Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Andrea Grill (Foto: L.E.L. Raijmann)
Andrea Grill
Freunde
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Ich muss vor mir selbst flüchten. Es ist, als ob jemand, den ich zutiefst hasse, eingezogen wäre, und ich vermag ihn nicht rauszuschmeißen. Er ist eitel. Unerträglich. Seit wann ist er da? Keine Ahnung, seit drei oder vier Jahren; ich lerne ihn täglich besser kennen, und mit jedem Tag wächst meine Abscheu vor ihm. Und vorher war er nicht da? Er war da, aber ich kannte ihn noch nicht so gut. Schick ihn weg. Das habe ich versucht. Er geht nicht. Er ignoriert mich. Ignorier du ihn auch. Ich kann nicht. Er ist aufdringlich. Und dann: manchmal kokettiere ich mit ihm. Die anderen mögen ihn. Sie verwechseln uns. Sie halten ihn für mich. Vielleicht ist er gar nicht so widerlich, wie du denkst? Er ist ärger. Er tut weh. Er enttäuscht mich. Weißt du, manche Leute erträgt man einfach nicht. So einer ist er. Ein arrogantes Scheusal. Verlangt Lob ohne Leistung. Bringt nichts Eigenes zuwege. Hört sich an wie ein Prinzensohn. Das ist er nicht. Ein Prinz, der den Thron verlor, bevor jemand begriffen hat, dass er ein Prinz ist. Eine ungeheure Illusion ist er. Als hätte sich jemand gedacht: wäre es nicht nett, wenn es so eine Person gäbe? Und die Person wurde angefertigt. Aber sie existiert nicht.

Lediglich als Abglanz dessen, was andere an ihm schätzen, steht er da, ein Behälter für das Wohlwollen seiner Umgebung, gefüllt durch ihre Anwesenheit; ohne sie eine schlaffe, unansehnliche Hülle. Die anderen mögen ihn also. Meistens. Siehst du, er hat auch gute Eigenschaften. Nein. Hat er nicht. Ich sehe sie nur, wenn ich merke, dass er anderen gefällt. Wenn ich Zuwendung brauche. Gleich darauf wird mir freilich bewusst, dass ihre Vorlieben keineswegs die meinen sind. Ich habe keine Wahl. Ich muss ihn aus meinem Leben tilgen. Ich muss ihn umbringen.

Warum suchst du dir keinen Job? Mir graut vor Kontakten. Sie verursachen Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Woher kommst du? Wohin fährst du im Urlaub? Was bist du von Beruf? Was machst du heute Abend? Nichts Erniedrigenderes als den Leuten sagen zu müssen: Ich bin zweiunddreißig und habe noch niemals gearbeitet. War noch nie auf Urlaub. Habe nie verstanden, was unter Urlaub zu verstehen sei. Eine Pause im Dasein? Wie soll das gehen? Du hast studiert. Vierzehn Jahre lang? Vier Jahre seien mehr als genug, würde man antworten und mich obendrein mit Herr ansprechen.

Sobald ich mir vornehme, das Haus zu verlassen, fühle ich mich schwach. Ich verlasse das Haus. Erledige Einkäufe. Alles ganz normal. Aber von dem Moment an, da ich die Tür hinter mir zumache, sehne ich mich danach, wieder zu Hause zu sein. Das Haus und ich haben Platz getauscht, nicht ich bin im Haus, sondern das Haus ist in mir. Ich trage es überall mit mir herum. Wie eine umgestülpte Schnecke. Vielleicht ist es das, was mich so langsam macht. Warum putzen die Leute ihre Häuser, bevor sie sie verlassen? Bevor sie auf Reisen gehen? Niemand sieht doch den Dreck, wenn sie weg sind. Ich sollte mich innerlich schrubben, mit Allzweckreiniger. Schließlich bin ich das Haus.

Ich führe mich um den Block. Andere führen Hunde um den Block, ich führe mich. Ohne Leine, aber ich weiche keinen Schritt von meiner Seite. Manchmal pfeife ich mir. Um mich fortzujagen. Ich reagiere nicht. Ich trotte neben mir her, wie ein Hund. Das ist unfreundlich den Hunden gegenüber. Doch warum sollte ich freundlich sein? Freundlichkeit wird überschätzt. Freundlichkeit dient nur dazu, anderen zu gefallen. Ich habe kein Bedürfnis, jemandem zu gefallen. Ich gefalle mir nicht, warum sollte ich anderen gefallen. Aber du gefällst anderen. Sie tun, als gefiele ich ihnen. Und falls ihnen tatsächlich etwas gefällt, bin nicht ich es, sondern er. Derjenige, der ich nicht bin. Der bei mir eingezogen ist und nichts mit mir zu tun hat.

Du brauchst Medikamente. Mein Hausarzt ist tot. Such dir einen neuen. Ja. Vielleicht. Oft gehe ich schlafen und hoffe, nicht mehr aufzuwachen. Oder warte, wenn ich doch wach werde, nur auf den Moment, da ich wieder einschlafen kann. Mir ist, als wäre etwas defekt, aber der Fehler liegt in der Fabrik: Sie produziert Schadhaftes; es ist nicht zu reparieren, nur wegzuwerfen. So werfe ich mein Leben weg.

Ich bin kein guter Patient. Entschuldige. In der Therapie hatte ich dasselbe. Begeistert, bevor ich hinging, und dann unkonzentriert. Das ist keine Therapie, bitte schön, und ich bin nicht dein Therapeut!

Ich wollte dir erzählen, was mir der Große vor ein paar Tagen gesagt hat, nach unserem endlosen Gespräch. Er meinte, sich der eigenen Unbedeutendheit bewusst zu werden, sei eine große Erleichterung. Irrelevanz bedeute totale Freiheit. Was habe einer, der völlig überflüssig ist, noch zu verlieren? Welch eine Bürde dagegen die Unentbehrlichkeit. Sie drücke einem die Brust ab, nehme einem den Atem.

Hör zu, wir sind Freunde. Du kannst mir alles sagen.
Ich sage dir alles.

Dieser Tage kaufte ich Leintücher. Dunkle Leintücher. Ich schlafe besser zwischen dunklen Leintüchern. Du schläfst also? Ich schlafe. Mein Schlaf ist groß wie das Haus, das in mir wohnt. Er füllt es aus bis hinauf in den Schornstein. Hie und da öffne ich ein Fenster, um Dampf abzulassen.

Was hast du getan?

Ich bin zu meiner Mutter gegangen, um ihr beim Ausmalen der Küche zu helfen. Das klingt gemütlich. Für meine Mutter ist es etwas Zwanghaftes: jedes Mal, wenn sie Veränderung braucht, malt sie. Früher malten wir ständig unsere Wohnung aus. Ist die Küche jetzt rosa? Nein, weiß. Sie will alles weiß.

Die hoffnungslos fette Frau. Ihre Nachbarin. Du bist schön, sagte sie, während wir Torte aßen. Das heißt, sie haben die Torte gegessen; ich aß rohen Hering. Die Torte hätte nicht für alle gereicht. Keine Ahnung, wie sie es meinte. Augenbrauen. Lippen. Zähne. Diese Körperteile aufzählend, schaute sie mich von der Seite her an und sagte, ich sei schön. Als sie sich endlich zum Gehen anschickte, hielt sie sich am Türrahmen fest. Sie wollte nicht gehen. Die Nachbarin liebt meine Mutter. Ihr Daumen berührte die frisch gestrichene Wand und hinterließ einen Abdruck.

Meine Mutter hat einen großen scharlachfarbenen Ball im Schlafzimmer. Der Ball liegt auf einem Sessel, dem Sessel, über den ich gerne meine Kleider hänge, wenn ich bei ihr bin; in dem ich gerne sitzen würde, wenn ich bei ihr bin und mit dir telefoniere. Manchmal schmeiße ich den Ball auf den Boden. Dann rollt er hin und her und mir zwischen die Beine. Ich lege ihn zurück auf den Sessel. Meine Mutter ist eine zarte Frau. Zerbrechlich. Oft sehe ich sie an und hoffe, sie möge unter meinem Blick nicht zerspringen. Sie geht über die Straße. Ich beobachte sie, baue mit meinen Blicken einen Zaun um sie herum, eine Sicherheitszone. Alle Autos, die ihr zu nahe kämen, würden an dieser Absperrung abprallen; alle Windböen, alle Ellbögen.

Was machst du, wenn du Angst hast? Ich singe. Der gute Mann fürchtet sie nicht, fürchtet sie nicht, die Dunkelheit, fürchtet sie nicht. Würde er nachts fahren, verließe ihn seine Frau, hat der Taxifahrer vorhin erzählt. Ich habe mir ein Taxi geleistet, auf dem Weg zu dir, um nicht nass zu werden in dem fürchterlichen Regen. Regnet es? Falls er anfangen sollte, in der Nacht zu arbeiten, würde seine Frau sich einen anderen suchen, hat er gesagt. Er habe zwei wunderbare Töchter. Mit Verlaub: es würde dir nicht schaden, ein bisschen nass zu werden. Warum nimmst du eigentlich ein Taxi, wenn du ein Auto hast. Weil ich nie zu dir finde, mich jedes Mal unterwegs verfahre. Aber du warst doch schon oft bei mir. Möglich, nur bin ich immer auf Umwegen hergekommen. Das hast du nie gesagt. Es war mir peinlich. Normalerweise bin ich nicht so orientierungslos, normalerweise finde ich alles sofort.

Was bekümmert dich?

Die Schwierigkeit, zu stark zu sein. Du versuchst dich zu erschöpfen, aber es gelingt dir nicht. Du bist kräftig, noch immer, du könntest noch lange weiter machen. Du würdest lieber aufhören. Du sehnst dich danach, vor Übermüdung aufzuhören. Die Müdigkeit stellt sich nicht ein. Du könntest weiter machen. Du hörst auf. Einfach. Ohne müde zu sein. Es ist enttäuschend.

So etwas habe ich noch nie erlebt.

Die Freundin meiner Mutter ist eine stille Puppe mit lebhaftem Blick. Nein, keine Puppe, eine Elfe ist sie. Sie kennen einander seit vierundzwanzig Jahren. Jedes Mal, wenn ich sie treffe, verteidigt sie ihre Schüler, Dreizehnjährige. Ihre Art zu sprechen behagt mir, langsam und tief, sie schreit nie. Unsere Stimmen ähneln sich, obwohl sie eine Frau ist. Die anderen Kolleginnen gehen nicht mehr mit den beiden aus. Lieber schreien sie einander in den Arbeitspausen an.

Warum finden wir unsere Unfähigkeit, Dinge zu genießen, so tragisch? Vielleicht sind wir einfach nicht für den Genuss gemacht, ein Produktionsfehler, ich sagte es dir bereits. Die Fabrik gehört abgerissen, sie liefert exklusiv fehlerhafte Ware.

Dieses Mädchen an der Kreuzung stört mich. Jedes Mal, wenn die Ampel auf Rot springt, tritt sie an mein Autofenster, hält ein Stück Karton hoch, auf dem steht: Bitte etwas Geld für Essen. Sie stört dich? Schlägt sie an die Scheibe? Klopft sie auf die Karosserie? Nein, nein. Sie ist ruhig. Sie steht nur da. Geht langsam an der wartenden Autokolonne entlang. Niemand lässt das Fenster herunter. Ach, zum Glück, ein Lastwagenfahrer spricht mit ihr. Zum Glück? Ich dachte, sie stört dich? Sie stört mich, weil ich keine Lösung für sie weiß. Es ist mir unerträglich, sie unbeachtet zu wissen, jeden Morgen pünktlich um acht Uhr an der Ampel. Als ginge sie einer geregelten Arbeit nach. Als wäre dort ihr Platz, als wäre es ihre Aufgabe, dort zu stehen, mit diesem Stück Karton in der Hand, wie es meine Aufgabe ist, im Auto zu sitzen, unterwegs zur Arbeit zu sein. Vielleicht ist es ihre Aufgabe. Im Winter hat sie eine Dampfwolke vor dem Mund. Mag sein, dass sie zu den Lastwagenfahrern in die Kabine steigt. Dass ihre Arbeit nicht schlecht bezahlt ist. Dass es sich auszahlt, dort zu stehen, pünktlich jeden Morgen. Dass sie feste Kunden hat. Ich habe sie nie zu jemandem einsteigen sehen. Sie ist immer dort. Vielleicht ist es noch zu früh, wenn du kommst; vielleicht sind ihre Kunden dann noch nicht da. Ich komme manchmal auch später an die Kreuzung, zu verschiedenen Tageszeiten. Sie ist immer dort. Einige hundert Meter vorher werde ich bereits unruhig, versuche die Geschwindigkeit so zu regulieren, dass die Ampel auf Grün steht, wenn ich sie erreiche, damit ich nicht anhalten muss. Wenn ich mich konzentriere, sehe ich das Mädchen nicht einmal.

Hast du schlecht geschlafen?

Ein Bus stand im Wohnzimmer. Ich war dabei, meine Sachen zu packen, ich war zu spät dran, ich würde den Bus versäumen. Ich warf meine Tasche hinein, lief hierhin und dorthin, auf der Suche nach Vergessenem, Unauffindbarem, das ich tagsüber brauchen würde. Ich fürchtete, der Bus würde abfahren, bevor ich eingestiegen war. Der Motor lief bereits. In der Eile stieß ich dagegen, leicht, mit dem Arm, mit dem Ellbogen. Er fiel sofort um, fiel durch die Glaswand der Terrasse, die steile Böschung hinunter, schlug unten auf, wurde flach und zerbrach. Ich sah den Bus zerbrechen, dachte an meine Tasche, meinen tragbaren Computer darin. Das Teuerste, was ich besaß. Ich lief hinaus, dem Bus hinterher. Noch auf der Böschung, während ich hinunterstolperte, sah ich eine Menschenmenge auf den flachgedrückten Bus zustürmen, alle im Gänsemarsch, aber sie rannten. Keiner drängte sich vor. Sie erreichten den Bus schneller als ich, suchten zwischen den Trümmern, klappten Metallstücke auf, zerrten Taschen heraus. Als ich unten ankam, waren sie bereits auf dem Rückzug. Meine Tasche konnte ich nirgends entdecken. Diese Leute waren nicht im Bus gesessen, als er mir aus dem Fenster fiel. Nur ihr Gepäck war drinnen gewesen. Ein leerer Bus war im Wohnzimmer gestanden und in Folge meiner Unachtsamkeit umgefallen. Das Wohnzimmer glich dem meinen überhaupt nicht; ich habe auch keine Terrasse.

So kann es nicht weitergehen. Dass ich mich allmorgendlich vor der Kreuzung fürchte. Dass ich Angst vor Schiffen habe, weil mich jemand aufs Oberdeck zerren, mich dort zwingen könnte, mir die Kleider auszuziehen. Bei Widerstand werfe er mich ins Meer, sagt er. Damit ich gehorche. Mir die Kleider ausziehe. Ihn viel zu nahe heranlasse. Nicht ins Meer geworfen werde. Hätte er mich überhaupt ins Meer geworfen? Wäre er dazu fähig? Wäre ich ihm nicht zu schwer? Wie schwierig ist es, jemanden von einem mehrstöckigen Passagierschiff ins Meer zu werfen, wenn das Opfer sich in der Mitte hält, sich mit Händen und Füßen ans Deck haftet, wie ein Gecko. Sich dem anderen ins Fleisch schlägt, mit allen Zähnen, die ihm jetzt einer nach dem anderen ausbrechen, im Werfer stecken bleiben, der eben nicht mehr zum Wurf fähig ist, weil damit beschäftigt, sich meine Zähne aus den Gliedern zu reißen; sich die Ohren zuzuhalten, sie zu schützen vor dem Gebrüll, das ich ausstoße, das ihn taub macht, für kurze Zeit, weil ich ihm aus solcher Nähe in den Gehörgang schreie. Die Zunge des Schreiers, meine Zunge berührt den Flaum seiner Ohrläppchen. Danach verlasse ich das Deck, gehe in den Salon hinunter, setze mich, auf einen roten Plastikstuhl zum Beispiel. Warte, bis das Schiff in den Hafen einläuft.

Inzwischen hätte er sich aufgerappelt, der untüchtige Werfer. Käme ebenfalls nach unten, träte hinter mich. Fragte mich, ob er mir etwas zu trinken bestellen dürfe. Warnte mich, vor dem Ufer, vor den Menschen dort. Ich hätte sein Getränk nicht abgelehnt, es in einem Zug hinuntergestürzt. Mir gedacht, das sei einer der Momente, in denen die Seele sich so weit ins Innere des Leibes zurückzieht, dass sie verschwände, ließe man sie auch nur eine Sekunde lang unbeobachtet. An Land gehe ich in die erstbeste Bar, frage nach der Toilette, höflich, lächelnd, mich bedankend, kotze in die Muschel. Den Rest des Tages schlendere ich durch die Straßen, betrete Geschäfte, ab und zu eine Gaststätte, bitte, das Klosett benützen zu dürfen, übergebe mich einmal auch ins Waschbecken. Ich sage mir, es sei weiter nichts. Einfach ein Missverständnis.

Glaubst du, das Mädchen an der Kreuzung ist auf einem Schiff angereist?

Ich beschließe, der Kreuzung nicht länger zu entfliehen, sondern das Mädchen kennen zu lernen. Lege mir Münzen zurecht, die ich in den dafür gemachten Einkerbungen an der Wagentür verstaue. Seit neun Monaten sehen wir uns jeden Morgen, dieses Mädchen und ich. Jetzt wird es das erste Mal sein, dass ich für sie das Fenster öffne.

Du bist hübsch, sagt sie, als ich ihr eine Münze gebe.
Wie heißt du?
Wie heißt du?
Valentina.
Freut mich.
Freut mich auch.

Ich muss es jemandem erzählen. Jemand muss es wissen. Zur Sicherheit. Glaubst du daran? Sei nicht so penibel. Wie oft ist es dir schon passiert, dass niemand wusste, wo du warst? Oder ist es uns mittlerweile unmöglich geworden: zu verschwinden? Hast du das über den Journalisten gehört? Sie brachten es im Radio. Zur vollen Stunde hat der Taxifahrer das Radio aufgedreht. Ein aufmerksamer Mensch. Ich hatte ihn darum gebeten. Der Journalist wurde von einem Buben getötet, dessen Vater ihn später anhand einer Videoaufnahme identifizierte, die im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Der Vater meldete es der Polizei.

Ich bin zum Essen eingeladen. Wunderbar. Kenne aber denjenigen, der mich einlädt nicht, genauer gesagt, ich habe ihn bloß ein einziges Mal gesehen, vor zwei Jahren. Ein zudringlicher Mensch? Ich erinnere mich nur, dass ich ihn als ungepflegt empfand. Geschmacklos gekleidet. Das Äußere war sein – zugegeben unüberwindbarer – aber vermutlich einziger Nachteil. Im Übrigen ist er ein liebenswerter Mensch. Sollte ich ihn wieder treffen, werde ich Sorge tragen, nicht zu gepflegt auszusehen. Um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Du könntest ihm absagen. Es würde ihn traurig machen. Vor den Kopf stoßen. Sagtest du nicht, Freundlichkeit werde überschätzt? Ich könnte ihm sagen, dass ich mich verliebt habe. Du hast dich verliebt? Natürlich nicht. Ich könnte ihm sagen, dass ich mich in einen erfundenen Freund verliebt habe. Der ideale Liebhaber, genau, wie ich ihn mir vorstelle. Hast du eine so genaue Vorstellung vom Ideal? Er leistet mir Gesellschaft, wenn ich tagträume.

Machst du denn nie Pause?
Gewiss, zwischen drei und halb vier.
Was tust du in den Pausen?
Ich esse ein Wurstbrot.

Jedes Mal, wenn ich ihr eine Münze gebe, sagt sie, ich sei hübsch. Unlängst habe ich sie nochmals nach ihrem Namen gefragt, um zu prüfen, ob ihre Antwort dieselbe bliebe oder sie mehrere Namen benützt.

Valentina, sagte sie. Und wie heißt du?
Wir haben uns bereits vorgestellt.
Oh, entschuldige, so viele Gesichter, durchs Autofenster sehe ich sie nicht so gut.
Schon in Ordnung.
Bist du verheiratet?
Bist du verheiratet?
Ja, ich habe zwei Kinder. Hast du Kinder?

Valentina steht im Grasdreieck der Kreuzung und betrachtet ihre Hand. Münzen liegen wohl darin. Die Münzen des LKW-Fahrers, die Münzen der Frau in dem blauen Fiat Panda. Vielleicht. Oder sie hat eine Wunde, hat sich geschnitten in der Küche oder am Zaun, den ich sie schon ein paar Mal überklettern sah. Er trennt die Kreuzung von einer Wiese mit Obstbäumen, die zu einer Autowaschanlage gehört. Dorthin verschwindet Valentina von Zeit zu Zeit, um etwas aus einem Plastiksack zu holen, den sie hinter einem Busch versteckt hat; oder um etwas hineinzutun. Quer über die begrünte Verkehrsinsel zieht sich ein brauner Streifen. Es ist der Pfad, den Valentina im Laufe der Monate ihres Hin- und Hergehens zwischen Anfang und Ende der Autokolonne ausgetreten hat.

Wenn ich zur Arbeit fahre, versuche ich bereits hundert Meter vor der Ampel die Geschwindigkeit so zu regulieren, dass die Ampel auf Rot steht, wenn ich sie erreiche, damit ich anhalten muss. Mit der Hand an der Kurbel warte ich, bis sie sich nähert, wenn sie an mein Fenster kommt, ist es schon offen. Steht die Ampel auf Grün, suche ich sie mit den Augen, versuche sie mit Blicken festzuhalten, bis sie mich wahrnimmt, winke ihr zu. Sie winkt zurück. Mein Mund öffnet sich unwillkürlich zu einem Lachen. Sie lacht auch. Jeden Morgen.

Es ist kalt heute, sagt Valentina.
Hoffentlich kommt bald die Sonne.
Gestern war ein warmer Tag, warm für die Jahreszeit.

Sie sieht frisch aus. Ausgeruht. Anders als gestern hat sie keine Ringe unter den Augen.

Weißt du was? Was muss ich wissen? Ich bin seiner Einladung gefolgt. Der Einladung? Der Einladung zum Essen. Er kam durch die Hotelhalle auf mich zu. Es war, als hätte ich ihn noch nie zuvor gesehen. Sein Äußeres ähnelte dem Mann aus meiner Erinnerung in nichts. Er schien ein anderer geworden. Hätte er sich nicht zu erkennen gegeben, hätte ich gedacht, er sei nicht zur Verabredung erschienen. Sein Anzug. Die Brille. Der kahl geschorene Kopf. Alles war neu. Früher hatte er lange strähnige Haare mit einer Glatze in der Mitte. Erst als er zu reden anfing, erkannte ich seine Stimme. Ich muss gestehen, ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Ohne Umschweife nahm er mich in den Arm, war aufgeregt, redete ununterbrochen. Zwei, die sich lange aufeinander gefreut haben, mögen sich vielleicht immer.

Wirst du ihn wiedersehen? Ich glaube nicht. Es wäre zu riskant. Unvernünftig. Das Einzige, was wir miteinander gemein haben, ist die Neugier auf den anderen. Beim Aperitif fragte ich ihn nach dem Beruf seiner Eltern. Er wandte sich an den Oberkellner. Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen? Er fragt nach meinen Eltern, was halten Sie davon? Finden Sie das eine zulässige Frage? Der Ober war verdutzt, blieb gefasst, warf mir einen Blick zu, der Blick blieb hängen, musterte mich. Er halte diese Frage für sehr zulässig, antwortete er und unterstrich es mit einem Zucken des Kopfes.

Und, was waren seine Eltern von Beruf? Keksfabrikanten. Als ich ihn bat, mir nächstes Mal eine Schachtel Kekse mitzubringen, wandte er sich an ein Paar am Nebentisch und fragte: Entschuldigung, haben Sie Kekse bei sich? Die beiden schüttelten die Köpfe. Das war dir nicht unangenehm? Ganz und gar nicht. Ich fühlte mich wohl. Zum ersten Mal seit langem habe ich mich außer Haus nicht schwach gefühlt.

Und später? Muss ich dir alles erzählen, wäre es nicht besser für dich und mich, du würdest manchmal nicht wissen, wo ich bin? Wie du meinst.

Zum Abschied berührte ich ihn mit den Handschuhen meiner Mutter, strich ihm sanft am Ärmel entlang. Selbstverständlich wusste er nicht, dass es sich um die Handschuhe meiner Mutter handelte. Ebenso wenig, wie er wusste, ob ich überhaupt noch eine Mutter habe. Den ganzen Abend lang hat er nie von Urlaub gesprochen. Bemerkenswert. Du sagst es.

Heute habe ich Valentina nichts gegeben. Ich habe vergessen, mir Münzen herzurichten. Als ich bei ihr ankomme und die Ampel auf Rot steht, ist sie ganz vorne, beim Zebrastreifen, erreicht aber rasch meinen Wagen. Keines der Fenster der anderen wartenden Autos öffnet sich, keines bringt eine Hand zum Vorschein, in der Geld liegt. Ich kurble das Fenster herunter. Sie hört die Musik, die ich höre. Klaviermusik. Entschuldigend deute ich auf das leere Geldfach in meiner Wagentür. Valentina schüttelt den Kopf.

Guten Morgen, sagt sie. Wie geht es dir?
Gut. Wie geht es dir?
Nicht so gut. Ich bin müde. Heute bin ich sehr müde.
Ich nicht. Mir geht’s gut. Sehr gut.
Hast du eine Arbeit?
Ja.
Wo arbeitest du?
Dort.
Woher kommst du?
Woher kommst du?
Aus Serbien.
Dort war ich schon.
Warst du schon?
Ja. Schönes Land.
Ich weiß. Darum bin ich weggegangen. Es ist eine Schönheit, die dich umbringt.

Als die Ampel auf Grün springt und ich weiter fahre, winkt sie. Ich winke zurück.

Was hast du an dem Abend gemacht, als ich mit ihm essen war?

Ich bin durch die Ruinen der Stadt gewandert, an Brocken von Denkmälern vorbeispaziert, zertrümmert durch deine Abwesenheit. Bauten, die wir einen Tag vorher noch als Kunstwerke mit unseren Blicken gestreichelt hatten, traktierte ich mit Fußtritten. Es war elf Uhr abends, eine Stadt im Winter, und da war diese Frau, die auf der nächtlichen Straße sang. Sie hielt ein Heft mit Noten in der Hand, in das sie manchmal hineinschaute. Aus ihrem ganzen verdammten Herzen sang sie für alle, die nicht da waren, und passte ein bisschen zu gut in diese Spätabendstraße. Ich fühlte mich erschöpft, glaubte zusammenzubrechen, mich übergeben zu müssen, wollte nach der Rettung schreien, mit Blaulicht; den Rotkreuzfahrern genaue Instruktionen geben, mich in ein Universum aus Betten voll Frauen zu fahren, die genauso aussehen wie du. Ich setzte mich auf die Gehsteigkante und hörte den Arien der Frau zu. Eine davon brachte mich zum Heulen, eine rotzige Reaktion auf mein Dasein an diesem Ort. Als sie innehielt und sich neben mich auf den Gehsteig setzte, um auszuruhen, begannen wir ein Gespräch; gingen ein Glas Wein trinken. Ich dachte an dich. Sie gab mir eine Platte mit ihrer Musik. Auf der Straße klang sie besser.

An manchen Tagen kommt Valentina an der Autokolonne entlang auf mich zu, das Kartonschild vor ihrer Brust, weniger Information als ein Harnisch, der vor den Mienen schützt, die ihr aus den Fahrzeugen entgegenblicken. Mienen, die weder Empörung über ihre Anwesenheit ausstrahlen noch Wut, nur Gleichgültigkeit. Dann sind ihre Augen verwandelt, als hätte jemand die Pupillen herausgeholt und blaue Kristalle unter die Wimpern gesetzt.

Ich öffne das Fenster, fünfzig Cent in der Hand. Ihre Hand steckt in der Hosentasche. Sie holt sie nicht hervor, um sie mir hinzuhalten.

Du bist wieder hübsch heute, sagt Valentina.
Du bist auch hübsch, Valentina.

Seht ihr euch ähnlich? In gewisser Weise. Manchmal überlege ich mir, sie einsteigen zu lassen, denke daran, unsere Gemeinsamkeiten zu entdecken. Vielleicht geht sie gerne in die Berge, vielleicht spielt sie Geige oder Kontrabass. Das meinst du nicht ernst? Ich meine es ernst. Vielleicht besitzt sie jetzt keinen Kontrabass mehr, hat aber früher gespielt, als Kind. Welches Kind bitte spielt Kontrabass? Valentina.

Ich korrigiere, was ich vorher gesagt habe. Keine, die so aussah wie du, suchte ich an jenem Abend in den Trümmern unserer Stadt, sondern eine, die so war wie du.

Ich habe meine Haarspange verloren. Bei dir im Bett.

Was mich rettet. Die Stadt in ihrem trägen Sonntagslicht, zeitlos und ein bisschen bleich, oder liegt es an meinen Augen? Eine Iris und drei Tulpen. Ich kaufe sie am Kiosk an der Straßenecke. Zwei chinesische Frauen stehen darin. Der Verkäufer fragt, welche Verpackung ich möchte, hält mir verschiedenfarbige Bögen aus Papier oder Plastik hin. Die Verpackung ist unwichtig, sage ich. Er versteht. Sie wollen es ganz natürlich. Er grinst. Dass die Blumen für mich selber sind, verschweige ich ihm. Kein Geschenk. Was wir für uns selber kaufen, nennen wir nicht Geschenk.

Sollte sie dir nicht wenigstens die Scheiben putzen? Wenn sie schon dasteht. Du bezahlst sie doch. Um Gottes willen, sie würde nur verschmieren, was der indische Bub bei mir um die Ecke an Glanz zustandegebracht hat. Und ihre armen Hände im kalten Wasser. Das würde ich nicht dulden. Der Bub wartet nur darauf, mir einen Eimer voll Spülwasser über die Windschutzscheibe zu schütten. Das lässt du zu? Er trägt Handschuhe. Was soll ich machen, er ist schnell. Außerdem tut er es nicht jeden Tag. Eigentlich nur, wenn es notwendig ist. Die Luft ist voll Dreck. Nach drei Tagen versaut sie das Glas. Aber ich gestehe, ich gebe ihm weniger. Er bekommt die Hälfte von ihr. Du gibst ihr doppelt so viel? Für nichts? Ich bin froh, dass sie es tut. Jemand muss es tun. Weil es nichts zu tun gibt. Bist du sicher? Ich beobachte lediglich. Nichts tun ist besser, als bloß irgendetwas tun. Es herrscht ohnehin schon so ein Gewimmel. Folglich halte ich es für gerechtfertigt, dass jemand, der dazu erwiesenermaßen Talent hat und Durchhaltevermögen beweist, es vergütet bekommt, als Ruhepol und Festpunkt im Getümmel der Arbeitenden zu stehen. Nur wenige sind dazu fähig. Du plädierst? Ich plädiere. Findest du nicht, dass sie faul ist? Sie bereitet mir mehr Freude als ein Beet Narzissen, Nelken, Rosen, Tulpen, mit vierteljährlich wechselnder Bepflanzung, wie sie manchmal auf Verkehrsinseln angelegt werden. Nebenbei ist sie pflegeleicht. Menschen gedeihen im Smog besser als Pflanzen. Das ist unerhört! Aber bewiesen.

Gibt es frühmorgens, wenn du mit verknittertem Gesicht im Auto sitzt, etwas Besseres als jemanden, der dir sagt, er finde dich hübsch? Sie tut es für Geld. Seit einigen Wochen nimmt sie keines mehr. Sie kommt ans Fenster. Wir reden ein bisschen. Sie geht zum folgenden Auto. Wenn die Ampel grün ist und ich durchfahre, winkt sie. Ich winke zurück. Manchmal sieht sie mich nicht gleich, und ich winke zuerst. Sie hat angefangen, mir Dinge zu schenken. Ein Wachsjesuskind, das ihr Mann angefertigt hat. Es sei sein Beruf, hat sie mir gesagt. Er fabriziere die Jesuskinder und verkaufe sie. Sie würden im Kühlschrank aufbewahrt. Manchmal sei der Kühlschrank so voll, dass sie die Milch aufs Fensterbrett stellen muss. Was du nicht sagst. Zuletzt hat sie mir eine Schraube geschenkt. Wenn du ein Loch findest, schraub sie hinein und lass nicht mehr los, hat sie gesagt. Seither trage ich die Schraube in der Tasche.

Ich habe Valentina seit einigen Wochen nicht gesehen. Ob sie auch über Weihnachten und Neujahr an der Kreuzung gestanden ist? Ob es für sie die Hauptgeschäftszeit im Jahr ist, wie in der Einkaufsstraße der Innenstadt?

Gutes neues Jahr, Valentina, sage ich zu ihr, entschuldige die Verspätung.
Kein Problem, dir auch alles Gute, du bist nicht zu spät. Im Julianischen Kalender hat das Jahr gerade erst angefangen.
Hast du Pläne?
Nichts Besonderes. Mein Mann will Ende Februar eine Reise machen, auf eine karibische Insel, St. Vincent heißt sie; dort gäbe es einen Markt für Wachsjesuskinder, meint er. Ich habe keine Lust, es ist so weit, außerdem wimmelt es dort von Insekten. Du kannst an meiner Stelle fahren, wenn du magst. Ich will nach Venedig. Aber ich möchte mit meinem europäischen Pass reisen. Den bekomme ich im April.
Kannst du jetzt nicht reisen?
Doch, ich könnte. Aber ich warte lieber, bis ich den Pass habe. Das wird mir mehr Vergnügen bereiten.

Wie geht es dir? Warst du beim Arzt? Mein Arzt ist tot. Das weiß ich. Hast du dir einen neuen gesucht? Nein. Ich brauche keinen. Es geht mir gut. Hast du etwa einen Job? Auf keinen Fall. Weißt du, ich denke, ich habe mich mit ihm versöhnt, mit dem anderen. Ich habe dir doch von ihm erzählt? Du hast mir von ihm erzählt. Er hat auch seine guten Seiten. Zumindest habe ich mich an ihn gewöhnt. Enttäuscht dich das?
Ganz im Gegenteil. Er hat mich schon immer beeindruckt.

Was ist aus dem Mädchen geworden? Der jungen Frau an der Kreuzung? Sie steht nicht mehr dort. Nur der braune Streifen im Gras erinnert noch an sie. Vermutlich hat sie ihren Pass bekommen. Ist nach Venedig gereist. Hast du sie noch einmal getroffen?

Nein. Wir haben einander zu oft gesehen, um wirklich Freunde zu werden.