Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Jagoda Marinic (Foto: Jürgen Bauer)
Jagoda Marinic
Netzhaut
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Regale. Regale. Regale. Buchstaben darauf, Buchstaben, Buchstaben. Bücher darin, Bücher aus Leinen, kartoniert, gebunden, Taschenbücher. Die immer selbe Aussicht. Teppichboden aus den Achtzigern. Als hätte man damals nicht schon wissen können, daß zahllose Schuhe diesen Teppich betreten, Kinder sich darauf wälzen werden. Wie schön wäre ein sauberer Boden, auf dem man die Absätze der jungen Mädchen klacken hörte. Wie schön wären Fenster, damit die Bücher eine Aussicht hätten. Statt dessen ein Glasdach. Ich frage mich oft, wie die Tage, die ich erlebe, für die Bücher aussehen. Da steht ein Buch im Regal, und sein Nachbar wird immer wieder entliehen, doch es selbst bleibt da. Vermißt dieses Buch seinen Nachbarn und fühlt sich ihm unterlegen bei dessen Rückkehr? Dann all die Augenpaare, die auf die Buchrücken glotzen. Das entliehene Buch sieht sich die Wohnungen der Menschen an, die es mit nach Hause nehmen, doch Bücher, die selten entliehen werden, sehen täglich bloß Gesichter an sich vorüberziehen. Hin und wieder werden sie in die Hände genommen, angelesen, zurückgestellt.
Ich fahre mit Blicken immerzu dieselben Buchstaben ab, die auf den Regalwänden stehen und den Besuchern die Suche nach den Autoren erleichtern sollen. Es gibt Leseecken, Computer- und Kinderräume. Der Laden wird halbherzig betrieben. Neuanschaffungen gibt es seit letztem Jahr keine mehr, weil es Altabschaffungen geben wird. Frau Dunker, die Chefin des Hauses, hat an der letzten Weihnachtsfeier ein Schreiben verlesen: Wir bedauern aufrichtig, Ihnen mitteilen zu müssen. Der Weihnachtskuchen schmeckte danach etwas trocken. Eingliederung des Bestands in einen größeren Betrieb, angeblich zugunsten der Bibliotheksbenutzer; für die notwendige Ausgliederung der jetzigen Mitarbeiter aus dem Berufsleben übermittelte das Schreiben ehrliches Mitgefühl. Es wird nur noch angeschafft, um abzuschaffen, nur noch erfunden, um abzuschaffen, nur noch kommuniziert, um abzuschaffen. Das soll einer kapieren, warum ein Computer jetzt die Bücher finden muß, und nicht die Bibliothekarin, das soll einer begreifen, weshalb man die Bücher in Kisten aus dem Keller hieven muß, statt daß sie in den Regalen stehen und die Benutzer sie in die Hände nehmen dürfen, bevor sie sie ausleihen. Alles, was man heutzutage anschafft, dient der Abschaffung, sei es der Arbeit, des Mülls, der Umwelt, der Freundlichkeit oder des Menschen selbst.
Jagoda Marinic (Bild: ORF)
Meine Chefin wirft das Radio an. Sie ist so lebensfroh, daß ich ihr manchmal Beruhigungsmittel in den Arsch schieben oder in den Kaffee schmuggeln möchte. Die Lebensfrohen sind nicht leicht zu ertragen. Das Radio. Ständig die Zeit, das Wetter, der Verkehr. Ständig muß man alle mitbedenken, die eben erst zugeschaltet haben. Das äußert sich natürlich in der Gedankenqualität: Ein Gedanke darf nie länger und tiefer gehen als vielleicht dreißig Sekunden. Ein schrilles Piepen zu jeder vollen Stunde. Ständig die Kriege aus dem Rest der Welt. Als könnte ich irgend etwas für den Rest der Welt. Ich bin froh, wenn ich mir in dieser hier eine Bockwurst verdienen kann. Und in Ruhe gelassen werde. Das Wetter für heute. Als könnte ich nicht den Blick für einen Moment zum Himmel heben. Die Voraussage für morgen. Als würde der morgige Tag je wie vorausgesagt eintreffen. Ich brauche das nicht. Ich brauche statt dessen den morgigen Tag ohne Wahrsager, ganz genauso wie den letzten. Einer nach dem anderen, bis sie gezählt sind, die Tage. Ich verlange in Anbetracht der Tage, die abgezählt werden, mein Lebensrecht auf Unkenntnis über das morgige Wetter, ich verlange eine Chefin, die entweder schlecht gelaunt oder abwesend ist, und wenn das alles nicht klappt, verlange ich Hartz IV!

Jetzt schaltet sie um auf Kultur. Da dürfen die Gedanken anderthalb bis zwei Minuten lang und tief gehen. Das ist mir dann schon zuviel. Klavierkonzert – gerade ausgespielt. Eine zittrige Frauenstimme im rentenfähigen Alter gibt Auskunft über das eben gehörte Stück mitsamt seines Komponisten und dessen Künstlerbiographie. Harte Widerstände. Natürlich, wer hat die nicht? denke ich. Was soll das immer, diese Beschwerden über Widerstände? Widerstände sind die einzigen Umstände, die zeigen, daß es uns gibt. Und früher gab es auch noch Mäzene, da sollen die den mal nicht so jammerlappig darstellen. Warum mußte er sich unvergeßlich wünschen? Hätte er sich nicht einen Hof, eine Frau, ein Kind anschaffen und seine Ruhe haben können? Immer diese Unvergeßlichkeitsmanie.

Weiter geht es: Heute mit ‹Le sacre du printemps›. Strawinsky. Die zittrige Rentnerinnenstimme verbreitet ein bißchen verdauliches Informationsgewäsch, dann kommen wir zur Interpretation des Werkes. Im Anschluß hören wir die Berliner Philharmonie. Vorab zu erwähnen: Die Berliner Philharmonie hat sich mittels dieses Stücks und eines damit im Zusammenhang stehenden Projekts den Ruf erworben, sozialpolitisch engagiert zu sein. Natürlich ist man hierzustadt stolz darauf, daß die Berliner Philharmonie mit diesem Projekt zahlreichen sozial benachteiligten Kindern einen Blick auf das wahre Leben ermöglicht hat. Und so spielt das Radio nun die Aufnahme von Sir Simon Rattle und seinem Orchester. Ich habe schon häufiger von dem Versuch gehört, Jugendlichen mit Hilfe der Kunst unter die Arme zu greifen. Es ist en vogue. Vielleicht hätten die jungen Leute lieber ihre Ruhe gehabt, als unter die Arme gegriffen zu werden.

Ich höre die Trommeln, die Erwartung, die sie verbreiten, die Ankündigung, die das Blut im Rhythmus der Musik beschleunigt. Jeder Trommelschlag eine Ankündigung. Wahnsinn. Ewige Ankündigung. Wie lang soll das jetzt so gehen? Ich kratze mich am Hals.

Ich wünschte, meine Chefin wäre ebenso gestört davon und würde dieses Getrommel in den Nebenmotiven endlich abstellen. Aber nein, sie trommelt mit ihren klunkerbehangenen Fettfingern im Rhythmus der Musik auf den Tresen. Wenn sie zumindest lange Nägel hätte. So ein feines, nervöses Klopfen der Nägel wäre Musik verglichen mit dem Aufschlag ihres aufgedunsenen Fleisches auf Holz. Wer diesen Scheiß wieder erfunden hat: Kultursender. Klassische Musik. Vor allem Radios. Und überhaupt: Klassische Musik. Wenn ich klassische Musik höre, fliegt vor meinem inneren Auge alles durcheinander, ich reagiere auf klassische Musik mit farblicher Verstofflichung der Klänge. Ich habe das noch nie jemandem erzählt, aber klassische Musik treibt mich nah an den Wahnsinn. Wie jetzt, ich spüre es schon kommen, diese Farbfetzen im Gleichklang mit dem gehetzten Hin und Her der Instrumente. Vor meinem inneren Auge tun sich bereits die ersten Stoffetzen auf, wie aus einer bodenlosen Schachtel werden sie in den Raum geschleudert, werden mehr und mehr und mehr, jagen durch die Lüfte, Stoffetzen in aggressiven Farben, Feuerrot, Burgunderfarben, Blaßrosa, Azur- und Himmelblau, Flamingorot und Apricot – allesamt einem kleinen weißen Stoffetzen auf den Fersen! Heere von Stoffetzen verfolgen ein kleines weißes Tuch vor meinen Augen, bis meine Pupille vor lauter Angst um das kleine Weiß erstarrt. Es muß gerettet werden! Ich müßte in das vielfarbige Stoffheer greifen, um den kleinen weißen Stoff zu retten, zu schützen, doch ich weiß, daß niemand sieht, was ich nun sehe, niemand sieht mein kleines weißes Tuch und dieses Stoffheer – und so halte ich still, meine Arme wie gelähmt am Körper. Feuerrot, Feuerrot, Feuer, Smaragd- und Schildkrötengrün, noch mal Azurblau und Ockergelb … All diese Farben stellen meine Pupillen für eine unmeßbare Zeiteinheit still. Ich kratze mich am Hals. Ich kratze mich am Dekolleté. Meine Atmung wird flach und flacher. Ich erblasse und drehe meiner Chefin den Rücken zu. Schon beim Abwenden fange ich mit einem Gebet an: Lieber Gott, mach doch bitte, daß sie diese Musik ausmacht, mach, daß es einen Stromausfall gibt, mach von mir aus, daß sie auf der Stelle tot umfällt, aber laß diesen Musikfrühling enden! Die Stoffe zerfetzen sich inzwischen, mein kleines weißes Tuch habe ich aus den Augen verloren, inzwischen ist es, als würden sie, einander zerfetzend, in einem roten Feuerball auf mich zufliegen. Ich starre dem Feuerball entgegen, dabei ziehe ich langsam an den Spitzen meiner Haare und bete: Lieber Gott, mach bitte, daß sie diese Musik ausmacht, mach, daß es einen Stromausfall gibt, mach von mir aus, daß sie auf der Stelle tot umfällt, aber laß diesen Musikfrühling enden!

Tiefer Atemzug: Es geht weiter mit Gerede. Schönen guten Morgen, liebe Kulturradiohörer, da sind wir wieder. Informationen. Gespräche. Events. Thema der Stunde: Schulen und Klonen. Kinder sollen in der Schule klonen lernen. Ich habe verpaßt, daß wir bereits soweit sind, aber das wundert mich nicht. Ich verpasse alles Weltbewegende.

Ich bitte meine Chefin um eine vorgezogene Pause. Gewöhnlich warte ich, bis alle anderen in der Pause waren, damit niemand auf die Idee kommt, mich zu begleiten. Wie ich diese freundlich gesprochenen Sätze nicht hören kann: Ach, dann komm ich mal mit, damit Sie nicht so allein sind. Wer ist hier allein? will ich fragen, löse das Problem mittlerweile dadurch, daß ich immer als letzte in die Pause gehe. Doch heute bin ich die erste. Und trotzdem allein.

Ich trete aus der Bibliothek und hole tief Luft. Luft. Meine Lungen weiten sich wieder, mein starrer Blick verläßt mich, und ich beruhige mich, als ich spüre: Strawinsky liegt irgendwo unter der Erde, während ich hier meine Luft einatme.

Ich sehe zur Spitze einer Baumkrone auf. An manchen Tagen sehe ich so gut, daß ich die Blätter auf den Spitzen der Baumkronen zählen kann.

Ich spaziere zur Friedrichstraße. Menschenmassen, Busgewirr, Beingewusel. CDs im Ausverkauf, Bücher im Ausverkauf, Herzen im Ausverkauf. Ab jetzt sind es dreihundertundvierundzwanzig Schritte von hier bis zum STARBUCKS. Täglich zähle ich ab dieser Säule die Schritte bis zum Café. Wie gern würde ich jetzt die Spitze einer Baumkrone nach ihren Blättern auflösen, einen Raben auf den obersten Ast setzen und dann die ganze Stadt zur Stille verdammen, die so lange dauert, bis der Rabe dreimal gekrächzt hätte. Dann: Wolken zählen. Beim Sichauflösen. Was alles zu tun wäre, wenn man sich mit sinnvollen Dingen beschäftigen dürfte.

Einen doppelten Espresso und ein Mineralwasser und mindestens einen Schokobrownie. Um ein Lächeln hatte ich nicht gebeten, doch das gibt es gratis dazu.

Jetzt ein paar Tauben auf dem Markusplatz zählen. Am Fenster mit Blick auf die Bushaltestelle gegenüber nehme ich Platz. Wie jeden Tag warte ich auf meine Lieblingsbuslinie und schätze an der Zahl seiner Fahrten die Länge meiner Pause ab: Bus 147 ist der Auserwählte. Dreimal wird er mich passieren, während ich an diesem Fenster sitze, dreimal wird sich das Leben zwischen mir und der Bushaltestelle bis zur Auswechselbarkeit abspielen. Dreimal werde ich diese wenigen Quadratmeter fixieren wie eben noch die Stoffetzen, und niemand sonst wird je wissen, was an der Stelle, die er gerade passiert, ein paar Sekunden zuvor gelebt wurde.

147 – die erste.

Fahrräder. Keine Nummernschilder darauf. Nummern wären eine Erleichterung. Tauben. Graue Jacken, Neonaufschriften. Regen. Deutscher Regen. Grau. Berliner Grau. Sonne nur als Grell durch Wolken sichtbar. Buchverlage. Ärztehäuser. 030-230 295 30: Büros zu vermieten. Museen voll von Ägyptens Schätzen. Straßenbahnplakate. Dussmann. Wieder Dussmann. Fahnenstangen mit Dussmann-Flaggen. Flaggen wie für Spanien, Italien oder die Türkei. Rossmann-Tüten, Rossmann, Rot auf Weiß.

Ich setze mich hinaus an einen der runden Cafétische vor dem Glasfenster, hinter dem ich eben noch saß. Schon hat eine andere drinnen meinen Platz ergattert. Trotz aufgespannter Regenschirme: Regentropfen im Kaffee. War eh zu stark.

Passanten mit aschblondem Haar. Pofalten lugen aus Hosen hervor. Deutsche Kleidung. Gespräche: lachfreie Zonen. Ein dreißig Meter langer Lastwagen biegt um die Ecke; wie der wohl um die Ecke biegen will? frage ich mich, als schon seine orangefarbene Plane an mir vorbeizieht, blaue Dixie-Toiletten sind zu sehen. Es regnet verstärkt. Ich gehe wieder hinein, ins Glascafé.

147 – die zweite.

Wir verstehen nicht nur Bahnhof. Was Texter sich alles ertexten. Wie mühevoll das Sprechen, seit alles kunstvoll sein muß. Nichts wird gescheut, damit die Faust aufs Auge paßt. Da sitzt sie dann, verstellt den Blick. Wir verstehen nicht nur Bahnhof. Wofür so ein Satz wohl wirbt? Die Wolken wie meine Gedanken weichen der Sonne. Ob Gedanken der Sonne immer weichen würden, lebte man in einem Sonnenland? Ich verfalle in Träume von einem Sonnenland. Kein Platz mehr für das, was sich vor den Augen abspielt, nur noch für die Träume dahinter. Regnet schwächer. Setze mich wieder hinaus.

147 – die dritte.

Mein Bus. Dieses Mal frei von Werbeaufschriften. Woran soll ich mich jetzt halten? Nicht mal auf Werbung ist Verlaß. Wenn der nächste 147er um die Ecke biegt, muß ich zurück zur Arbeit.

Ein albanischer Akkordeonspieler erschleicht sich mit seinem Hin- und Hergeziehe ein paar Cent bei den Touristen. Darauf falle ich nicht rein. Die sollten fürs Nichtspielen bezahlt werden. Keine Ahnung haben die, dabei habe ich gehört, daß das Akkordeon Albanern das wertvollste Instrument ist. Kann man dann nicht ordentlich spielen lernen?

Beim nächsten 147er muß ich zurück. Goldfarbene Handtaschen spazieren auf meiner Kopfhöhe. Amerikaner. In Goldfarbe getränktes Fahrrad eines Technomädchens läßt sich von seiner Besitzerin vorbeischieben. Dürr und klapprig. Ob ein Fahrrad sich langweilt, wenn es geschoben wird? Dabei könnte es blöd in die Gegend starren, genau wie ich. Litfaßsäulen, salomébehangen. Man muß sich alles abnutzen lassen. Die Glasfassaden der Häuser gegenüber, meterhohe Glasfassaden, Glasbushaltestellen, dahinter Menschen, Glasfenster vor den Läden und Cafés, Glasmenschen. U-Bahn-Schilder ragen wie mittelalterliche Tore aus den asphaltgrauen Gehsteigen. Bestickte Jeanshosen an Kinderfrauenkörpern und ehemals weiße T-Shirts in violetten Tönen gebatikt. Unerträglich. Deutsche Mode. Italienerkleine Männer in Maßanzügen. Picklige Schülerhorden erregen Erinnerungen und Selbstmitleid. Massen von Burger- Fetten strömen aus den Fast-Food-Läden. Warum müssen die zu weißer Haut kurze Hosen tragen? Regenjackenmütter hinter High-Tech-Kinderwägen, Bermuda- Amis, Socken-Birkenstockler – und Regentropfen auf meinem Kaffeeporzellan.

Nervös erwarte ich meine pausenbeendende, klingelzeichenersetzende 147. Zwischen dem Bus und mir: Kleinkinder, die ihre Nase in Eistüten verlieren. Söhne, meterweit vor ihren Vätern und Müttern, und doch sieht man ihnen die Verwandtschaft an, Töchter mit Hüftknochen wie Kleiderbügel laufen neben ihren Eltern, nehmen dann und wann die Hand ihrer Mutter und lassen die Väter allein. Söhne verbinden sich nie mit ihren Vätern in der Art, in der Töchter sich mit ihren Müttern verbinden. Der Ausschluß erfolgt immer einseitig. Die Erwachsenen, die den Platz, den ich eben noch besaß, einnehmen, stecken ihre Nasen in Computerbildschirme und Digitalfotos. Bildschirme statt Aussicht, Glashäuser statt Berge, Asphalt statt Wege – manchmal verirrt sich ein Vogel in dieser Landschaft: Sehnsucht, eingeklemmt zwischen Glasbauten.

147

Wieder hinterm Tresen. Gelblicher Tresen, ein Gelb, so weit entfernt von Ockergelb, wie es weiter nicht geht. Als müßte man die Bibliotheksbesucher vor zuviel Beheimatung schützen. Sie könnten sich ja zu lang in den städtischen Räumen aufhalten, Teppiche abnutzen, der Gemeinde kostspielig werden.

O ja, da kommt sie: die Unausweichliche des Tages. Jeden Tag muß es eine Unausweichliche geben, da kann man Wetten darauf abschließen, daß kein Tag vergeht, ohne daß so eine kommt. Jeden Tag mindestens eine wie sie in der Bibliothek:

Eine, die Bücher liest, aber nicht weiß, warum. Eine, die dann auch noch unbedingt das unausweichliche Gespräch führen muß. Eine, die halt sonst niemanden hat.

Nabokov scheint diese hier jedenfalls nicht haben zu wollen. Lolita berührt den wunden Punkt. Ungelesen wünscht sie das Buch zurückzugeben, als hätte irgendein Hahn danach gekräht und gefragt, ob sie das Buch gelesen hat. So gebe ich mich her als Wortauffangbecken, meine Chefin steht mir im Rücken, und kein Mensch kann ja immer nur tun, was ihm beliebt. Die junge Dame läßt sich aus, beschwert sich dermaßen, daß es sogar zuviel wäre, wenn sie für das Buch bezahlt hätte. Du kannst es doch einfach zurückgeben, denke ich, lächle. Jetzt kommt sie, die unausweichliche Schilderung ihres Traumas mit diesem Buch:

Wissen Sie, ich konnte das wirklich nicht lesen! Ich nicke. Wissen Sie, wie lange ich schon davon geträumt habe, das zu lesen? Ich schüttle den Kopf. Jahre! sagt sie, Jahre habe ich von diesem Buch geträumt und habe es mir aufgehoben. Ich versuche meinen Kopf still zu halten, um sie nicht zum Weiterreden zu motivieren. Auf keinen Fall verständnisvoll wirken, denke ich. Doch Verständnis braucht die nicht. Nur ein Wortauffangbecken. Ich kann das einfach nicht lesen! rattert sie weiter. Beim besten Willen nicht. So ein Perversling! Sie hätten mich ruhig warnen können! Klar, jetzt bin ich wieder schuld! Wie konnte man den nur zum Klassiker erklären! So einen perversen Alten! Ich meine nicht die Figur, ich meine diesen Nabokov! Schon klar, denke ich. Versuche weiterhin, keine Miene zu verziehen, irgendwann hört man doch auf, wenn nichts kommt vom Gesprächspartner – oder nicht? Was für ein perverser Alter, der diesen perversen Alten erfunden hat! fährt sie fort. So ein unbefriedigter alter Sack! Das darf ich mir jetzt wirklich erlauben, nachdem ich mich so belästigen lassen mußte, nur weil andere perverse Alte diesen perversen Alten zum Klassiker machen! Meine Schultern fallen mir bald auf den Tresen, so schwer lasten ihre Ausführungen. Herr, erlöse mich ihrer! Diese ganzen perversen Alten hätten besser einen Verein gegründet und Möbel gezimmert, statt Bücher zu schreiben und zu … Sie vergißt das Atemholen. Ich allerdings kann nur an eins denken: Wann muß sie das nächste Mal Luft holen? Wann? Seit Minuten, so scheint es mir, spricht sie in einem einzigen Atemzug. Einem einzigen! Dabei zuckt ihre nervöse Mäuschennase abwechselnd nach rechts und nach links, die Göre blickt mich durch ihre verfehlte Brille hindurch an, unfähig, ihre Pupille auch nur für eine Wortlänge an einer Stelle zu halten. Ich produziere innerlich bereits einen ausführlichen Gegenmonolog, den ich ihr, sobald sie in etwa vier Minuten das nächste Mal Luft holt, entgegenhalten werde: Wissen Sie, junge Dame, ich spüre bei Ihrer ungezogenen Art, tausend Sätze mit dem Luftvolumen eines einzigen Atemzugs in die Welt zu setzen, das ununterdrückbare Verlangen, Ihnen mitzuteilen, daß Sie mich bis zur Unbeherrschtheit erregen, daß Sie in mir Aggressionshormone zur Ausschüttung bringen, die mich dazu zwingen, Ihnen solange die Luft abzuschnüren, bis Ihnen die Augen herausfallen mitsamt Ihrem perversen Blick. Nach meiner geheimen Ansprache: lächeln, lächeln. Meine Chefin noch immer im Rücken. Sie schiebt mich endlich zur Seite und stellt sich neben mich. Einerseits: Entwarnung. Andererseits: geht der ganze Mist jetzt erst richtig los. Bitte nicht, nicht verständnisvoll lächeln. O mein Gott – die beiden verstehen sich. Großartig. Die unausweichliche Unterhaltung rollt ab:

Sie ahnen ja nicht, wie sehr Sie mir aus der Seele sprechen! Hat etwa Goethe so etwas gemacht? Diese Amerikaner! Wissen Sie, wäre der in Rußland geblieben, hätte er sich so etwas nie erlauben können.

Die Damen wissen über das Wissen der jeweils anderen bestens Bescheid und reden so, ganz im Einvernehmen, über gute und schlechte Bücher. Hausmütterchen und Mauerblümchen im regen Austausch nicken verständnisvoll, klimpern mit den Augenlidern, bestätigen einander mit breitgezogenen Mundwinkeln die Richtigkeit ihrer Ansichten und freuen sich, daß das mit der Kommunikation zwischen den Generationen so gut klappt. Kommunikation unter Randgruppen, würde ich gerne einwenden.

Im wesentlichen zähle die Handlung! Die Damen verwenden sogar den amerikanischen Begriff Plot. Denn eine Geschichte, nach heutigem Verständnis, brauche einen Plot. Nach heutigem Verständnis braucht eine Geschichte weniger denn je so etwas wie einen Plot, möchte ich sagen, doch ich schweige. Sie räumen ja bereits selbst ein, daß der Plot freier sei als früher, aber ein Plot müsse zwischen den Buchdeckeln zu erwarten sein, ein Plot, den man seinen Freundinnen erzählen könne und der die ganze Geschichte begründe …

Ein Plot begründet gar nichts, meiner Ansicht nach. Ein Plot motiviert nicht einmal zum Weiterlesen. Ein Plot hindert den Leser lediglich am Aufhören. Der nicht ganz naheliegende, bei näherem Hinsehen jedoch zwingende Unterschied liegt in Folgendem: Wenn ein Leser weiterlesen möchte, dann liest er weiter, weil ihm das Buch gefällt. Wer hingegen einem Plot folgt, liest nicht deshalb weiter, weil ihn das Buch gerade jetzt, an der Stelle, die er liest, in sich hineinzieht, sondern weil er denkt, daß ihm das Buch gleich, sobald er diese Stelle hinter sich hat, gefallen wird; der Leser bekommt in jeder Zeile suggeriert, daß das Spannendste noch kommt. Die gerade gelesene Stelle erzeugt eine unerträgliche Spannung, der Moment ist nicht erfüllt, muß sich aber erfüllen, wenn die Zeit, die man dafür aufwendet, sich gelohnt haben soll. Der Leser wird durch das Versprechen einer Bedürfnisbefriedigung am Ende der Lektüre bei der Stange gehalten. Nicht weil ihm die Geschichte gefällt, liest er, sondern des Versprechens wegen.

Dieser Vorstellung eines Plots, der zum Weiterlesen animiert, sind wir allesamt auf den Leim gegangen. Unsere gesamte Vorstellung von Leben ist diesem Plot zum Opfer gefallen. Jeder macht schnellstmöglich weiter, weil jeder denkt, das Besondere liegt in der Zukunft, und jeder sieht sich fortwährend enttäuscht, wenn das Erwartete nicht so spannend ist wie die Erwartung. Müßte nicht jedem von vornherein klar sein, daß die Lösung einer Spannung nie gleichermaßen spannend sein kann wie die Spannung selbst? Sonst hieße doch auch die Lösung der Spannung Spannung und nicht Lösung, oder nicht? Ich plädiere für ein plotfreies Leben!

Eins wie meins. Nichts als das Übliche. Wenn ich ein Tagebuch führen würde, könnte ich tagaus, tagein «siehe gestern» kalligraphieren. Das Gespräch der beiden Damen mischt sich mit dem Radiogemurmel zur Unkenntlichkeit, ich widme meine Aufmerksamkeit nun den Bücherregalen. Sonnenlicht fällt auf die Bücher mit den Initialen S, T, U. Ich hebe meinen Blick zum Himmel und starre durch das Glasdach der Bibliothek hindurch in die Sonne. Ein Flugzeug zieht vorüber, hinterläßt einen weißen wolkigen Streifen am Himmel, und für einen Moment vergesse ich, daß nie etwas geschieht in diesem Leben. Das Flugzeug ist längst aus meinem Sichtfeld, der weiße Strich am Himmel hat sich in Blau aufgelöst. Träumen Sie nicht so viel, Frollein, müßte jetzt ein graubärtiger alter Kunde sagen. Aber solche graubärtigen alten Kunden gibt es nur noch in Büchern. Ich habe seit langem aufgehört zu lesen, damit ich nicht darauf warte, daß etwas geschieht, was in Büchern geschieht, und vor allem: wie es in Büchern geschieht.

Juliana und Paul wollen heute abend essen gehen mit mir. Sie holen mich vor der Bibliothek ab, kichern ausgelassen. Sie kommen aus einem Film über das Leben der Pinguine und erzählen begeistert vom Paarungsverhalten dieser kellnerfrackigen Wesen. Ich habe mich mit Tieren nie ausgekannt und noch weniger mit den Polarkreisen. Weiß gar nicht, wie man da hinkommt, noch was man da will und weshalb einer da mit der Kamera hinfährt, damit sich zwei in Berlin darüber unterhalten, wie sich diese armen Tiere am Nordpol paaren. Sollen sie das doch in Ruhe tun.

Juliana und Paul sind hoffnungslos mit dem Stadtleben verwachsen. Hier ist diese Ausstellung, dort jenes Stück zu sehen, hinter einem Hinterhof, in der hintersten Ecke des hintersten Stadtteils aller Stadtteile haben irgendwelche wichtigen Leute einen spannenden Laden eröffnet, der unbedingt besuchenswert ist, damit sich das Stadtleben lohnt.

Was hast du denn erlebt heute? will Juliana wissen. Das Übliche, antworte ich. Wahrheitsgemäß. War denn viel los? will sie wissen. Das Übliche, antworte ich. Wahrheitsgemäß.

Wir sitzen beim Vietnamesen und essen Frühlingsrollen. Für diese Frühlingsrollen bin ich trotz allem zu begeistern. Verstehen kann ich es nicht, aber diese Frühlingsrollen sind frisch gewickelt und faustgroß, keine Spur von diesen fettig fritierten Frühlingsrollen bei den Chinesen. Ich tunke die Rolle in eine klare Tintenfischsoße und beiße genüßlich hinein. Möchtest du denn morgen mit uns ins Kino? fragt Paul. Nein, möchte ich nicht! entgegne ich. Das wissen die doch.

Paul: Es ist ja schon schade, daß du das alles verweigerst.

Namenlose: Was?

Paul: Na alles, was das Leben in einer Großstadt so lebendig macht.

Namenlose: Ich komm aus der Kleinstadt, Paul, wir vögeln unsere Pinguine noch selbst, dafür muß ich keine Filme sehen.

Juliana: Jetzt hör doch mal auf! Du und deine langwierigen Unterscheidungen zwischen

Groß- und Kleinstadt! Du hast einfach nicht gelernt, dich mit Kultur zu befassen, dafür kannst du erst mal nichts, aber dafür, daß du daran nichts änderst, kannst du was.

Namenlose: Ich hab da nichts von, keinen Mehrwert, versteht ihr? Ich fühle nichts, nichts, wenn ich in einem abgedunkelten Raum auf die Leinwand starre und Menschen zusehe, die Leben spielen. Ich fühle nichts dabei, wenn ich mich dann, nachdem ich neunzig Minuten lang auf eine Leinwand gestarrt habe, mit anderen, die diesem Leinwandleben zugesehen haben, in eine Kneipe setze und bei einem guten Weinchen darüber spreche, wie das war, was die da für uns gelebt haben. Ja, was hab ich denn dabei erlebt? Was haben die denn dabei erlebt? Die haben zumindest noch erlebt, daß sie so tun, als hätten sie was erlebt. Aber was das mir bringt, kannst du mir das mal erklären? Da erlebt doch meine ehemalige Mutter noch mehr, wenn sie sich in ihrem verschissenen Kiosk den Likör den Hals runterspült.

Stille

Juliana: Paul und ich machen uns Sorgen um dich. Schon länger. So wie du gerade

denkst und redest, so vulgär zerstörerisch und ohne jegliche Leidenschaft für nichts. Nur dagegen, immer nur gegen etwas sein.

Namenlose: Ist das denn keine Leidenschaft?

Juliana: Wut? Wut ist deine einzige Leidenschaft geworden. Paul und ich wollten wissen, ob du …

Namenlose: Juliana, Paul, hört mal zu: Gedacht habe ich schon immer so, und jetzt rede ich eben so, wie ich denke. Ich nenne das Fortschritt, und den laß ich mir von euch nicht vermasseln, nur weil wir – wie der Zufall es wollte – unter drei Millionen Leuten in einer Wohngemeinschaft zueinandergefunden haben. Das muß man noch lange nicht Schicksal nennen, oder sich so benehmen, als würde uns das

auf besondere Art und Weise miteinander verbinden. Ich möchte nicht reden, sonst kommt da so was raus. Ich möchte einfach sein, wie ich bin, und einen Scheiß mit euch reden. Und wenn ich vulgär bin, dann bin ich vulgär, weil man dort, wo ich herkomme, nun mal vulgär ist, sonst überlebt man das gar nicht. Paul: Du bist aber nicht mehr dort, wo du herkommst!

Namenlose: Ich würde gerne nach Hause gehen. ‹Mensch ärgere dich nicht› spielen, oder sonst was. Bitte, ich möchte nicht zur Kultur erzogen werden, das macht mich fertig.

Juliana: Hast du Probleme? Bist du depressiv?

Namenlose: Genau, komm mir jetzt so. Depressiv, expressiv, kommunikativ, für alles habt ihr Wörter. Ich hasse diese Wörter. Sie stehen in jeder Zeitschrift inzwischen, damit auch ja keiner die Selbstanalyse versäumt. Ich hab einfach ein dunkles Wesen, so Leute muß es auch geben!

Ich bestelle die Rechnung und verordne uns einen Spieleabend. Was die Leute immer reden müssen. Probleme. Ich kann mit meinen gut leben. Lösungen bringen nichts als Probleme, die wiederum neue Lösungen erfordern. Warum also nicht bei den alten bleiben? Ich laß mich nicht länger überfordern von dieser Welt.