Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Jan Böttcher (Foto: Timm Kölln)
Jan Böttcher
Freundwärts
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22 Uhr 35, die allerletzte Überfahrt. Als Jo Brüggemann auf die Fähre hinabrollte, krachte die eiserne Rampe, bog sich unter der Last des Wagens. Er reckte den Kopf nach der Fährfrau, und prompt trat sie an Deck, in ihrem gelben Öljackenponcho. Ein Kommando blieb aus – warum auch sollte sie ihm mit ehrgeizigen Bewegungen einen Stellplatz zuweisen. Er war der einzige Fahrgast an Bord. Niemand war vor ihm, niemand würde ihm folgen.

Jo wechselte Blicke mit seinen Außenspiegeln, links, rechts, kurbelte am Lenkrad, konzentriert auf eine ideale Parkposition, die es gar nicht gab. Schließlich rastete die Handbremse ein, und die Scheinwerfer zeigten hinaus auf die Elbe.

Die gelbe Boje verlangte ihre drei Euro fuffzig, Jo Brüggemann stieg aus dem Wagen und zählte ihr das Geld in die Hand. Fünfzehn, sechzehn, dachte er dabei, siebzehn Jahre waren jetzt vorüber – und noch immer keine Brücke von West nach Ost.

Für Oktober stand der Fluss recht hoch, Wind riffelte das Wasser auf, und die Strömung zog die Fähre anfangs so stark flussabwärts, dass sie in einer Kurve auf den östlichen Anleger zuarbeiten musste. Der satte Bass des Dieselmotors strömte ihm in die Füße, unruhig hob und senkte sich vor ihm der Bug.

Keine fünf Minuten später machte die Fähre fest, und es kam ihm vor, als sei die Eisenrampe am Ostufer um ein Vielfaches steiler als jene, über die er im Westen auf die Fähre gerollt war. Ein leichter Anstieg noch bis zum Deich, dahinter ver-breiterte sich die Straße zur Landstraße. Seine Heimat war platt, aber kurvig, immer wieder musste man mit der Motorbremse arbeiten, in den zweiten Gang zurückschalten. Jo sah im Scheinwerferlicht, dass andere schneller gefahren waren als er: Hundert Meter nach dem Ortsausgang steckten schon frische Kreuze am Straßenrand. Die Vornamen darauf klangen jung, sagten ihm nichts, aber den Nachnamen, den er einmal im Vorbeifahren las, kannte er.

Die hatte sein Großvater jetzt auch noch alle überlebt.

Sein Vater hatte ihn angerufen, weil es Fritz schlechter ging. Und Jo hatte seine Nachtschicht einem anderen Funker übertragen und war losgefahren. Dass er überhaupt in die Dienstpläne eingreifen konnte, war der einzige Vorteil seiner Degradierung – er nutzte ihn nur allzu häufig aus. Die Kollegen mochten mittlerweile denken, Jo habe sich versetzen lassen, um nachts aufs Land zu fahren und sich um seinen Großvater zu kümmern.

Bögen und Kurven und reflektierende Warnpfeile. Jo saß aufrecht hinter dem Lenkrad. Von Richtung Neuhaus war die Straße eine schnurgerade Allee, beidseitig gesäumt von knorrigen Apfelbäumen – von Westen aber, wo er herkam, schlängelte sie sich durchs Gelände wie die Elbe selbst.

Er hatte das Radio laut gedreht, war ins Gitarrensolo von Stairway to Heaven geraten. Dann lieber das Klavierkonzert auf der nächsten Frequenz. In Moll, mehr hörte Jo Brüggemann da nicht heraus. Die Dun-kelheit begann ihn zu demütigen. Als müsse er hier noch heimlich ankommen und unerkannt bleiben.

Endlich gab sich die kurvige Straße auf, gab sich der Apfelallee hin, wurde erstmals für viele hundert Meter zur Geraden. Jo Brüggemann hatte immer das Gefühl, dass die Straßen hier ineinander flossen, sich versöhnten, hier, wo das Schild aufleuchtete, knallgelb: Stolpau 1 km. Stichstraße nach rechts. Er hatte vor der Fahrt viel Kaffee getrunken, und all seine Wachheit legte er jetzt in die raumgreifenden Bewegungen, mit denen seine Arme das Lenkrad herumdrehten. Für einen Moment kam es Jo vor, als sei der Wagen ein mächtiger Stadtbus, der in eine enge Straße einschwenkte.

Alles Licht und Leben im Dorf schien erloschen, auch der Deichkrug hatte schon geschlossen. Jens Lewin, dachte er, sein Jahrgang, sein Jugendfreund, der würde sich eher foltern lassen als den Gasthof hier zu übernehmen. Der war in Hamburg angekommen, konnte seine Alten auch mal links liegen lassen.

Jo fuhr an der Kirche vorbei, eine Anhöhe hinauf. Ab hier verlief die Straße auf dem Deich. Er parkte. Als er hinaustrat, fing es ganz leicht an zu regnen. Der Fluss war nicht vom Himmel zu scheiden. Jo drehte sich herum, binnendeichs sah er nun doch hinter einigen Fenstern funzeliges Licht.

Fritz lag im Obergeschoss und atmete flach. Er war jetzt wieder etwas mehr sein Großvater als im Sommer, da hatte sich der Alte zu einer dicken, wächsernen Puppe aufgebläht, in Armen und Beinen hatte sich Wasser abgelagert, das Herz war immer schwächer geworden. Die Ärzte aber hatten entschieden, das Gerät nicht abzustellen. Dieses Gerät war ein Defibrillator, ein implantierter Rhythmusmesser, der das Herz bei Unterschreitung einer eingestellten Schlagfrequenz ruckartig zu höheren Leistungen antrieb. Der zuverlässigen Hilfe wegen nannte Fritz es liebevoll Defi.

Jo saß am Bett. Was sollte er hier? Seit zwölf Jahren hielt er Händchen, machte Wickel, redete vor sich hin. Seit zwölf Jahren zeigte der alte Mann die Wirkung der Handgriffe und Worte beinahe ausschließlich dadurch, dass er überlebte.

„Wisch doch die Schrift mal wieder aus“, flüsterte Fritz ihm zu. Jo nickte lächelnd: „Dir geht’s wohl zu gut. Wo kommen denn hier plötzlich ganze Sätze her?“

Er ging hinunter ins Bad, kleine Handtücher einwei-chen.

Natürlich fiel ihm das ein: Wie er diese Treppe nur hinter seinem Großvater hinab gestiegen war, immer morgens kurz vor sechs, über den Hof, in den Stall, um frisches Futter für die Kühe und Schweine in die Koben zu gabeln, zu schütten. Was heute auf dem Nachttisch lag, hing damals noch am Stall: das kleine, angerostete Blechschild einer Feuersozietät, ein weißes Pferd, das sich auf rotem Grund streckte. Dieses Wappen hatte Fritz täglich berührt, bevor er zu den volksei-genen Tieren ging. Es war das niedersächsische Pferd, es war Großvaters Schutz-patron.

Das Badezimmer roch wie üblich nach Mull, es stapelte sich frisches Verbandsmaterial, links die Rollen, rechts die Kompressen, dazwischen der Spiegel, in den Jo blickte. Wer gab den beiden eigentlich die ewige Erlaubnis, ihn herbeizurufen wie einen Diener?

Die Schrift auswischen, einen Dreck würde er.

Er schlug sich kaltes Wasser ins Gesicht. Rieb sich die Augen mit den Zeigefingern. Weichte die Handtücher ein. Und konnte das Bild schon nicht mehr los-werden. Wie sich Fritz sonntags nach der Tierfütterung ein Ledertuch genommen hatte und auf die Leiter gestiegen war, um die geschnitzte Hausschrift zu reinigen, jeden einzelnen gelb gestrichenen Buchstaben auf den drei dunklen Balken, die das Fachwerk seit 1886 über dem Parterre umrahmten und hielten: Wer nur den lieben Gott lässt walten / und hoffet auf ihn alle Zeit, / den wird er wunderbar erhalten / in aller Not und Traurigkeit. / Wer Gott, dem Allerhöchsten traut, / der hat auf keinen Sand gebaut. Wie Fritz Brüggemann sich weit nach beiden Seiten reckte. Erst wenn er beim nächsten zu säubernden Buchstaben zu fallen drohte, stieg er von der Leiter und stellte sie um. Jo stand unten, ein Junge, der zwei oder dreimal pro Ritual geschickt wurde, den dreckigen Lappen auszuwaschen. Neben ihm wartete der Abschnittsbevollmächtigte auf die Leiter, denn die gab es im Sperrgebiet nur geliehen.

Die Hausschrift der Brüggemanns war die erste Strophe eines alten Kirchenliedes, das die Bewohner Stolpaus und der umliegenden Dörfer noch heute sangen. Kein Text sprach den Christen am Fluss mehr aus dem Herzen, denn natürlich ließ Gott die Sterblichen genau hinterm Deich seit Jahrhunderten auf nichts anderem als auf Sand bauen. Sand allerdings, aus dem er wunderbar fruchtbaren Boden geformt hatte. Die Elbauen waren ein Geschenk, und solange Fritz aufstehen konnte, war er nicht nur sonntags, sondern täglich hinüber gegangen in die Kirche, um im Gebet zu bekennen, dass außer Gottes Herrschaft keine, auch die der dollsten Einheitspartei nicht, ihn von Feuer, Blitz und Flut verschonen könne.

Es reichte, diese Treppe rauf- oder runter zu gehen, um sich selbst zu verlieren. Auf der sechsten Stufe war wohl eine Art Lichtschranke. Wenn Jo die durchschritt, musste er sich fragen, ob im Stockwerk, das er gerade im Begriff war zu verlassen, wirklich alles in Ordnung war. Ob er dort nicht noch gebraucht wurde.

Auch jetzt drehte er auf dieser Stufe um, ging über den Flur und trat ins Wohnzimmer seines Vaters ein. Viertel nach elf war für Hans Brüggemann spät, aber er saß aufrecht in seinem Lehnsessel, als wollte er sich einem Gespräch stellen. Der Sohn küsste ihn auf die Stirn.

„Wie geht’s ihm denn?“, fragte Hans leise.

„Wie immer“, sagte Jo.

„Aber er hat gebimmelt.“

„Ich weiß.“

Der Blick des Vaters ruhte auf dem Sohn, lange schwiegen sie sich an. Hinter Hans hing das Simplex-Gerät an der Wand wie eine Trophäe. Mit dem Ding war er früher auf Patrouille gegangen, ein Freiwilliger Helfer der Grenztruppen. Simplex, wusste Jo, hieß entweder empfangen oder senden, beides gleichzeitig ging damit nicht. So hielt man es im Haus noch heute: In der rechten Zimmerecke kam ein Holzstab aus der Decke, daran war eine Glocke befestigt, die Fritz vom Bett aus zum Klingen bringen konnte. Oft genug empfing Hans Brüggemann am Abend hier unten das Signal und sendete ein anderes nach Hamburg, an seinen Sohn.

„Ich wollt dich nur noch kurz sehen.“

„Na ja.“

„Ich geh denn zu Bett.“

„Tu das, Papa.“

Der Vater stemmte sich aus dem Sessel und trat plötzlich zur Seite ab, ohne sich noch einmal umzudrehen. Zur Tür seines Schlafzimmers sagte er:

„Wir sehn uns zum Frühstück, nä?“

„Ja.“

Der Sohn blieb zurück, jenes Sprichwort im Kopf, das auf plattdeutsch sagte: Sperr nie ein bockiges Jungpferd mit einem sturen Gaul zusammen. Ja, die Alten, was für ein Gespann! Für die beiden würde es noch auf dem Mond keine gemeinsame Partei geben.

Jo ging die Treppe hinauf, legte dem Großvater die Wickel an, saß eine halbe Stunde am Bett. Natürlich erkannte ihn Fritz, aber er konnte die Augen nur selten schlitzweit öffnen. Vielleicht sollte Jo ihm zum Einschlafen aus der Bibel vorlesen, irgendeine dieser Parabeln, dieser Glaubensbebilderungen.

Wenn Jo einfach so losheulte (was er jetzt nicht tat), dann nur über die unbändige Kraft, die sein Großvater einmal besessen hatte. Meckerfritze, das hatte er nicht nur als ulkigen Titel, sondern immer auch als Aufforderung verstanden, er meckerte ja gerade dann sehr gern, wenn man es ihm verbieten wollte. Ein Landwirt natürlich, und Landraub nannte er, was der Staat mit der Kollektivierung in den Fünfzigern an ihm verübt hatte. Wann immer er der DDR Versäumnisse vorwarf, musste man seinen persönlichen Verlust an Kühen und Ackerfläche mitdenken.

Jo vermisste die Tiraden des Großvaters, das waren bewegende Momente in diesem Haus gewesen, gern getarnt als Abriss der ostdeutschen Agrargeschichte. Fritz hatte bei den schwachsinnigen Überlegungen zur Bodenreform begonnen und endete jedes Mal mit wenigen, aber vernichtenden Worten über den LPG Typ III, für den sein Sohn Hans als Brigadier damals immerhin die Mitverantwortung trug. Ihr habt nicht mal ’n Plan für fünf Minuten, rief mit glühendem Gesicht derselbe Alte, der jetzt vor Jo lag und nur grunzte, wenn er zu wenig Luft bekam.

Wieder griff ihn die Stille an. Jo hatte plötzlich Lust zu rauchen, aber Zigaretten gab es nur in Lewins Deichkrug. Also nahm er sich einen Whisky aus dem Eckschrank, nippte daran, hielt das Glas seinem Großvater unter die Nase. Nicht einmal lächeln konnte Fritz. Schließlich ging Jo mit dem zweiten Whisky hinüber, legte sich aufs Sofa, ohne Licht zu machen, starrte an die Decke seines Jugendzimmers, das ihm über die Jahre zum Gästezimmer geworden war. Das Glas stand auf seinem Bauch.

Und was hätte man als Jugendlicher tun sollen, in diesem Irrenhaus! Einmal hatte Jo gesagt, er könne bei so ’ner Lautstärke nicht einmal darüber nachdenken, ob er den Hof später weiter führen werde. Da hatten die Streithähne zu krähen aufgehört, kurz mit dem Kopf gezuckt, einander angesehen und über das, was Jo gesagt hatte, wieder zu streiten begonnen.

Einschlafen? Das konnte er grad mal vergessen. Das hatte hier noch nie geklappt, wenn er es sich vornahm. Jetzt gingen seine Gedanken auch noch den eigenen Lebensweg ab. Für ein Studium war nie genug Geld dagewesen. Aber machte er heute tatsächlich wieder das, was er mit dem Ende der DDR hingeschmissen hatte? Nachrichtentechnik. Nur nicht mehr, um in Erfurt die Mikroelektronik für Computer zu verfeinern, sondern ganz woanders, ganz schnöde – am Mikrofon des Hamburger Polizeifunks.

Zur Karriere bei der Polizei hatte ihm Hans geraten, mehr als das, der Vater hatte so lange auf Jo eingeredet – dein hohes Unrechtsbewusstsein, dein gutes Auge, die nötige Strenge für den Beruf –, bis er den Schmeicheleien nicht mehr widerstehen konnte. Aber die Entscheidung selbst war doch kein Fehler! Jo hatte die Ausbildung bei der Hamburger Polizei mit Bravour bestanden. Ein guter Schütze, korrekt im täglichen Dienst. Sechs Jahre später war aus dem Polizeimeister ein Kommissar geworden. Man entnahm seinen Akten, dass er einmal Zusatzkurse zum Funker belegt und auch die unge-wöhnlich gut abgeschlossen hatte.

„Ja, eine Leiden-schaft.“

„Interessant.“

Dieser kurze Dialog fand allerdings in einem Disziplinarverfahren statt, welches eröffnet wurde, weil zwei Beschwerden über Jo aus der Bevölkerung und eine von Kollegen vorlagen, die sein Auftreten als überhart einstuften. Jo Brüggemann war angeeckt. Na gut. Aber zynische, sogar menschenverachtende Kommentare gegenüber unschuldigen Passanten? Hätte er sicher nicht abgegeben, konnte ja wohl nicht wahr sein.

In der Nacht Westwind, sehr unstet. Die meiste Zeit ließ er den Regen zwischen die Höfe fallen, um ihn sich plötzlich zu greifen und Jo Brüggemann auf die Dachfensterscheibe zu drücken. Und der lag weiter wach unter dem Prasseln. Er hörte außerdem das Schnarchen des Großvaters nebenan.

Vor dem Polizeigericht zitierte Jo einen Satz Friedrichs des Großen, den er sich früh eingeprägt und nun endlich sehr ernst aufgesagt hatte: Wie ein Land an der Grenze funktioniert, so funktioniert ein Land. Ein Lieblingssatz seines Großvaters.

Seine Vernehmer sahen sich ratlos an.

Jo fuhr fort, er würde niemals behaupten, größeres Unglück als andere durchlitten zu haben, aber er habe schon immer gefunden, dass in diesem Friedrich-Zitat alles über seine Jugend gesagt sei, und auf seine Jugend wolle er sich jetzt mal berufen, wenn das nicht auch schon wieder verboten sei. Die gewaltige Präsenz des Eisenzauns. Die Sirene. Die Schüsse. „Wenn Sie mich also hart nennen, kann ich nur sagen: Humorige Menschen wachsen woanders auf.“

Seine Vernehmer nickten nur, weil sie so staunten. Es hieß, er solle erstmal wieder zur Ruhe kommen, wofür er nach dem Verfahren in ein Gefilde versetzt wurde, das die Ruhe selbst war, auch wenn viel gesprochen wurde: der Polizeifunk. Funken kam Jo vor wie Angeln, die Kabine wie ein Platz am See. Härter konnte die Strafe nicht sein.

Härter war nur, dass die Strafe seit vier Jahren anhielt. Hob Jo die Hand und meldete Ansprüche an, musste das als sicheres Zeichen dafür gelten, dass er noch nicht zur Ruhe gekommen war. Unter den Kollegen kursierte die Frage, ob sich Brüggemann wirklich über die Sirene beschwert habe. Ein Missverständnis wurde zum Witz auf seine Kosten. Jo wurde nur bei Demos gegen die Castor-Transporte eingesetzt, um wie alle anderen auch seine Überstunden anzuhäufen. Ansonsten ließen ihn seine Vorgesetzten auf der Funkstation vergammeln.

Wann hatte es aufgehört zu regnen? Und jetzt das unverhoffte Licht! Er musste also doch geschlafen haben. Jo stieß sich in die Senkrechte, etwas Besseres als einen frühen Spaziergang konnte man hier nicht erleben. Er schlüpfte in die Gummistiefel seines Vaters. Sein Atem in der Hofluft. Stumpf stand die Sonne auf den Stolpauer Wiesen, versilberte die Nässe.

Jo Brüggemann ging nicht auf dem Deich entlang, er ging freundwärts, ins Binnenland. Seine Hände lagen auf dem Fernglas, das vor seiner Brust hing. Er atmete tief durch, wechselte in den Laufschritt, um seinen Körper zu spüren. Ließ ein brachliegendes Feld hinter sich, durchquerte Gestrüpp. Am Waldrand stand die Buche mit dem Seeadlerhorst, Jo empfand tiefen Respekt vor dem Gebilde. Kein Herbststurm hatte den Horst zerstören können, seit die Adler hier vor zwanzig Monaten ihre letzte Brut ausgetragen hatten. Wo sie in diesem Jahr nisteten, wusste er nicht, aber er sah die Altvögel recht häufig im Revier. Ihren Nachwuchs nie. Wie machte das Seeadlermännchen? Kjü, Kjö oder Jou? Ein ansteigender Laut? Ein Jubeln, wenn ja, ein fragendes Jubeln?

Drei Jahre lang ging das jetzt schon so; seit sein Vater Hans sein muffiges Zimmer verlassen und es sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Vogelatlas zu erstellen. Drei Jahre sammeln, trennen, kombinieren. Hans mit Digitalkamera, vor allem aber mit dem Minidiscgerät, Vogelstimmen aufzeichnend und seine Imitation davon. Und Jo hatte ihn auch noch mit dem ganzen Zeug ausgestattet, ihn logistisch unterstützt! Papa, die Leute wollen heute keine Schwarte mehr, mach ’ne DVD, ’ne Website! Jo hatte seinem Vater von Usern erzählt, als seien sie die einzig mögliche Zielgruppe, er hatte in Hamburg einen Programmierer für das Projekt besorgt. Und Hans Brüggemann warf seine Lethargie ab und nahm Kontakt mit dem Natur-schutzbund auf, der sich an dem Vogelatlas überaus interessiert zeigte. Hans begann wieder, fremde Menschen Idioten zu nennen und zu sagen: Am Ende verkauf’ ich sowieso meistbietend.

Seitdem also ging sein Vater nicht mehr spazieren, sondern auf Tour. Jo verstand das nur zu gut, auch er hasste Hobbys, solange sie bloß Beschäftigung blieben. Ein Ziel war nur ein Ziel, wenn man ihm einen Namen gab und ihm seine Zeit unterordnete. Mit Judo hatte Jo schließlich auch bloß begonnen, weil es diese ganzen Gurte gab, an denen man seine Leistung sichtbar messen und steigern konnte.

Stopp! Wieviele Kraniche? Jos Lider zitterten, als er die Augen schloss und die Vögel herannahen hörte. Sie flogen direkt über ihn hinweg, ein Kreischen wie von Bremsen und Keilriemen. Acht, dachte er und öffnete die Augen. Es waren zehn. Die Vorhut. Jo Brüggemann hob das Fernglas. Diese ruhige Hand war durch viel Training mit Hans auf ihn übergegangen. Lange war es her, dass die beiden gemeinsam Vögel beobachtet hatten. Der Alte trug das Fernglas an der Lederschnur um den Hals. Jo hatte unter dem Band hindurchzutauchen und sich mit dem Rücken vor den Bauch des Vaters zu stellen. Der Junge war gar nicht dazu gekommen, sich der körperlichen Nähe zu schämen, denn wenn Hans Brüggemann von hinten das Glas vor Jos Augen hielt, hockte punktgenau im Fokus ein Vogel. Hans konnte die Vögel noch ins Glas bannen, wenn er gar nicht selbst hindurch sah! Als bestünde da ein Bündnis zwischen Mensch und Tier.

Im November würde am Himmel wieder die Hölle los sein, aber jetzt waren noch keine weiteren Zugvögel ins Glas zu kriegen. Fast zwei Stunden war Jo gegangen, bis er schnellen Schrittes auf der Stichstraße zurück ins Dorf kam, auf den Sandweg vor den Deichgehöften einbog. Hans würde sicher schon mit dem Frühstück auf ihn warten. Frau Jessen, Elbdeich 3, versäumte es, zu grüßen. Die alten Leute grüßte Brüggemann höchstens zurück. War das so verwunderlich, dass er nicht übers Wetter reden wollte? Darin, sagten sie, sei er seinem Vater doch sehr ähnlich.

Der alte Lewin winkte aus dem Garten vor dem Deichkrug. Es war aber kein grüßendes Winken, es war ein Heranwinken. Verwundert trat Jo durch die Pforte und ging hinüber. Der Vater seines Jugendfreundes baute sich vor ihm auf:

„Das muss jetzt mal ein Ende haben, Jo. Dein Vater …“

„Was ist denn?“

„Was ist denn, was ist denn. Immer taucht Hans irgendwo zwischen den Feldern auf, streicht ein paar Äste zur Seite und steht plötzlich an der Straße, steht im Weg. Das ist.“

„Ach was“, wehrte Jo ab. „So’n Quatsch.“

„Die Leute haben Angst, Jo. Dass der nie damit aufhört.“

„Wer fühlt sich denn belästigt?“

„Ich hab auch die Schnauze voll davon“, sagte Lewin.

Keine Replik.

„Du, dein Herr Vater ist hier zwanzig Jahre rumgelaufen mit seinen Bleistiftstummeln im Hemd.“

Jo winkte ab, ohne ein weiteres Wort verließ er den Garten. Natürlich wusste er, dass man in Stolpau seit vielen Jahren versuchte, Hans Brüggemann auszu-weichen. Deshalb hatte der ja so lange in der Stube gehockt und Löcher in den Deich geglotzt.

Jo war das Blut in den Kopf geschossen. Er konnte nicht gleich ins Haus gehen, stieg für einen Rundumblick auf den Deich. Hoch über dem Fluss hing ein Ballon mit roten, schwarzen und gelben Streifen. Jo nahm ihn ins Visier und erschrak über das heftige Rauschen. Den Brenner hörte man bis hier drüben. Es gab Zeiten, da wäre für dich schon lange Schluss gewesen, dachte er, da hätten sie dir Kugeln in den Wanst gejagt wie einem Wildschwein.

Er hörte hinter sich ein Auto vorbeifahren und den Schlamm zu den Seiten des Weges spritzen. Bald würde der Schlamm aushärten, die Kälte an Trockenheit gewinnen. Er spürte den Frost schon auf den Lippen. So ein Herbsttag war das. Jo drehte sich einmal um die eigene Achse, das Fernglas vor den Augen. Dabei fiel sein Blick auf Hans, der die Gardine zur Seite gestrichen hatte und ihn aus der Wohnstube ansah. Der Sohn nahm das Glas nicht runter, sondern fixierte den dunklen Balken über dem Fenster. Die gelbe Farbe war fast überall abgeplatzt, die Hausschrift völlig verwittert. Niemand stieg mehr auf die Leiter. Jetzt hielt Jo das Fernglas aufs Obergeschoss. Da war natürlich nur Gardine, regte sich nichts.

Sein Großvater hätte hier der große Sieger sein können.

Wenn man bedachte, wie dieses Lächeln ins aufgedunsene Gesicht des alten Fritz getreten war! Er wollte wohl seinen Triumph zeigen, damals, vor dreizehn Jahren, aber sein Herz war schon zu schwach, die schlaffen Wangenmuskeln ließen nur noch Sanftmut zu. Jo hatte am Bett gesessen und zu erkennen geglaubt, wie all die angestrengte Abschätzigkeit, mit der sein Großvater die DDR und den darin funktionierenden Sohn Hans auch nachträglich noch bedacht hatte, einer späten Erfüllung Platz machte. Am 1. Juli 1993 wurde die Gemeinde Amt Neuhaus, in der sie lebten, rückgegliedert in Fritzens geliebtes Niedersachsen. Jo hatte es seinem Großvater aus der Tageszeitung vorgelesen.

Das war sein Erbe, das war, was dem Enkel hinterlassen wurde: ein Ballonmann, der die Hände auf der Bettdecke zueinander führte. Eine heisere Stimme, die Nun danket alle Gott flüsterte. Ein Blechschild mit einem weißen Pferd auf rotem Grund, das auf dem Nachttisch lag. Fritz Brüggemann feierte mit dreijähriger Verspätung die deutsche Wiedervereinigung.

Aber hätte er danach nicht abtreten sollen, wie Sieger es auf dem Höhepunkt ihrer Karriere eben machen? Musste sich der alte Mann diese vier schweren Operationen antun? So vom Wasser beherrscht, von innen aufgerieben zu werden. Und musste er seinem Enkel das antun, ihn andauernd in Stolpau einfahren und aus Stolpau hinausfahren lassen?

Der eine war in die Kirche gegangen, der andere zur Kreisleitung. Und welche Art der Unterweisung konnte Jo nun besser verstehen? Was genau sprach dagegen, so zu denken wie sein Vater, der da unten hinter der Gardine stand? Hineingeboren in ein Grenzland, in dem es vor Westagenten wimmelte, das sich schützen musste vor feindlicher Spionage. Ja, feindlich, feindwärts der Elbe. Hans Brüggemann, so hatte es doch geheißen, gerade am Zaun gehört sich ein klares Bekenntnis zur Partei.

Vor ein paar Jahren hatte Jo darüber noch gespottet. Aber auch der Spott war ihm vergangen. Sein Vater hatte sich diese Sprache ja auch nicht ausgedacht.

Jos Herz schlug nicht für Hamburg, aber es schlug auch nicht für Mecklenburg oder Niedersachsen. Er schritt durch die Gartenpforte auf das Hallenhaus zu, im Windfang zog er seine Gummistiefel aus und stellte das Fernglas daneben. Dann ging er hinein zu seinem Vater.

„Die ersten Kraniche“, sagte Jo.

„Deine ersten.“ Hans goss seinem Sohn Kaffee ein, dem man ansah, dass er nicht mehr heiß war. Jo köpfte sein Ei. Sie saßen an den Enden des Tisches, der Ältere hatte die Ellbogen aufgestützt.

Eine Weile verging.

„Gehst du eigentlich wieder in den Deichkrug?“

„Zu Lewin? Was soll ich da.“

Hans nahm eine Scheibe Pumpernickel aus der Packung und bestrich sie dünn mit Margarine. Auf seiner Tischhälfte stand ansonsten nur noch ein Glas Honig. Auch er musste schlecht geschlafen haben, Jo meinte sogar eine dünne, aufgeplatzte Ader auf der rechten Wange seines Vaters zu erkennen, die gestern Abend noch nicht dort zu sehen war.

„Was macht die Polizei?“

Jo biss in sein Leberwurstbrötchen.

„Sie funkt. Hat er heute Morgen noch gebimmelt?“

Hans schüttelte leicht den Kopf.

Jo nickte.

Eine Weile verging.

„Der bimmelt erst wieder, wenn du weg bist.“

Vor der Abreise ließ Jo Flüssigseife und Wasser in eine Schüssel. Er hob den Oberkörper des alten Mannes an, knöpfte ihm den Pyjama auf und wusch ihn unter den Achseln. Er kämmte ihm den weißen Haarkranz.

Jo musste nicht ständig Fritzens Hand halten, das fand der unnötig. Anwesenheit wäre ihm viel wichtiger, hatte er ihm oft gesagt. Also trat der Enkel ans Fenster.

„Weißt du noch, wie wir die Elbe sichtbar gemacht haben?“

„Mmmh“, kam die schwache Stimme aus dem Hintergrund.

Eine Streckmetallplatte nach der anderen hatten sie zwischen den Betonsäulen herausgerissen. Jens Lewin war mit dem Mofa dort auf dem Deich rumgekurvt, und er, Jo Brüggemann, hatte hintendrauf gestanden, sich mit einer Hand an der Schulter festgehalten und mit der anderen Hand die Fahne wehen lassen. Die Fahne mit dem großen Loch in der Mitte. Oder haarscharf am Zaun entlang, Brüggemann hatte Arbeitshandschuhe getragen und damit immer wieder in die Chromnickeldrähte gegriffen, durch die der Strom geflossen war, er riss die Drähte mitsamt ihren Isolatoren nach unten.

„Auf fünf Kilo war der Zaun geeicht, nicht?“

„Mmmh?“

Der Großvater drehte seinen Kopf auf dem dicken Kissen Richtung Fenster, mit einem Auge konnte er Jo wohl se-hen.

„Bei mehr Gewicht hat er ja sofort Alarm gegeben“, sagte der Junge. Er küsste seinem Großvater auf die Stirn, strich ihm auch über die Wange. „Jetzt muss ich aber, Opa.“

Fritz schloss kurz die Augen. Ein Zuzwinkern, ein Ja.

Jo Brüggemann hatte keine Tasche dabei gehabt. Er trat im Parka vor das Haus, ging die Treppe hinauf, auf sein Auto zu. Es war jetzt beinahe windstill, und als er fest auf den asphaltierten Deich stampfte, sich den Sand von den Schuhsohlen trat, hallte das Geräusch nach. Sogar ein Hund schlug an, drei Höfe entfernt. Jo zog die Fahrertür auf, sein Blick glitt noch einmal über den Türrahmen hinweg, er suchte die Ferne ab. Menschen waren nicht zu sehen, kein Mensch diesseits oder jenseits der Elbe. Er legte den Kopf in den Nacken. Über ihm war der Himmel aufgesprungen in lauter Fünfecke und Sechsecke. Schön sah das aus. Nur in den Rissen zeigte sich die Sonne.

Ende