Die Anpassung an die gesellschaftliche Ordnung als "Abwesenheit des Lebendigen" führt in "Das halbe Leben" zur Auslöschung individueller Spuren des Selbst.

Die Geschichte eines Mädchens in einem Sommerlager, das von züchtiger Ordnung geprägt ist, hat erneut gezeigt, dass die Jury ihre Probleme mit Kinderperspektiven hat. Sie gelangte zu einer sehr genauen aber auch widersprüchlichen Analyse.
Iris Radisch "Kleinlaute Opferperspektive"
Juryvorsitzende Iris Radisch zeigte sich Herrn Ebel gegenüber sehr dankbar, da der Text beispielgebend für die aus ihrer Sicht immer wieder kritisierenswerte "Mama/Papa-Geschichte" sei.

Die von Haring gewählte "Kinderperspektive" als "inszenierte Naivität" der Welt gegenüber, sei eigentlich Ausdruck eines "Ohnmachtgefühls" der Autoren. Diese "kleinlaute Opferperspektive" in einer "übermächtigen Welt" sei fruchtlos und lasse solche Texte immer wieder "an der Stelle treten".
Iris Radisch (Bild: ORF - Johannes Puch)
"Der Text erschafft eine reduzierte Welt, unter der er dann selbst leiden kann. Er ist an der Vereinfachung der Wirklichkeit aber selber schuld!", kommentierte Radisch. Den Einwurf Ebels, man solle sich doch weniger mit persönlichen Vorlieben, und mehr mit dem Text beschäftigen, kommentierte Radisch mit: "Man darf alles!"
Heinrich Detering "Das klappert mir zu mechanisch"
Auch Heinrich Detering meinte, es stünde weniger die Perspektive des Kindes im Mittelpunkt, denn dessen Sicht auf die Welt.

Das Kind als Gegenstand des Textes trüge die Erzählung allerdings nicht, da es im Text immer wieder "kommentierenden Fußnoten" komme.

Die "Ordnung des Textes" sei zu "schematisch" abgehandelt. "Das klappert mir zu mechanisch", lautete seine Meinung.
Daniela Strigl "Psychogramm einer Beflissenheit"
Jurorin Daniela Strigl zeigte sich hingegen sehr vom Text berührt. "Er hat bei mir funktioniert", meinte sie denn auch, da dieser ihrer Ansicht nach "weniger ontologisch" denn auf einer "psychosozialen Ebene" funktioniere.
Daniela Strigl (Bild: ORF - Johannes Puch)
Der Text sei das "Psychogramm einer Beflissenheit", wobei die Hauptfigur das "Über-Ich" schon vollkommen verinnerlicht habe. Nicht schlüssig fand Strigl hingegen das "Wehren" des Kindes gegen die reglementierende Ordnung.
Ilma Rakusa "Ein frühreifes Kind"
Auch Ilma Rakusa fand, die Geschichte Harings sei "sehr beeindruckend" für sie gewesen. Unter der Oberfläche spielten sich im Text "ganz furchtbare Dinge ab", die sie tief bewegt hätten.

Darüber hinaus sei sprachlich alles "sehr diskret und fein signalisiert". "Ungeheuerliche Sätze eines frühreifen Kindes!", kommentierte Rakusa.
Ursula März "Ein rechteckiger Text"
Ursula März meinte, der Text spiegle auf metaphorischer Ebene die "Form eines Rechtecks" wider, da er "um sein Sujet herumgehe" und dadurch sein Problem abbilde. Genau darin liege aber die Crux des an sich "sehr raffiniert" verfahrenden Textes.
Ursula März (Bild: ORF - Johannes Puch)
Durch seine "tautologische Form" könne die Erkenntnis zu keinem Ende gelangen, sondern bewege sich in derselben Bewegung um das gleiche Thema: die Ordnung, so März.
Klaus Nüchtern "Disziplinarmacht im Subjekt"
Klaus Nüchtern rügte gleich zu Anfang Iris Radisch dafür, den Autoren Dinge zu unterstellen, die man als Juror nicht wissen könne.

Auch er meinte eine "Disziplinarmacht im Subjekt" am Werk zu sehen, allerdings gebe es im Text nach einer gewissen Zeit nichts Neues mehr. Sprachlich sei manches "recht hübsch" gelöst.
Norbert Miller "Man will nie mehr Zähne putzen"
Norbert Miller meinte: "Man möchte sich nie mehr die Zähne putzen und ins kalte Wasser springe, wenn man den Text liest".

Für ihn sei der vermittelte Erkenntniswert nicht wichtig - vielmehr werde hier eine "Utopie" aufgebaut, der man sich als Leser verweigere.
Burkhart Spinnen "Zu wenig variantenreich"
Burkhart Spinnen zeigte sich vom Text weniger begeistert, ihm zufolge sei die Geschichte zu wenig variantenreich abgehandelt.

Die "Täterleistung" würde immer nur bestimmten Personen aufgebürdet, allerdings sehe er wenig Sinn darin, sich über die Ordnung zu beschweren.
Martin Ebel "Utopie des Verschwindens"
Martin Ebel zeigte sich erfreut über die detailreiche Besprechung des Textes. Seiner Meinung nach verschwinde das Ich hier und bringe eine Utopie des Verschwindens zum Ausdruck.
Martin Ebel (Bild: ORF - Johannes Puch)
Diskussion zusammengefasst von Barbara Johanna Frank