Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:52
Martin Becker (Foto: Susanne Schleyer)
Martin Becker
DEM SCHLIFF SEIN TOD
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Und Frau Jung wartete auf die aufgehende Sonne, sie hatte keine andere Wahl. Und Herr Jung pflanzte im Mondlicht Geranien, in seiner alten Uniform. Und Schliff hatte auf einem Feuerwehrfest zu viel getrunken und träumte gewalttätig. Und irgendwo wurde geklingelt und geöffnet und alles nahm ein schlechtes Ende. Die ganze Welt bestand nurmehr aus Verrichtungen, denen die Regeln abhanden gekommen waren.

Sie haben vier Beine und jeweils eine Schnauze, hatte Schliff gesagt, ansonsten gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Haben Sie das. Woche für Woche klapperte er per Telefon die Behörden ab, Tierheime, Polizei, Ordnungsamt, in seiner Stadt, in den Nachbargemeinden, nichts. Sagte jemand: Herr Schliff, verflucht noch eins, wir geben Ihnen drei Köter gratis, wenn Sie nicht mehr anrufen, wahrscheinlich sind die Hunde, die Sie suchen, schon längst am anderen Ufer, antwortete Schliff: Würden Sie mir das versprechen, auf Gedeih und Verderb, schriftlich, urkundlich und eidesstattlich, dann wurde meist sofort aufgelegt.

Es klingelte an der Tür. Schliff schreckte hoch und fasste sich an den Kopf. Er hatte einen Kater, seine Nase war bräsig und der Geschmack im Mund eisern. Er tastete nach seiner Stirn, er musste sich gestoßen haben und dann mit seinem plumpen Körper direkt auf der Matratze gelandet sein. Er stand auf, stolperte seinen Slalom durch die übervollen Umzugskisten und sah in den Spiegel im Badezimmer. Es klingelte, er träumte nicht. Auch er hatte von diesem irren Kocher gelesen, der über die Dörfer fuhr, an einer Tür nach der anderen klingelte und die Öffnenden erschlug, um danach seelenruhig in sein Auto zu steigen und abzudampfen. Es gab keine gesicherten Spuren, nichts. Schliff trocknete sich ab, ging zur Tür und öffnete, ohne durch den Spion gesehen zu haben. Und wenn schon.

Huber, sagte der Alte, und schob seinen Werkzeugkasten mit dem Fuß zur Tür herein. Noch im Unterhemd, sagte Schliff. Da sind wir endlich, rief jemand hinter Huber und lachte, Schliff lachte auch. Nur Huber lachte nicht, er drückte Schliff zur Seite und drängte in den Flur.

Schliff wohnte als Eigentümer im Haus und wartete. Er wartete darauf, dass die Hunde zurückkamen. Ein Versprechen, leicht gesagt. Als man die Vorbesitzer fand, waren die Hunde in Panik in den Wald geflohen und verschwunden. Das war Schliffs Verabredung mit sich selbst: Ich bleibe so lange, bis die Hunde wiederkommen. Sind es gute Hunde, kommen sie wieder. Und schlechte Hunde sind es nicht. Bei diesen Herrchen.

Schliff duldete das Ehepaar Jung, ohne den Behörden von den Zuständen zu berichten. Im Fenster der Einliegerwohnung stand seit einigen Jahren der Weihnachtsbaum, dessen Kerzen Frau Jung jeden Abend anzündete und, waren sie abgebrannt, erneuerte. Jeden Tag, das ganze Jahr hindurch. Es stimmt da und da und da nicht mehr, hatte Frau Jung gesagt und mit dem dürren Finger auf verschiedene Stellen ihres Kopfes gezeigt, als sie zum ersten Mal mit Schliff beim Kaffee zusammensaßen. Herr Jung war ein Rätsel, je älter er wurde, desto weniger sprach er. Frau Jung war ein offenes Buch, ihr Niedergang ein einfach gestricktes Kapitel. Anfangs war Schliff froh gewesen, die Wohnung so schnell vermietet zu haben. In Gesellschaft zu sein. Anfangs war er glücklich gewesen, sich um Herrn und Frau Jung kümmern zu können. Ihnen Essen zu bringen. Darauf zu achten, dass sie genug tranken. Dass die Herdplatten über Nacht kalt blieben. Dass sie sich wuschen, wenn sie sich waschen mussten. Schliff war froh gewesen. In Ablenkung zu sein.

Das wurde aber auch Zeit, sagte Schliff, hab schon Tage auf sie gewartet. Schöne Bescherung. Huber schob seinen Hiwi vor sich her, einen Jungen mit dicker, blau getönter Brille. Die Handwerker sind da, rief er und kicherte. Und Du bist sicher, dass es hier war, flüsterte Huber ihm ins Ohr. Schliff lief ihnen hinterher, die Kolonne stolperte mit jedem Schritt über die Umzugskartons, im größten Raum des Hauses kam sie zum Stehen. Können Sie unsere Schuhe trocknen, sagte Huber und hatte seine schon ausgezogen. Die sind nämlich ganz schön nass, Herr Schliff, sagte sein Hiwi. Schliff umtänzelte vorsichtig die Handwerker, nahm ihnen die Schuhe ab und legte sie auf die Heizung, seit Wintern außer Betrieb. Guck sich einer die Sauerei an, sagte Huber. Er knuffte Schliff heftig in die Seite, zeigte mit dem Finger umher im großen, kahlen, untapezierten Raum, der ein Wohnzimmer hätte sein können. Die Wände: von einer schwarzen Schicht überzogen, die Muster bildete wie die Landkarte eines unentdeckten Staates, wie der deformierte Kopf eines unentdeckten Tieres. Huber und sein Hiwi hatten sich auf das alte Sofa fallen lassen, legten die Füße hoch und begutachteten ihre nassen Socken. Der Hiwi packte die Thermoskanne aus und kleckerte beim Einschenken den Teppich voll. Gemütlich, Herr Schliff, rief er, bei Ihnen ist es gemütlich. Jetzt aber los, sagte Schliff, und die Handwerker sprangen auf. Ihre Schuhe stehen auf der Heizung, sagte Schliff. Wenn Sie was brauchen, ich bin nebenan. Huber und Hiwi sahen sich an. Dann wandte sich Huber zu Schliff: Das machen wir nicht einfach so. Bei diesem Zeug an der Wand können wir nicht arbeiten. So ein Automat: von außen ein robustes Teil, nicht kaputt zu kriegen, aber im Innersten sehr empfindlich. Lassen Sie Ihre Faxen, sagte Schliff. Fangen Sie an. Legen Sie die Wände trocken. Machen Sie mich frei von diesem schwarzen Elend, bevor ich krepiere. Es roch nach Schweiß, aber keiner wusste, wer es war. Huber atmete durch. Schliff atmete durch. Der Hiwi kicherte wie über einen blöden Witz. Schnauze, Gogo, sagte Huber, kraulte sich ungeduldig den Bart, stellte seinen Werkzeugkasten ab und zog den Prospekt aus dem Blaumann. Hier, sagte Huber, das ist Ihr Kaffeeautomat. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Den stellt sich kein Privater in die Bude. Der ist ab fuffzig Leuten Belegschaft. Aber Auftrag ist Auftrag. Sie könnten hier ja noch ein Büro einrichten, dann lohnt sich der Apparillo, rief der Hiwi. Gucken Sie nicht so blöde, sagte Huber. Sie wussten, was kommt. Schliff nahm den bunten Prospekt und begutachtete ihn von allen Seiten. Keine Wände, sondern ein Kaffeeautomat, sagte Schliff.

Eine Zeitlang nahmen Herr und Frau Jung Schliff im Auto mit und suchten die Umgebung nach den Hunden ab, es blieb ohne Ergebnis. In dieser guten Zeit hatte Schliff noch mit ihnen die Abende verbringen können. Meist vor dem Fernseher, mit den Serien aus den 70ern. Herr Jung sprach schon damals nicht mehr viel. Mit Frau Jung unterhielt sich Schliff ausgezeichnet. Über die Fortschritte der Hirnchirurgie. Frau Jung hatte mal gelesen, dass es für jedes Gefühl einen Balken im Kopf gibt, den man nur durchschneiden muss, damit es weg ist. Natürlich, sagte sie, darf man nicht zu viele Balken durchschneiden, wegen dem Gleichgewicht. Stellen Sie sich das doch mal vor, Herr Schliff, da kommt einer und schneidet den Balken für die Angst durch! Man rennt vor fahrende Autos oder springt von Brücken, weil man nicht mehr weiß, wie die Angst geht. Stellen Sie sich das doch mal vor. Später erinnerte sich Schliff noch oft an die Abende bei Herrn und Frau Jung; Chips, Würmer und Kekse und Frau Jungs Erzählungen von Dingen, die sie noch nichts angingen. So lange, bis sich bei ihr und ihrem Mann selbst die Balken bogen.

Ich habe keinen Kaffeeautomaten bestellt, und ich habe auch keine Belegschaft. Ich habe nach jemandem gerufen, der die Wände retten soll, sagte Schliff und zupfte bedrohlich sein Unterhemd zurecht, während der Alte bedrohlich den Werkzeugkoffer mit dem Fuß hin- und herschob, immer hin und her. Gogo, sagte Huber, hol sofort den Schrieb aus dem Wagen. Der Hiwi setzte sich in Bewegung, Schliff und Huber blickten einander belauernd an. Huber sah: Einen alleinstehenden, unrasierten, dicken Mann um die Dreißig, in Unterwäsche, Haltungsschaden. Der nach Alkohol stank, aber nicht so aussah wie jemand, der jeden Tag trinkt. Damit kannte sich Huber aus. Schliff sah: Einen äußerlich gepflegten, gut gescheitelten Alten mit Doppelkinn und kleinem Bart im Blaumann, um die Sechzig vermutlich, ein Kerl wie ein Baum, wahrscheinlich vom Schleppen. Der nicht nach Alkohol stank, aber so aussah wie jemand, der jeden Tag trinkt. Damit kannte Schliff sich aus. Sie sahen einander in die Augen. Hubers Blick sagte: Wenn ich will, mach ich Dich platt. Schliffs Blick sagte: Wenn Du mich platt machen willst, dann mach. Sie gingen noch einen Schritt aufeinander zu. Huber holte Luft. Schliff holte Luft. Da stolperte der Hiwi zurück in den Raum. Da steht es, rief er. Huber nahm den Wisch und reichte ihn Schliff. Auftragsbestätigung, sagte Huber. Das wird teuer. Pauschale für die Anfahrt, halber Tag für zwei Mann, Leistungsausfall. Ich werde das überprüfen, sagte Schliff.

Irgendwann, hatte Schliff zu der Frau, die er liebte, gesagt: Irgendwann liegt das hinter uns. Dann fangen wir neu an. Wenn du willst, hatte Schliff gesagt, vergessen wir das alles. Die Hunde, die Stadt, die Angst. Wir nehmen den Opel und fahren weg. Ans Meer. Kleine Wohnung, viel mit Holz, Fenster mit Blick. Für Herrn und Frau Jung lassen wir uns was einfallen. Betreutes Wohnen. Ich such mir Arbeit, Fremdenführer. Durchs Wattenmeer, durch die Vogelschutzgebiete, alles kein Thema. Und die Frau hatte ihn angesehen und gesagt: Schliff, das wäre schön, und hatte ihm kein Wort geglaubt.

Schliff war nach nebenan gegangen, um den Sachverhalt zu überprüfen. Huber und sein junger Hiwi schwiegen. Meister, sagte der Hiwi. Ja, Gogo. Ob Gott auch in den Wänden wohnt? Gogo, sagte Huber, hol die Werkzeuge.

Der Ordner mit den Unterlagen quoll über; in den letzten Jahren hatte Schliff die Briefe und Dokumente ungelesen hineingeworfen. Er suchte zwischen Sterbeurkunden, Telefonrechnungen, Quittungen nach einem Beweis. Wieder blieb er an den Bildern aus seiner Kindergartenzeit hängen, die in einer Ecke im Flur Jahrzehnte vergessen worden waren. Ein Elefant, unter den eine Erzieherin Hund geschrieben hatte. Ein Hund, unter den die Erzieherin Fabeltier geschrieben hatte. Ein Fabeltier, unter das die Erzieherin Selbstporträt geschrieben hatte. Ein ungeöffneter Brief. Sehr geehrter Herr Schliff. Wir freuen uns, dass Sie sich für unseren vollautomatischen Kaffeezubereiter für den mittelgroßen Betrieb entschieden haben. Bitte ermöglichen Sie der von uns beauftragten Firma am Tag der Aufstellung Ihres vollautomatischen Kaffeezubereiters für den mittelgroßen Betrieb Zugang zu Ihrem Betrieb. Sollten Veränderungen an den Wasseranschlüssen notwendig sein, kalkulieren Sie bitte für die Aufstellung mehrere Tage ein. Mit freundlichen Grüßen. Ihr Hersteller des vollautomatischen Kaffeezubereiters für den mittelgroßen Betrieb.

In seiner Verzweiflung hatte Schliff Fahndungsplakate gebastelt, und tatsächlich hatte sich jemand gemeldet. Der Typ wollte Geld, viel Geld: Ich pflege Ihre Hunde seit Jahr und Tag, sagte er, ich habe mich für sie aufgeopfert, das kostet. Sie hatten sich bei Einbruch der Dunkelheit auf einem verlassenen Parkplatz an der Talsperre getroffen. Der Typ wollte noch mehr Geld als abgemacht. Schliff zahlte und nahm die Hunde, obwohl er schon im ersten Moment sah, dass es die falschen waren. Dass sie den Hunden, die er suchte, in keiner Weise ähnlich waren. Zwei Tage lebten sie bei ihm und lungerten kraftlos auf dem Sofa herum. Dann fingen sie an zu husten, kriegten keine Luft mehr und starben, Schliff hatte keine Chance.

Huber stemmte die Arme in die Hüfte. Stellen Sie ihn auf, sagte Schliff. Aber nicht hier, stellen Sie ihn nebenan auf, da sind die Wände noch nicht schwarz. Aber Herr Schliff, sagte Huber. Wir können das auch unter der Hand regeln. So zweihundert und eine warme Mahlzeit pro Kopf. Aufstellen, sagte Schliff. Bestellt ist bestellt. Huber versuchte, Schliff zu überzeugen: Wir fahren wieder ab und tun so, als wäre nichts gewesen. Ich verklickere das den Kollegen schon. Am Ende sind die schuld und Sie aus dem Schneider. Ich sagte doch, sagte Schliff, fangen Sie an. Bauen Sie meinen Kaffeeautomaten auf, deshalb sind Sie ja hier. Schliff wollte seiner Forderung Nachdruck verleihen und holte tief Luft, verschluckte sich und musste heftig husten. Er fühlte seine beschädigte Lunge. Früher war er noch regelmäßig zum Turnen gegangen, um in Form zu bleiben. Aber die Zeit der Turnübungen war vorüber; mittlerweile ging es für Schliff um alles.

Hast Du schon gehört, sagte Frau Jung zu ihrem Mann, ein irrer Kocher. Herr Jung sagte nichts. Er geht von Haus zu Haus und haut den Leuten auf den Kopf, und keiner weiß, warum. Herr Jung sagte nichts. Ich weiß aber schon, wie wir uns den Kocher vom Hals halten, sagte Frau Jung. Wenn es klingelt, dann geht uns das nichts an, sagte Frau Jung. Herr Jung sagte nichts. Dann bleiben wir einfach sitzen und warten, bis keiner mehr klingelt. Ist das nicht gut, sagte Frau Jung, dann kommt der Kocher nicht zu uns rein. Herr Jung stand auf, zog seine Uniformjacke glatt und brüllte los: Wenn es klingelt, dann wird geöffnet, damit das endlich klar ist. Wer klingelt, schrie Herr Jung, muss reingelassen werden. Das war so und das bleibt so.

Huber nahm einen kräftigen Schluck aus dem Flachmann. So ein Quatsch, sagte er, das Ding lohnt sich erst ab zehn Kannen am Tag, ein Jahr lang zehn Kannen am Tag, dann haben Sie die Kohle drinnen. Schliff konnte kaum atmen, er verfluchte den schwarzen Belag an den Wänden. Machen Sie einfach, keuchte Schliff, Auftrag ist Auftrag. Das dauert wenigstens drei Tage, sagte Huber. Wir müssen die Wände aufstemmen und an die Leitungen, allein das Ding reinzuhieven und aufzustellen braucht einen Tag, einer für die Wand und fürs Anzapfen, und dann müssen wir’s noch probieren, wegen der Hygiene und so. Gut, sagte Schliff, dann dauert es eben so lange. Und so ein vollautomatischer Kaffeeautomat für den mittelgroßen Betrieb ist ja auch eine feine Sache, rief der Hiwi. Schliff mochte den Jungen mit der dicken Brille. Wo schlafen Sie denn, sagte Schliff, wollen Sie hier bleiben. Schon in Ordnung, sagte Huber, wir sind ordentliche Handwerker auf Montage und schlafen im Motel am Tunnel, kennen Sie das. Vom Sehen, sagte Schliff, früher war das mal der Kindergarten. Und dann das Krematorium. Deshalb ist es da so warm, rief der Hiwi, und Huber gab ihm einen Schlag in den Nacken, der sich gewaschen hatte.

Manchmal setzte Schliff den alten Opel aus der Garage und fuhr und fuhr und fuhr. Durch die Wälder, hupend, wie ein Irrer. Quer über die Dörfer, so lange, bis er in eines kam, das er nicht mehr kannte, bis er in einer noch offenen Gaststätte so viel Bier getrunken hatte, dass er sich traute, im Auto auf dem Seitenstreifen der Hauptstraße zu schlafen. Manchmal fuhr er in einer Nacht bis ans Meer. Erinnerungen wie Möwen. Im Kopf die kleinen Zimmer. Als er ein Junge war. Immer wieder. Als er ein Junge war. Und die Hunde. Kam er von den Reisen zurück, dachte er, jetzt würde alles anders. Er suchte sich Kontaktanzeigen raus. Er hatte auf dem Papier viel vorzuweisen: Akademiker mit Metropolenerfahrung, allein seine Angst, die stand nicht auf dem Papier.

Haben Sie vom irren Kocher gehört, Meister, sagte der Hiwi, während sie die sperrigen Teile für den Automaten in die Wohnung schleppten und die Vorschlaghämmer, Bohrmaschinen und anderen Geräte zur Öffnung der Wand drapierten. Ist das Böse, Meister, schon im Denken der Menschen?

Schliff lag im lauwarmen Wasser der Badewanne. Er müsste endlich wieder nach Herrn und Frau Jung sehen. An jeder Ecke der Wohnung gab es Notfallknöpfe, stille Alarme, Bewegungsmelder, die direkt mit den Rettern von Land und Staat verbunden waren, und dennoch. Zwei Mal die Woche kam jemand zum Baden, eine Pflegekraft, die für Ordnung sorgte. Herr Jung war kein Problem. Herr Jung konnte wochenlang im Bett liegen und die Decke anstarren, es tat seinem Glück keinen Abbruch. Frau Jung hingegen geriet von Tag zu Tag, je älter sie wurde, mehr unter Druck. Als hätte sie alles, was jemals auf der Welt vergessen worden ist, ganz allein zu verantworten. Sie kriegte die alten Erinnerungen in den falschen Hals. Jeden Tag räumte sie die Schränke aus und füllte Kartons und Wäschekörbe, unaufhörlich dachte sie: Gleich kommt der Umzugswagen. Gleich stehen die neuen Mieter vor der Tür. Gleich haben wir keine Wohnung mehr. Herr und Frau Jung und ihr Verhältnis zur Welt: Er vergaß sie, während sie ihr regelrecht unter dem Arsch brannte. Verzweifelt klingelte sie manchmal bei Schliff und fragte nach mehr Kartons, wollte ihm ihr ganzes Hab und Gut schenken. Er kannte sich aus, gab ihr eine Zigarette und beruhigte sie, er beruhigte sie, und das beruhigte ihn.

Schliff war gerade in der Badewanne eingeschlafen, als die Fliesen scharenweise von den Wänden splitterten und auf seinen Kopf knallten; Speis und Kitt im wenig blutigen Wasser landeten. Er sprang auf und trocknete sich ab, zog sich Unterhose und Unterhemd an und sah nach. So ein Blödmann, sagte Huber. Lass mal sehen, sagte Schliff. Der Junge hatte eine kleine, aber tiefe Wunde in der Hand. Da muss ein dickes Pflaster drauf, sagte Huber, das ist Standard. Haben Sie welche. Ich bin gleich wieder da, sagte Schliff. In der Wohnung von Herrn und Frau Jung stank es bestialisch. Der Kühlschrank stand offen. Der Fernseher dröhnte auf voller Lautstärke. Er fragte sich, ob das nicht zu weit ging. Frau Jung saß im Sessel und rauchte. Tag, Frau Jung, sagte er. Frau Jung schreckte hoch. Sind Sie ein Kocher, fragte sie und hielt ihre brennende Zigarette bedrohlich nah an Schliffs Gesicht. Ich bin Ihr Vermieter, sagte Schliff, und Frau Jung schien sich zu erinnern und sank beruhigt zurück. Das heißt, wir müssen nicht raus, sagte sie. Nein, sagte Schliff, Sie können bleiben. Auf dem Bildschirm wurde gerade einem Mann mittels einer Axt der Schädel erst gespalten und dann abgetrennt, während es im hinteren Teil des Zimmers schon lichterloh brannte. Och, sagte Frau Jung, naja. Sagen Sie, Frau Jung, haben Sie ein Pflaster. Ruhe, rief Frau Jung, sonst können wir den Film auch ausmachen. Schliff wollte im Badezimmerschränkchen suchen. Herr Jung stand in Paradeuniform unter der Dusche und salutierte. Tag, Herr Jung, alles in Ordnung. Natürlich, sagte Herr Jung, gleich geht die Parade los. Schnell duschen und losmarschieren. Dann sollten Sie sich vorher ausziehen, die Tür abschließen, und vor allem: Wasser aufdrehen, sagte Schliff. Donnerwetter, junger Mann, sagte Herr Jung, Donnerwetter. Schliff fand keine Pflaster. Und wir müssen wirklich nicht raus, sagte Frau Jung, als Schliff die Wohnung verließ. Nur über meine Leiche, sagte Schliff. Dann bin ich ja froh, sagte Frau Jung, gerade explodierte ein Hochhaus.

Der Hiwi hatte sich derweil selbst geholfen, eins von Schliffs Hemden zerrissen und sich aus den Fetzen einen Druckverband gemacht. Zeig mal, sagte Schliff und sah sich die Wunde an, die zu den Rändern hin schon anfing zu heilen; zartrosa. Haben Sie Zigaretten, fragte der Hiwi. Sie gingen vor die Tür. Warum wohnen Sie so provisorisch, sagte der Hiwi. Ich warte nur, sagte Schliff. Auf wen, sagte der Hiwi. Auf die Hunde, sagte Schliff. Wie lange sind sie schon weg, sagte der Hiwi. Schliff antwortete. Herr Schliff, sagte der Hiwi. Darf ich Sie was fragen. Was Du willst, sagte Schliff. Ist die Angst ein kleines oder ein großes Tier? Wohnt sie in einem Haus? Oder im Wald? Mir wird kalt, sagte Schliff.

In ihrem letzten schönen Winter hatten Herr und Frau Jung morgens bei Schliff geklingelt, als es gerade hell geworden war. Sie fragten, ob er nicht Lust hätte, mit ihnen zu kochen, eine Suppe mit frischen Kräutern. Sie kamen manchmal auf solche Ideen. Und Schliff war sofort dabei. Er wusste um die Kostbarkeit dieser Momente. Sie hatten im Garten unter dem Schnee nach Brauchbarem gesucht. Dann fing Herr Jung an, einen Schneemann zu bauen, und Frau Jung und Schliff machten mit. In ihrer guten Kleidung. Denn in dieser Zeit trug Schliff noch Stoffhosen und Hemden, außerdem ein altes Cordjackett. Auch die Jungs sahen noch nach was aus. Man hätte mit ihnen über den Markt gehen können, man hätte glauben können, ein gut gekleideter Mann begleitet seine Eltern über den Wochenmarkt und kauft Blumen und Fisch, was für ein feiner Kerl.

Am nächsten Morgen stand Schliff früh auf und ging zum Metzger. Er kaufte zwei Kilo Mett und eine Tüte Brötchen vom Vortag. Hast Du gehört, sagte der Metzger, der Tod kommt näher. Vorgestern war er drei Dörfer weiter. Sie suchen ihn überall. Haben den Tunnel gesperrt mit allem Pipapo. Keine Spuren, wie immer.

Schliff frühstückte mit Huber und dem Hiwi lang und ausgiebig. Das Mett schmeckt aber lecker, rief der Hiwi, und Huber murmelte zustimmend. Wie geht es Deiner Hand, sagte Schliff. Besser, sagte der Hiwi. Gogo ist hart im Nehmen, sagte Huber, und ich bin hart im Geben. So läuft der Laden. Alle lachten, dann gingen die Handwerker an die Arbeit. Ich seh noch nichts vom Automaten, sagte Schliff. Die Leitungen, sagte Huber, und erklärte Schliff fachmännisch, was sie gestern gemacht hatten, was heute an der Reihe wäre. Schliff nickte. Er hatte keine Angst, wenn die Handwerker in der Nähe waren. Den ganzen Vormittag über ging er den Männern zur Hand. Am Mittag musste Huber dann einen Ort weiter, auf die Schnelle schwarz irgendwas richten. Schliff machte das nichts aus. Er würde sie bezahlen. So stand er mit dem Hiwi vor der Tür und rauchte. Lieber Herr Schliff, jetzt, wo wir allein sind, sagte der Hiwi und stockte. Ja, Junge, sagte Schliff. Der Hiwi trat nervös von einem Bein aufs andere. Von Mann zu Mann, sagte der Hiwi: Ich mag Sie sehr gern. Aber ich muss Ihnen schlechte Nachrichten bringen. Wegen Ihrer Hunde. Lass sein, sagte Schliff und winkte ab. Der Hiwi senkte die Stimme: Ob Ihre Hunde zurückkehren. Ob sie überhaupt noch leben. Nach all den Jahren. Das ist lächerlich, sagte Schliff, was weißt Du denn schon vom Leben! An die Arbeit, Huber ist wieder da. Schliff ging an Huber vorbei. Machen Sie fertig und ziehen Sie die Tür zu, legen Sie mir die Rechnung hin, ich muss weg. Danke für alles. Viel Glück und Segen. Adieu. Huber war verdutzt. Schliff stieg die kalte Luft zu Kopf, er musste heftig husten, setzte sich in seinen alten Opel und raste davon.

Er kannte den Wald. Auch hier hatte er nach den Hunden gesucht. Keine Spuren. Er atmete kräftig ein und aus. Er setzte sich unter einen Baum und dachte nach. Beinahe wäre er dem Hiwi an den Kragen gegangen. Zuletzt hatte die Frau, die er liebte, der Sache auf den Grund gehen wollen. Du machst Dich lächerlich, hatte sie gesagt. Lass mich, hatte Schliff geantwortet, aber die Frau redete sich in Rage: Feige, das bist Du! Zu feige, um einzusehen, dass man die Vergangenheit nicht zurückholen kann. Lass es sein, hatte Schliff gesagt. Du bist kein Mann, Du bist eine Memme, hatte sie gesagt. Schliff hatte versucht, ihr den Mund zuzuhalten. Vergeblich. Ein Muttersöhnchen bist Du, ein verantwortungsloses Stück Mensch. Schliffs Explosion. Er hatte ihr mit voller Wucht eine Ohrfeige gegeben. Entgegen seiner Überzeugungen. Sich entschuldigt, mit allen Mitteln versucht, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, aber die Frau, die er liebte, hatte mit Schliff, dem Haus und den Hunden abgeschlossen. Ab da war Schliff allein. Schliff saß an den Baum gelehnt und wartete auf den Untergang der Sonne. Er hatte keine andere Wahl. Er hockte unter dem Baum und weinte sich die Seele aus dem Leib.

Das Ehepaar Jung saß im Wohnzimmer und döste, als es klingelte. Herr Jung sprang auf und wollte zur Tür, aber Frau Jung hielt ihn am Ärmel fest: Bleib hier, sagte sie, lass es klingeln. Hör endlich auf, sagte Herr Jung, es hat geklingelt, und wenn es klingelt, muss man öffnen. Er schlurfte in Richtung Tür. Frau Jung sprang auf und krähte los: Das ist nichts Gutes. Wenn es die neuen Mieter sind, müssen wir raus. Oder stell Dir vor, es ist der Kocher. In ihrer Not warf Frau Jung nach ihrem Mann mit allem, was sie zu fassen kriegte, Aschenbecher, Gläser, Tassen. Herr Jung schüttelte nur den Kopf und rief immer wieder: Wer klingelt, dem wird geöffnet. Das war so und das bleibt so. Er zupfte seine Uniformjacke zurecht, beugte sich leicht nach vorn und sah durch den Türspion. Frau Jung hatte sich die schwere Vase aus der Wohnzimmerecke gegriffen und mit Mühe hochgewuchtet. Sie stand hinter ihrem Mann, bereit zum Schlag, als es erneut klingelte und Herr Jung mit einem schnellen Griff die Türklinke zu fassen bekam.

Huber war völlig betrunken. Sie hätten heute fertig werden können, der Automat stand schon und war angeschlossen, sie mussten ihn nur noch befülllen und die Leitungen prüfen. Gogo, sagte Huber, wir machen Feierabend für heute. Es dämmert schon. Meister, sagte der Hiwi und rückte seine Brille zurecht, glauben Sie eigentlich, der Kocher kennt Freundschaft. Vielleicht mag er Handwerker. Kommt er überhaupt zu uns in Motel. Man hört, er sei in der Nähe. Gogo, sagte Huber, vor dem müssen wir keine Angst haben. Sieh mich an. Ich bin ein dicker, alter Handwerker, der nichts anderes kann als Kaffeeautomaten für den mittelgroßen Betrieb. Und doch: Ich weiß, was es heißt zu sterben. In diesem Moment brach unten ein Getöse los, als würde das alte Paar die Bude zerlegen. Verschwinden wir, sagte Huber, und zog seinen Hiwi so schnell er konnte aus der Wohnung.

Schliff kam erst abends zurück. Er kriegte wieder Luft. Vor der Tür fand er einen Präsentkorb. Eine Karte mit eingedrucktem Text: Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr. Wir bitten um Entschuldigung für die Verzögerungen. Mit freundlichen Grüßen. Ihr Hersteller des vollautomatischen Kaffeezubereiters für den mittelgroßen Betrieb. Eine kleine Flasche Sekt. Salami aus Osteuropa. Käse in Plastikfolie. Schliff setzte sich vor die Tür und aß den Käse. Dann nahm er die Salami und ging runter zum Ehepaar Jung. Der Weihnachtsbaum brannte nicht. Es war eine stille Nacht. Niemand öffnete. Schliff dachte, er käme zu spät. Er kam zu spät. Er wälzte sich im Bett hin und her und schlief schlecht, wachte dauernd auf, weil der Bewegungsmelder im Garten das Licht einschaltete. Das war immer so, die Tiere, die Natur, der Wind. Aber schon die Ahnung reichte; Schliff meinte, jemanden ums Haus schleichen zu hören. Im Traum hatte es geklingelt. Er sah aus dem Fenster und entdeckte Huber und den Hiwi im Garten. Sie machten eine Schneeballschlacht. Sie schmierten sich die pappige Masse gegenseitig ins Gesicht; sie verfolgten sich, sie tobten, sie rannten und bauten einen Schneemann. Wie die Kinder. Mein Gott. Schliff öffnete das Fenster und rief sie rauf. Hallo, Herr Schliff, wir sind wieder da, brüllte der Hiwi. Das ist aber schön, rief Schliff zurück. Dann begutachtete er zum ersten Mal bei Tageslicht den Kaffeeautomaten. Ein prächtiges Exemplar. In der Zimmerecke entdeckte er ein sehr kleines Stück schwarzer Wucherung. Es sprang also doch über.

Schon lief der Automat. Zehn Becher pro Minute in der Spitze, rief Huber. Schliff sagte: Lassen Sie mich mal probieren. Huber reichte ihm einen Kaffee aus dem Automaten. Schmeckt gut, sagte Schliff. Also dann, sagte Huber. Also dann, sagte der Hiwi. Also dann, sagte Schliff. Meine Herren, sagte er, Sie werden mir fehlen. Schliff holte die Salami und reichte sie den Handwerkern. Für die großen Mühen. Huber war tief gerührt, stellte seinen Werkzeugkasten wieder ab und schüttelte Schliff dankbar die Hand. Wenn Du willst, sagte Huber, können wir noch was Zusätzliches einbauen. Guck, sagte er, und klappte vor Schliff den Prospekt aus. Das ist der Frischwasser-Spender mit Wasseranschluss. Dauert wenigstens noch zwei Tage, das Teil anzuzapfen. Ich glaube, sagte Schliff, mir reicht der Automat. Dann gehen wir jetzt wohl, sagte Huber. Also dann, sagte Schliff. Also dann, sagte der Hiwi. Also dann, sagte Huber. Da klingelte es. Alle erstarrten. Schliff dachte an den Mann für das schwarze Zeug an der Wand. Warten Sie mal, sagte Schliff. Er strauchelte zwischen den Kartons entlang zur Tür und sah durch den Spion. Erstaunlich. Dann wandte er sich zu den Handwerkern um. Könnten Sie mir bei den Kartons helfen. Sie müssen den Kram nur raustragen. Ich zahle im Voraus. Nichts dagegen, sagte Huber. Schliff reichte ihnen Geld. Nehmen Sie erst die Kartons aus dem gammeligen Zimmer, sagte Schliff, die sollten zuerst raus. Und lassen Sie sich Zeit. Als Huber und sein Hiwi verschwunden waren, atmete Schliff durch. Ausdauerndes Klingeln. Er ging zur Tür und sah abermals durch den Spion.

Unwahrscheinliches Ende.