Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Christian Bernhardt (Foto: Tobias Dittmann)
Christian Bernhardt
was sie hier haben
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Sie hat, genau wie ich, dunkle Haare, fast schwarz sind sie, und sie ist kleiner als ich, sie ist sieben Zentimeter kleiner, und ich vergesse immer wieder, warum wir uns streiten, ich mag das nicht, dass ich den Grund immer wieder vergesse. Einmal morgens, vor zwei Monaten, haben wir uns geschlagen. Sie hat mir mit der Faust gegen die Brust geboxt und ich habe sie getreten, und sie hat mich getreten, gegen mein Bein, mit der Schuhspitze in den Oberschenkel, und ich habe ihr gegen die Schulter geboxt, so fest, dass sie rückwärts weggetaumelt ist. Dabei habe ich in ihr Gesicht gesehen, in ihr rundes Gesicht, das von dunklen Haaren eingerahmt ist und ihre zitternden Wangen habe ich gesehen. Wenn sie steht oder sitzt, hängen sie etwas nach unten, eine sanfte Rundung, das ist so, seit sie siebenundzwanzig ist, hat sie gesagt. Ich finde sie erotisch, diese leicht hängenden Wangen.

Ich bin heute neben ihr aufgewacht, weil wir heute zusammen in meinem Apartment geschlafen haben. Und gleich nach dem Aufwachen sagte sie, deine Haare sind ganz schön fettig. Fettig, ja, das stimmt, sie sind schmutzig, oder fettig und schmutzig. Das Shampoo ist mir ausgegangen, aber ich will nachher neues kaufen, dieses Shampoo, das ich schon öfter gekauft habe, "Totes Meer" steht da in dicken blauen Buchstaben auf die Flasche gedruckt. Damit werde ich mir dann später die Haare sauber waschen.

Heute haben wir beide frei, ich sowieso, weil mein Vertrag ausgelaufen ist und vielleicht habe ich noch länger frei, weil ich gar nicht weiß, ob er verlängert wird. Wahrschein¬lich aber wird er verlängert. Und nun frühstücken wir also zusammen. Halb im Stehen, halb gegen die Wand gelehnt, trinke ich meinen Kaffee und sie hat sich hingesetzt, auf einen meiner beiden hohen Stühle, und trinkt ihren Kaffee. Draußen scheint die Sonne schräg auf die fenster¬lose graue Hauswand gegenüber, und teilt sie, wie auch im letzten Sommer immer morgens, in zwei gleich große Dreiecke. Ich stecke eine Scheibe Toastbrot in meinen Toaster in der winzigen Stehküche. Jetzt arbeiten wir beide in einem Krankenhaus. Wir werden vielleicht weitere Jahre in irgendwelchen Krankenhäusern bleiben und dort arbeiten. Auch sie hat Medizin studiert, bis zum Examen, dieses Haut-, Fleisch- und Papierstudium. Sie hat ein Loch in ihrer Zunge, in dem das Piercing steckt, ein Stift mit einer Metallkugel oben. Mit der Kugel macht sie Geräusche. Sie trinkt aus ihrer Tasse und macht noch einmal das Geräusch, sie klopft mit dem Metall gegen das Porzellan. Und wenn sie den Mund öffnet, dann sieht man die dunkel silberne Kugel auf ihrer Zunge. Mir fällt nichts anderes ein, als jeden Tag im Krankenhaus zu arbeiten, aber eigentlich gefällt mir das nicht mehr, das macht mir immer öfter schlechte Laune. Und sie möchte einfach nur irgendwo anders arbeiten, hat sie gesagt, sie möchte weg irgend¬wann. Irgendein anderes Land. Das hat etwas Kaputtes, mit der Metallkugel im Mund, sie hat etwas Kaputtes, dachte ich öfter schon, sie ist noch jung und sieht doch schon irgendwie verfallen aus. Aber das sieht interessant aus, ihr Gesicht, das jung und alt zugleich ist, und eigentlich gefällt sie mir so.

Wir gehen dann los, wir werden in den Drogeriemarkt gehen und ich werde das Shampoo kaufen, "Totes Meer", mit Schlamm aus dem Toten Meer, und sie wird auch etwas kaufen.

An einem Tag vor zwei Wochen gingen wir auch auf der Straße, daran erinnere ich mich. Wir gingen an diesem Tag zu dem vierundzwanzig Stunden geöffneten Laden, wir wollten zwei Flaschen Wasser kaufen. Es ist Mai, wir gehen lässig und entspannt, es ist kurz nach vier Uhr nachmittags. Uns geht es gut. Dann trete ich ihr ohne Absicht in die Ferse, weil ich hinter ihr gehe und nicht aufpasse, und sie stolpert und stürzt auf den Asphalt, aber sie fängt ihren Sturz gerade noch mit beiden Händen ab. Und ich bin erschrocken, und sie blickt mich genauso erschrocken und erstaunt an. Dann helfe ich ihr auf, sie reibt sich ihr rechtes Knie. Ich entschuldige mich bei ihr, es tut mir Leid, sage ich. Das war Absicht, sagt sie. Nein, es war keine Absicht. Wir gehen weiter, und im Gehen streiche ich über ihren nackten Oberarm bis zum Ärmelansatz ihres weißen T-Shirts, aber sie blickt weiter geradeaus.

Heute gehen wir wieder zusammen auf der Straße und jetzt ist Vormittag, und es sind nicht viele Leute unterwegs, wenige Autos fahren durch das Stadtviertel. Wir gehen die breite Ausfallstraße entlang, vor den Fenstern der Läden und Supermärkte. Diese Straße führt ins Nichts, aus der Stadt in irgendwelche Vorstädte und später in irgendwelche Kleinstädte. Und wir kommen an dem Fotoladen vorbei, in dem Bilder von Hochzeiten und Familienbilder und Babybilder herumstehen, alle möglichen Fotorahmen und allerlei Größen. Manchmal sind es vielleicht dreihundert private Bilder, oder vier¬hundert Bilder, die man gesammelt hat, wenn es dann vorbei ist. Warum, frage ich sie, wechseln wir alle paar Jahre denjenigen, mit dem wir zusammen sind? Ich weiß es nicht, ich habe einfach noch nie lange durchgehalten. Und du, hast du es länger ausgehalten? Nein, du weißt ja, ich auch nicht. Was wolltest du eigentlich nachher kaufen? Ich brauche ein neues Portemonnaie, vielleicht, ich schaue mal, ob ich eins für mich finde.

Wir biegen in eine Parallelstraße der Einkaufsstraße ein, eine ruhigere Nebenstraße, die an der Rückseite der Läden vorbeiführt. Neben der Rückwand eines Supermarktes, im Hof des Supermarktes parkt ein Lkw in der Einfahrt und der Fahrer entlädt Waren. Einige Meter weiter steht ein Einkaufswagen verloren an der Hauswand und ich gehe vor und fahre rasselnd ein, zwei Meter damit. Los, setz' dich hinein, ich schiebe dich. Nein, ich will nicht. Doch, das haben wir doch letztes Jahr auch schon mal gemacht. Mach schon, ich schiebe dich, komm schon. Mit beiden Händen an der Griffstange warte ich. Komm schon, kletter hinein. Und sie klettert dann in den Korb und ich halte den orangefarbenen Einkaufswagen fest, der Wagen schwankt nur wenig. Dieser Einkaufswagen ist wirklich sehr stabil. Ich schiebe los, das ist nicht einfach, nach einigen Metern drehen wir uns, aber rückwärts fährt der Einkaufswagen leichter, leichter auf diesem unebenen Gehweg, denn hinten stehen die Räder weiter ausein-ander, so kann er auch nicht so schnell umfallen. Aber der Einkaufswagen ist wirklich stabil. Pass auf, wir fallen um, wenn du nicht vorsichtig bist. Halt an, ich will jetzt wieder aussteigen. Wir sind nicht weit gefahren, und sie klettert wieder aus dem Korb heraus. Warte mal, sagt sie, da vorn hole ich mir etwas zu trinken. Damit er nicht wegrollt, stelle ich den Einkaufswagen zwischen ein Fahrrad und einen kaputten Sessel, der da auf der Straße herumsteht. Dann gehe ich ihr nach, die zu dem Kiosk drei Häuser weiter gegangen ist. Sie kommt mir mit einer Flasche Apfelsaft und Wasser entgegen. Im Gehen trinken wir abwechselnd davon.

Lass uns zu dem Baumarkt gehen, schlage ich vor. Zum Baumarkt? Ja gut, warum nicht, was willst du da? Viel¬leicht irgendetwas kaufen, vielleicht Montageschaum, eine Sprühdose. In einer Ecke meines Apartmentraumes ist dieses Loch im Boden, hinter dem Regal, das macht mich nervös, ich träume nachts von diesem Loch. Dort hinein sprühe ich den Schaum, der dann aufquillt und später fest wird.

Wir gehen zehn Minuten weiter durch diese Straßen mit den grauen vierstöckigen weißen und eher grauen, manchmal gekachelten Mietshäusern, alle nicht älter als vierzig Jahre, fünfzig Jahre, und das erleichtert das Gefühl, in dieser Stadt zu sein, die ist so schön kaputt und vorübergehend. Während wir gehen, wird meine Stim¬mung schlechter, ich bin plötzlich schlecht gelaunt, und das bin ich deshalb, weil ich mich an einen Streit von gestern erinnert habe, oder war das vorgestern? Ich überlege, ob ich stehen bleiben soll, einfach stehen bleiben und dann drehe ich mich um und gehe, und dann sehen wir uns nicht mehr wieder und Ende. Aber ich gehe schweigend weiter. Wir gehen zu dem Baumarkt und ich habe den ganzen Weg diese sehr schlechte Stimmung. Was ist los? fragt sie. Nichts, antworte ich. Erst kurz vor dem Baumarkt wird es besser. Dann werde ich stumm wütend, dass meine schlechte Laune einfach so, ohne ein Wort von mir, wieder verschwindet. Als wir in den Park¬platz des Baumarkts einbiegen, sagt sie, komm, wir suchen gute und böse Produkte, wir teilen die Produkte im Baumarkt ein, gut und böse. Ja, das ist eine gute Idee, das machen wir, antworte ich. Meine Stimmung ist auch wieder viel besser geworden.

Für dich schneide ich mir in den linken Arm, im hellen Sonnenlicht hier draußen auf dem leeren Parkplatz eines wenig besuchten Baumarkts, dir zuliebe schneide ich auch in den anderen Arm. Für dich meine Schmerzen und danach küssen wir uns. Das Blut läuft hinab und tropft auf den grauen Asphalt des Parkplatzes. Tropft rot und trocknet dunkel. Wir küssen uns, während wir spüren, wie die warme Flüssigkeit an uns herab läuft.

Auf dem Parkplatz vor dem Baumarkt fährt langsam ein auberginenfarbener Porsche Targa an uns vorbei, in dem drei junge Männer sitzen, Anfang Dreißig, lässige Frisuren, etwas herausgewachsen, der eine hat die Haare gefärbt, sie sehen unnatürlich blond aus. Die drei sitzen in dem auberginenfarbenen Porsche Targa eng zusammen, hinten der sitzt quer auf der schmalen Sitzbank. Ich hatte den Wagen eben schon gesehen, er fuhr auf dem Parkplatzgelände um die parkenden Autos herum. Der Porsche hat wenige Meter vor uns gehalten. Der eine der drei, der den Wagen fährt, er nimmt eine Hand vom Lenkrad und winkt uns, und ich hebe meine Hand. Hallo. Auf dem Beifahrersitz ist das Fenster herunter gelassen. Eine Frage bitte, sagt der, der dort sitzt. Ja, was denn? Wir sind drei gesuchte Terroristen, und wir sind auf dem Weg in unser Bombenlager. Dort werden wir gleich verhaftet werden. Es ist für uns der Anfang vom Ende und es dauert an und dauert. Es ist der Anfang von vielem, antworte ich. Wir fühlen uns schuldig, aber wir geben es nicht zu, ruft der vom hinteren Sitz. Und was macht ihr jetzt hier vor dem Baumarkt? Wir kreisen. Das ist unser Schicksal, wir kreisen um die Baumärkte Deutschlands, dort, wo es gute Rohstoffe zum Bombenbau gibt. Außer¬dem sind wir Botschafter deiner Individualität, ruft der von hinten, deshalb sind wir auch hier. Der auf dem Beifahrersitz lächelt seine Knie an. Nein, sagt sie, neben mir, und hebt ihren rechten Zeigefinger in Richtung der Wagentür, ihr seid Botschafter der Angst. Ja, ihr seid Botschafter der Angst und der Individualität, das gehört nämlich zusammen. Vielleicht, sagt der am Lenkrad, vielleicht hast du Recht, vielleicht sind wir doch nur Einzelne. Und was macht ihr beiden, heute Vormittag auf dem Baumarktparkplatz? Wir? Wisst ihr, wir kaufen ein, Totes Meer Shampoo, extra sensitive. Und hier im Baumarkt teilen wir gleich die Produkte ein, in gute Produkte und in böse Produkte. Das tun wir für uns, das müssen wir tun, das ist für unsere Individualität und unser Verhältnis zur globalen Welt wichtig. Der auf dem Beifahrersitz hat langsam seinen Kopf gehoben. Was ist eigentlich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren so alles passiert? Wisst ihr, wir reden sehr selten mit anderen Menschen. Wir kreisen nur über Baumarktparkplätze und können unseren auberginenfarbenen Porsche Targa ja doch nie verlassen. Was passiert ist? Die Welt ist kleiner, aber gleichzeitig unübersichtlicher geworden, das Land ist erfolgreich, wie immer, die Qualität der stabilen deutschen Einkaufswagen ist weltweit unübertroffen. Wir haben ein geheimes Monopol auf Einkaufswagen. Aber die Stim¬mung ist eigentlich nicht so gut, glaube ich, und das nicht nur in diesem Land. Ja, sagt er, die Stimmung war noch nie so gut. Wir haben auch Angst. Ja, aber ihr habt eine andere Angst, sagt sie, nicht die ausdauernde Angst, die Teil der schönen neuen Individualität ist. Ja, das stimmt, wir sind jetzt einfach nur noch schuldig, sagt der auf dem Beifahrersitz. Ach was, ruft der vom Fahrersitz und starrt dabei nach vorn durch das Glas der Frontscheibe, starrt und ruft, vielleicht ist es auch nur ein dummes Gefühl, zu viel Drogen und so, einfach nur zu viel Drogen. Dann gibt er Gas. Sie fahren weiter und der Wagen verschwin¬det hinter der Baumarktecke.

Wir gehen weiter, zum Eingang. Wollten die nicht nach dem Weg fragen? fragt sie, ja vielleicht wollten sie das, wahrscheinlich, vielleicht haben sie das vergessen. Sie existieren ja gar nicht mehr selbst.

Später, nachdem wir den Baumarkt wieder verlassen haben, gehen wir zurück auf die Vorstadtstraße und dort weiter, ein breiter Gehweg neben dieser leeren breiten Straße, gehen weiter und kommen schließlich an der Ga¬rage vorbei. Dort waren wir im letzten Sommer öfter, jetzt ist sie geschlossen. Die Garage ist eine Garage mit einer Bar. Eine Lichterkette mit weißen Glühbirnen hängt dort drinnen an der dünnen Betonwand. Eine Garage zwischen anderen Garagen an dieser Straße. Sie haben eine Tür in das Tor geschnitten, eine Tür aus Blech. Eine Bar und drei Tische stehen darin, einige weiße Plastikgartenstühle und gestapelte Bierkästen.

Wir sitzen im letzten Sommer dort in der Garage und trinken etwas, vielleicht Wodka gemixt mit Energydrinks aus Plastikbechern. Die Garage dröhnt von der Elektro¬musik. Ein für seine elektronische Musik bekannter Musiker hat sie programmiert, nächtelang hat er auf dem dreiunddreißig mal dreiundzwanzig Zentimeter großen Display seines schönen Notebooks diese Musik pro¬grammiert. Es ist das Beste, was es derzeit gibt. Wir fühlen uns selbst und auf der Tanzfläche in der Garage wird getanzt. Drei Leute tanzen. Neben uns sitzt eine große Frau mit blonden Haaren, sie hat große weiße Brüste und sehr breite Hüften, die rechts und links über ihren Stuhl ragen. Eine Brustwarze liegt auf dem Saum ihres Ausschnitts auf. Da fließt etwas aus ihrem Kleid, irgendetwas fließt an ihrem Bein herab, das ist mir egal, ich schaue weg und trinke aus meinem Plastikbecher, und der ist gleich schon wieder leer.

Dann stehe ich auf und verlasse die Garage. Die große blonde Frau folgt mir und wir küssen uns eine Weile da draußen, an die Garage gelehnt und dann geht sie. Ich blicke ihr nach. Vor der Garage draußen wackeln die grau¬grün gestrichenen Straßenlampen im Wind, sie haben sich automatisch eingeschaltet, obwohl es noch Tag ist. Es ist der letzte Sommer, es ist warm, es ist dunkel geworden, plötzlich oder einfach so. Das sind hohe schwarze Wolken, die nun den Himmel bedecken. Alles ist nass, es hat eben schon geregnet. Dann kommt sie auch aus der Garage und fragt, was hast du nur getan? Was hast du nur getan? Nichts, antworte ich, nichts, ich kann mich an nichts mehr erinnern. Na gut, sagt sie, und wir gehen weiter.

Auf der Einkaufsstraße, auf dem Weg zum Drogerie¬markt, bleiben wir vor diesem Eiscafé stehen und setzen uns davor an einen der Tische. Wir bestellen zwei Gläser Kaffee mit Milch. Es ist hell, es ist Juni, es ist warm, es ist Mittag. Der junge Kellner mit halblangen braunen Haaren starrt mit leeren Augen über die Straße und stellt langsam den Kaffee vor uns ab.

Und ich sehe sie an und denke an Sexszenen. Da wackeln ihre Brüste in diesem Film immer im Kreis, während sie sich sitzend bewegt und lächelt, sie bewegen sich im Rhythmus des Auf und Ab in kleinen spitzen Kreisen. Und ihr Zungenpiercing glänzt im Mund und ich lächle sie an und frage mich, warum ihre Brüste nicht hinauf und hinab wippen, ihre spitzen Brüste gehen in Kreisen. Und dann schaue ich mir die drei Insekten an, die sie auf ihren rechten Oberarm tätowiert hat. Diese Insektenzeich¬nungen oder Comics, und wieder schaue ich ihre Brüste an und in ihr lächelndes Gesicht.

Mit meinem Löffel rühre ich meinen Kaffee um. Was machst du eigentlich, was machst du eigentlich wirklich? frage ich sie, ich möchte wissen, was das ist, was du machst. Was ist das eigentlich? Das, wovon du sagen kannst, dass du das machst. Was ist das also, was du tust, jeden Tag, dieser Unsinn an den du nicht glaubst und an den auch sonst keiner glaubt. Was ich mache? Ich helfe anderen Menschen. Ich bin mir natürlich oft nicht sicher, ob ich ihnen wirklich helfe. Genau, das ist doch nur überflüssiges Zeug, da im Krankenhaus, das denke ich oft, da gibt es so viele überflüssige Krankheiten, die Leute sollen besser auf sich aufpassen, damit sie nicht krank werden. Ja, aber manchmal ist man einfach zu schwach, sagt sie. Auch mir fällt es oft schwer, mitzufühlen. Sie nimmt mit dem Löffel Schaum von ihrem Kaffee und nimmt den Löffel in den Mund. Wir sitzen und schweigen.

Ich werfe dich weg, denke ich, da in den Mülleimer, die schwarze Plastikmülltonne, da schmeiße ich alles rein, was mich an dich erinnert und meine Gedanken an dich werfe ich da hinein, und meine Erinnerung an dich und alle vier-hundertfünfzig Fotos und dann bist du weg, ich werfe dich an diesem Tag, aus diesem und aus dem folgenden Tag und aus allen weiteren Tagen, in denen ist kein Platz mehr für dich. Anders geht es wohl nicht, ich muss an mich denken, das ist meine Pflicht, ich kann gar nicht anders, als an mich zu denken.

Bis ich dich irgendwann, aber nur vielleicht, eines Tages nach Monaten oder einem Jahr noch einmal für eine Stunde treffe. Nachmittags in irgendeinem Café in einer sich selbst überflüssigen Stadt treffe ich dich, und du bist so überflüssig wie diese Stadt. Und ich bin für dich genauso zu viel, jetzt zu viel und sonst auch. Wir schweigen minutenlang, und dann stehst du auf von deinem Stuhl, in dem Café, in dem wir dann sitzen und dann gehst du und ich bin froh, dass du weg bist, aber du kommst noch einmal an den Tisch zurück und willst mir etwas sagen. Du sagst es aber doch nicht, du gehst nur.

Langsam nehme ich wieder den Löffel und rühre noch einmal durch den Milchschaum meinen Kaffee um, und mir gegenüber klopft sie mit der Rundung ihres Löffels auf dem Rand ihres halb leeren Kaffeeglases herum. Immer wieder klack, klack. Wir sitzen und schweigen. Dann stehe ich auf und sie steht auch auf. Schweigend umarmen wir uns. Ich spüre ihren Körper und sie legt ihren Kopf an meine rechte Schulter, und so bleiben wir stehen. Nach einer Weile setzen wir uns wieder.

Zwei Tische weiter sitzt diese unglückliche Kleinfamilie mit einem penetranten dicken Jungen. Der tyrannisiert seinen dünnen Vater, er nimmt ihm den langen Eislöffel weg und gibt ihn nicht wieder her. Sein kraftloser Vater schaut dann zu, wie der dicke Junge sich seinen Eisbecher heranzieht und das Eis seines Vaters löffelt. Schließlich bringt die Mutter, die dick ist wie das Kind, ihren Sohn dazu, mit dem Eis essen aufzuhören. Sie fordert ihn auf, sich bei seinem Vater zu entschuldigen. Und das macht er sofort und ohne Widerrede, mit Routine, und sein Vater antwortet nicht auf den Entschuldigungssatz des Sohnes.

Als wir diese Leiche aufgeschnitten haben, sage ich, diese Leiche, weißt du noch, damals? Ja, ich weiß noch. Weißt du wen ich meine? Ja, ich weiß, er. - Ja, er, er hatte diese spitze Nase und polierte Fingernägel und noch glatte, sehr weiße Haut. Und als wir den Muskel in seinem Unterarm freigelegt hatten, da habe ich einmal an deine Muskeln denken müssen, die in deinem weiblichen Oberschenkel, am Beinansatz innen, weit oben, und ich dachte, wie wäre es, wenn ich deine Muskeln da im Oberschenkel freilegen würde. Ich würde deine zarten Muskeln betrachten und dein Fleisch berühren, und küssen würde ich dein Fleisch. Aber dann bekomme ich eine Infektion und sterbe an deinen Küssen, das ist dir ja wohl klar. Nein, du bekommst nichts, du bist immun und deinem Fleisch kann niemand etwas anhaben. Es ist beruhigend, zu sehen, dass dein Leib, dass deine Muskeln aussehen wie aus dem Lehrbuch, wie das Fleisch von jedem anderen Mensch. Und dann nähe ich sehr zufrieden deinen Oberschenkel wieder zu. Du bedankst dich für mein so großes Interesse an dir. Nur ich durfte dein Innerstes küssen.

So etwas Ähnliches habe ich auch schon einmal gedacht, ich dachte, ich säge mit einer dieser kleinen elektrischen Kreissägen deinen männlichen Kopf auf und betrachte dein Gehirn, die weißen verschlungenen Windungen, dort unter der festen blassen Hirnhaut, während du darin denkst. Während es in dir denkt. Und, siehst du etwas darin? Ja, lauter Wörter fließen blass in den transparenten Gängen deines Gehirns, sie fließen hin und her, manche schneller, manche langsamer. Ab und zu ein Bild, eine Szene. Und dann beuge ich mich hinab und schaue und sehe, dass es immer das gleiche Wort ist, das da herum¬fließt, der gleiche Gedanke. Das Wort ist "Angst", immer wieder kommt es da entlang geflossen, mal ist es blau und schön geschrieben, mal ist es neongrün und dick. Dann kommt ein ganzer Satz. "Ich habe Angst", kommt ange¬flossen, schwarze Buchstaben, immer mal wieder. So, so, denke ich, er hat also Angst. Wovor nur, ja, wovor nur, das wagt er noch nicht einmal zu denken. Dann klappe ich deinen Schädel wieder zu und es denkt in dir allein weiter.

Wovor hast du Angst? Was sollen die Zweifel? Warum willst du nicht mehr im Krankenhaus arbeiten? Das wolltest du doch immer. Nein, ich will nicht, ich will es wirklich nicht mehr. Warum, weiß ich auch nicht so genau. Ich möchte vielleicht nur meine Gefühle fühlen, und ich möchte fühlen, dass die wichtig sind und dass die wahr sind und dass ich mich darauf verlassen kann. Das will sicher jeder, sagt sie.

Wir haben dann unseren Kaffee ausgetrunken und stehen auf, und wir gehen wieder weiter, ich möchte schließlich auch noch das Shampoo kaufen. Im Gehen spricht sie hinter mir, sie ist stehen geblieben, ich gehe weiter und höre sie sprechen, du bist irgendwie nichts. Ich gehe weiter. Du bist irgendwie nichts. Soll sie doch reden. Du bist nichts und austauschbar. Oder was bist du? Meinst du, du bist mehr? Sie steht und redet. Du bist nichts, kann man sich denn für dich interessieren? Ich gehe zu ihr zurück und sage laut, hör auf damit, mein Leben geht dich nichts an. Ist ja schon gut, sagt sie und lächelt.

Vier Häuser weiter, an einer Bäckerei, will sie sich eine süße Brezel kaufen. Ich muss unbedingt noch etwas Süßes essen. Von draußen schaue ich durch die breite Glasfront zu, wie sie sich anstellt und wie sie wartet, um gleich bedient zu werden.

Du sollst mich morgen Nachmittag wieder in meinem Apartment besuchen. Du sollst mich in meinem Apart¬ment besuchen und das sollst du jeden Tag tun, du sollst hereinkommen und dich hinsetzen und zum Fenster hinausschauen, da auf das andere Haus, wo nichts ist, du sollst hinausschauen und nichts sagen. Du sollst nichts sagen, weil du gerade nichts sagen möchtest. Und später gehst du, und du steigst unten auf dein Fahrrad und fährst weg, aber ich fahre dir nach, und du weißt nicht, dass ich dir nachfahre. Du weißt es nicht, aber du spürst es vielleicht. Ich folge dir, immer neben der breiten Straße auf dem markierten Weg für Radfahrer und über die Kreuzung und weiter, dann neben dem dichten Verkehr und ich sehe, wie du fährst und wie du durch das große alte, lächerliche Stadttor fährst und weiter gegen die Einbahnstraße und dann hast du fast einen Zusammen¬stoß mit einem Kinderwagen, und diese Frau, die den Kinderwagen schiebt, sie wischt mit der Hand durch die Luft und hat ein wütendes Gesicht und ruft etwas, und du rufst zurück, und fährst einfach weiter. Etwas später bleibst du vor dem Laden mit dem Asia-Food stehen und schaust hinein, und du überlegst, ob du etwas kaufen sollst, du überlegst, ob du heute asiatisch kochen sollst.

Sie kommt zurück aus der Bäckerei, mit ihrer gekauften Brezel und packt sie gleich aus und beginnt zu essen. Sie beißt von der Nugatbrezel ab, die sie halb aus der Papier¬tüte geschoben hat, und ich stelle mir vor, wie sich in ihrem Mund Speichel und Kuchenstücke und Nugat mischen, wie die Metallkugel auf ihrer Zunge sich darin hin und her bewegt. Pass mal auf, sagt sie, ich zeige dir jetzt, was Wahrhaftigkeit ist. Mit der Nugatbrezel in der Tüte, in der hoch gehaltenen Hand, rennt sie auf die Straße und rennt gegen ein vorbeifahrendes Auto. Ihr Kopf schlägt auf, ihr Körper wird herumgeschleudert, das Auto fährt weiter. Es war dunkelblau, ein dunkles Auto, es ist weg. Sie liegt da, neben dem Straßenrandstein, als sei sie Teil der Straße. Sie bewegt sich nicht mehr, sie liegt da, als hätte sie sich dort parallel zur Straße hingelegt. Ich laufe zu ihr, knie nieder und nehme ihren Kopf. Sie lächelt mich schwach an. Ich muss weinen. Blut fließt aus ihrem Körper, ich weiß nicht woher es kommt, es ist so viel. Ich lege ihren Kopf sanft zurück, springe auf und laufe zu dem türkischen Imbiss an der Ecke, gehe rasch zur Theke und greife mir einen Stapel weißer Papierservietten und laufe zurück. Sie starrt in den blauen Sommerhimmel. Bist du wach? Sie blickt mich langsam an. Schnell stopfe ich die Papierservietten rund um ihren Körper zwischen Körper und Asphalt. Das Blut soll nicht von ihr wegfließen, es soll alles bei ihr bleiben. Ich muss wieder weinen. Dann stirbt sie.

Das ist anstrengend, diese Wahrhaftigkeit. Aber jetzt ist es genug mit der Wahrhaftigkeit, sage ich zu ihr. Jetzt ist es gut damit, lass uns endlich mit all dem Zeug auf-hören und weiter machen und das Shampoo kaufen gehen. Und sie schlägt die Augen wieder auf und versucht aufzustehen, ich helfe ihr, das geht dann ganz leicht, sie klopft sich langsam ab und wir gehen zurück zum Geh¬weg und weiter auf der Einkaufsstraße zum Drogerie¬supermarkt.

An der Kasse warten wir, bis wir an der Reihe sind zu bezahlen, das "Totes Meer Shampoo", das auf dem schwarzen Band steht, das lege ich hin. Dahinter liegt ihr neues Portemonnaie. Sie hat für sich das Portemonnaie im Drogeriemarkt gefunden, hellblaues Plastikleder, dick ist das, auch leer schon dick. Das werde ich nun immer wieder sehen, wenn sie es aus ihrer Tasche nimmt. Wir bezahlen getrennt.