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An dem Tag, als seine Eltern die Gewißheit erhielten, kein Kind mehr zeugen zu können, wurde ihr Sohn Max im Alter von fünf Jahren zum zweiten Mal geboren: als einer, der endgültig und hoffnungslos ohne Geschwister bleiben mußte. Noch am Krankenbett der Mutter, das kein Kindbett werden wollte, stieg der Verdacht in ihm auf, daß die Eltern ihr Versprechen nicht halten konnten. Sie weinten, doch seltsamerweise um ihn, den bereits vorhandenen Sohn, er, Max, wurde von ihnen bedauert, getröstet und aufgemuntert. Eines von drei oder vieren hätte er sein sollen. Von jetzt an würde er für immer der erste und letzte zugleich sein. Ein schneebleiches Häufchen Kind, so war Max anzuschauen, als er im grellweißen Licht des Klinikzimmers stand und gegen seine Tränen anzwinkerte.
Bald kannte das ganze Dorf seinen Mangel. Einen zweiten von Maxens Art gab es weit und breit nicht; rings galt noch immer die Bauernregel: „volle Ställe, volle Stuben“. Mit Max zog das Wort „Einzelkind“ im Waldtal ein. Auf der Straße, bei Nachbarn oder Verwandten wurden oft ähnlich klingende Wörter auf ihn abgeschossen, alle mit der spitzigen Ein-Silbe vorne dran: „einzig“, „einsam“, „einzecht“. Geschwisterlos, so war daraus zu lernen, bedeutete noch weniger als allein, geschwisterlos bedeutete unvollständig: ein Schlitten mit nur einer Kufe, ein Schatten ohne Körper, ein Schuh, zu dem der andere erst gefunden werden mußte. „Aber einen Kopf für zwei!“, riefen manche unter Lachen, weil sich auch an Max Dinanzer die für seine Sippe typische Manneskopfform grandios und unverfälscht zeigte.
Darauf begann er, sein Gesicht hinter Fratzen zu verstecken. Selten trat er ohne geschürzte Lippen, gebleckte Zähne oder geriffelte Stirn auf. Mit Vorliebe blickte er einäugig in die Welt oder blies die Backen auf, bis ihm die Augen hervorquollen. Öfter auch zuckte sein Mund, als führe er scharfe Gespräche mit einem Unsichtbaren neben sich. Doch wenn er einmal wirklich reden mußte, besonders vor Fremden, sprach er hinunter zu seinen Füßen.
Nur ihn allein zu haben, die dickschädlige Eingeburt, erschien ihm kraß ungenügend. Max war die Armut seiner Familie. Aber er war auch ihr einziger Reichtum. Eltern und Großeltern verteidigten ihn stets auf dieselbe Weise. Schamrot und fuchtelnd schrieen sie durcheinander: „Er darf ... er kann ... er muß ... er wird ... LERNEN!“ Vor viel zu vielen Zeugen schworen sie, alle Bildung auf ihren Einzigen zu häufen. Was seine ungeborenen Geschwister nicht benötigten, sollte ihm allein zugute kommen. Keiner seiner Vorfahren hatte je solches Glück gehabt, keiner war je weiter ins Niemandsland Zukunft vorausgeschickt worden. So mochten die lange ungenutzten Talente der Familie sich in Max entwickeln, von ihm ausgetragen werden.
Eine seiner ersten Lektionen lautete, in der Geschwisterlosigkeit den Grund allen Leidens zu erkennen. Wenn er traurig, ängstlich oder mürrisch war, wurde ihm sogleich ins Ohr gesetzt: „Dem Max fehlt ein Geschwisterchen!“ Dieser Satz konnte mitleidig oder höhnisch intoniert sein und so oft wiederholt werden, bis Max mit einem Ja antwortete, obwohl der Satz gar keine Frage, sondern selbst eine Antwort war. Damit man leichter zugab, was einem fehlte, tat der Satz so, als wäre „der Max“ ein abwesender Dritter, über den mit dem anwesenden Max, der ihn ebenfalls kannte, nur ein bißchen unverschämt geplaudert werden sollte. Mitunter hätte er nicht einmal widersprochen, wenn ihm gesagt worden wäre, sogar Nasenbluten oder Bauchweh rührten daher, daß er ein Geschwisterloser sei.
Wie etwas, das es nie gegeben hatte, so fehlen konnte.
Und die Welt zeugte täglich von neuem gegen Max. Sie war unübersehbar geschwisterlich eingerichtet. Alle, die er kannte, hatten Geschwister: Vater einen in der Ferne lebenden Bruder sowie einen, der im Krieg gefallen war; Mutter zwei jüngere Schwestern, seine Tanten; Großvater und Großmutter ungezählt viele von beiderlei Geschlecht, einige waren bereits tot, andere verschollen, wieder andere konnten jederzeit zu Besuch kommen. Wenn sie dann mit am Tisch saßen, Bruder bei Bruder, Schwester mit Schwester, war es möglich, sie zu vergleichen. Doch in keinem Fall überzeugten sie. Max wollte nicht glauben, daß es auch alte Geschwister gab. Geschwister, das war doch nur ein anderes Wort für jung, frisch, neugeboren – und weißes Haar auf Geschwisterköpfen so unvorstellbar wie ein Vollbart in einem Kindergesicht. Geschwister erstrahlten in einem Morgenglanz, den er an diesen Alten nicht finden konnte. Und je ähnlicher die Besucher seinem Großvater oder seiner Großmutter waren, desto peinlicher wurden sie: schlecht nachgemacht, unecht, bemitleidenswert.
Aber sonst sah er Brüder und Schwestern überall. Auch in seinem Dorf war das Geschwisterwesen reich entwickelt. Max, unterwegs an der Hand der Mutter, nahm davon im Vorübergehen, Bild um Bild mit nach Hause: zwei Bauernbuben, die hintereinander auf einem ungesattelten Pferd saßen und in unfaßbarer Höhe an ihm vorbeischwebten; dann eine lange Reihe von Geschwisterköpfen, gesehen durch die Rückscheibe eines Autos und treppenartig abgestuft; ebenso Brüderchen und Schwesterchen, nebeneinander in einem Fenster: Max’ Handgruß erwiderten sie nicht, so sehr gehörten sie zusammen; oder die Zwillingsmädchen aus der Werksiedlung, wenn Max sie erblickte, bog er sich jedesmal vor Entzücken – noch beim zehnten Wiedersehen wollten sie nicht unterscheidbar werden, und am liebsten hätte er das eine am Ohr gezupft, um herauszufinden, ob das andere es ebenfalls spürte.
Hinter jeder Hauswand hörte er Geschwister flüstern, bei jedem Einzelgänger auf der Straße dachte er dessen Brüder und Schwestern mit, zu jeder Spur fand Max die Geschwisterspur.
Einmal entdeckte er Kinder in einem Nußbaum, fünf, sechs, sieben, die auf den Ästen hockten und Nüsse herunterschüttelten, bis eines der Kinder mit vom Baum fiel, worauf die anderen brüllend loslachten – und gleich lachte es geschwisterlich mit. Ein andermal trat eine Anzahl Jungen aus einem Haus und bildete einen Trupp, der lärmend die Straße hinunterzog. Die kleinen Brüder sprangen im Gehen an den großen Brüdern hinauf, zum Teil bis in Augen- und Ohrenhöhe. Manche liefen rückwärts mit oder drehten sich hochschnellend immer wieder um die eigene Achse. Ein Tanz, ein Reigen, ein lustiges Dahintoben und Fortstrudeln – das war die Geschwisterwelt. Er wollte mehr über diesen Trupp wissen, aber die Mutter sagte, nicht alle, die man für Brüder halte, seien auch welche.
Doch konnten ihm auch echte Brüder gezeigt werden: die drei Pfarrerssöhne, die, in gleichgrauen Lederhosen und gleichroten Strickjacken, zwischen Blumen stehend, darauf warteten, von ihrem Vater fotografiert zu werden. Seinem mehrmals gegebenen Befehl zu lächeln folgten sie nicht, und die dreifach-brüderliche Weigerung kam mit aufs Bild.
Beim Frisör begegnete Max ihnen wieder. Sie wurden in rascher Folge nacheinander geschoren, ohne daß ein anderer Kunde zwischendurch drankam. Man behandelte die drei, als wären sie einer – während sich unter dem Stuhl ihre abgeschnittenen Haare vermengten, untrennbar, ununterscheidbar. Als die Haare am Ende weggekehrt wurden, fiel Max auf, wie wenig es waren. Seine Haare würden nachher zwar unvermischt und unverbrüdert auf dem Boden liegen, doch wären es bei ihm allein vermutlich mehr als bei den drei Pfarrerssöhnen zusammen. Durfte er sich damit trösten? Denn offenbar hatte er nicht nur einen Kopf für zwei, sondern auf diesem auch Haare für drei.
Näher als auf Sicht- oder Hörweite kam Max der Geschwisterwelt einstweilen nicht. Daheim blieb sein Mangel am ehesten vor ihm verborgen, denn dort gab es nur Erwachsene, seine Eltern und seine Großeltern. Die Familie Dinanzer wohnte nahe dem Ortsrand, in einem der letzten Häuser an der Straße zum Friedhof und in enger, schattenreicher Nachbarschaft zu einem Kastanienbaum. Maxens Erwachsene waren fast immer um ihn, mühelos erreichbar und stets für ihn da, selbst sein Vater, der zum Arbeiten nicht aus dem Haus mußte, sondern im Erdgeschoß seine Schreinerwerkstatt hatte, in der er Fenster, Türen, kleinere Möbelstücke und bisweilen auch Särge fertigte. Schräg gegenüber besaßen die Dinanzers einen Garten mit Gemüsebeeten, Obstbaumwiesen und einem gemauerten sowie einem gezimmerten Stall für Hasen, Ziegen, Hühner und ein Schwein. Ganz vorne stand ein verwitterter Schuppen, in dem der Vater Holz lagerte und zu jeder Zeit einen Sarg vorrätig hielt.
Tagsüber flitzte der Sohn und Enkel zwischen seinen Erwachsenen hin und her, überbrachte Botschaften, tauschte Blicke, Grüße, Zeichen, rief zum Essen, obwohl alle wußten, wann Essenszeit war, oder zerrte den Vater ans Telefon. Manchmal sprang er aus dem Verborgenen vor sie hin, daß sie erschraken, oder rief ihnen von fern etwas Unverständliches zu, worüber sie grübeln sollten. Es war, als dürfe er keine Stunde lang versäumen, sich in Erinnerung zu bringen; oder als spanne er bei seinem Gerenne heimlich Bindfäden aus, mit denen die Familie zusammengehalten wurde. Bei mindestens zwei seiner vier Erwachsenen wußte er immer, wo sie sich gerade aufhielten. Die übrigen waren schnell wiedergefunden.
Abends spielten seine Großeltern in ihrer Küche mit ihm Karten. Gespielt wurde um Pfennige, die aber zum Schluß wieder herausgerückt werden mußten; man konnte nur siegen, aber nichts gewinnen. Mit sich allein zu spielen hingegen, gelang Max selten. Lediglich von ihm berührt und angeschaut, wollten sich seine Spielsachen nicht beleben. So oft man die Plastikritter oder die Blechautos auch anspuckte oder anhauchte und am Ärmel rieb, sie erwärmten sich nicht und schmiegten sich nicht in die Hand, oder nur kurz. Wenn die Eltern in der Nähe waren und leise miteinander sprachen, fürchtete er, angesichts seines Ungeschicks im Spiel falle ihnen sein Mangel ein. Wenn sie, umgekehrt, einmal blaß und müde herumhockten und ihrem Sohn kein einziges Wort geben mochten, glaubte er, sie trauerten um eines ihrer ungeborenen Kinder; dann kroch er still unter den Tisch, an dem sie einander gegenübersaßen, und hielt von Vater und Mutter jeweils ein Bein fest, weshalb sie ihm von oben den Kopf tätschelten, ohne vielleicht zu ahnen, wofür sie getröstet wurden.
Plötzlich mußte der Vorschlag verhandelt werden, einen Fernsehapparat anzuschaffen. Niemand wußte, von wem er gemacht worden war. Möglicherweise stammte er von Max, der ihn mit verstellter Stimme durchs Schlüsselloch hereingesprochen hatte. Doch keiner forschte nach, alle waren beschäftigt damit, den Vorschlag zurückzuweisen, und jeder schien dabei der Eifrigste sein zu wollen – noch nie hatte Max seine Erwachsenen so wütend erlebt, aber auch so furchtsam. Sie schlugen mit Sätzen wie mit Schwertern um sich, und ihre Stimmen waren kaum noch zu unterscheiden. Für einen wie Max, predigten sie, sei ein Fernseher das Verderben: der adoptiere ihn; der locke ihn in den Sessel oder ins Sofa und lasse ihn darin versinken; ein falscher Kamerad und Rabenbruder sei der Fernseher, gegen den ein einzelner nichts auszurichten habe; mit seinem Licht, blau und giftig wie Kunstdünger, trockne er die Lebenssäfte aus; und am Ende mache er nicht nur einen dummen Kopf, sondern sogar dumme Füße, mit denen kein Mensch mehr richtig laufen könne.
Jedoch, so schlossen sie, wollten sie ihrem Kind den Fernseher nicht einfach vorenthalten oder verbieten, sondern er, Max, solle von sich aus und zu seinem eigenen Schutz darauf verzichten – geradeso wie sie, seine Eltern und Großeltern, darauf verzichten könnten. Gerne folgten sie seinem Beispiel. Gerne nähmen sie ihn zum Vorbild. Wenn er keinen wolle, wollten sie auch keinen.
Solcher Liebe war schwer zu widerstehen, obwohl Max sich nicht ohne Mißtrauen darüber wunderte, daß die beschworenen Gefahren nur ihm allein oder fast nur ihm allein drohten. Trotzdem freute er sich an dem Gefühl, der Nachgiebige und Vernünftige sein zu dürfen. Auch war es schön anzuhören, daß „unser Einziger“ seinen Jahren voraus sei. Wenn zu diesem Glück noch ein Fernsehapparat gekommen wäre, es wäre ein blitzblankes und kugelrundes Glück gewesen. So aber würde in naher Zukunft keine Antenne von Maxens Hausdach in den Himmel aufragen wie eine nach oben geöffnete Krallenhand und verkünden, daß hier ein Fernsehbesitzer wohnte.
Auf den Bahnen, die Max zwischen seinen Erwachsenen zog, fielen ihm hin und wieder kleine Aufgaben zu. Es wurden immer mehr, und allmählich wuchsen sie sich zu richtigen Tätigkeiten aus. Alles ging unmerklich vonstatten und ähnelte dem Zufall. Anfangs war dem Großvater Feuer für seine Zigarre zu reichen, dann hatte die Großmutter ein Wollknäuel zu entwirren oder Zwirn durch ein kaum sichtbares Nadelöhr zu fädeln, schließlich bemerkte die Mutter, daß das Parkett in der Stube leichter zum Glänzen zu bringen sei, wenn beim Bohnern jemand auf dem gußeisernen Gewicht des Bohnerbesens kniete. So wurde Maxens Nützlichkeit entdeckt. Er lieh seinen Erwachsenen Auge, Hand, Fuß oder Ohr, und erst durch ihn wurde jeder von ihnen zu einem Ganzen. Bald fand man ihn beim Tischdecken, Geschirrspülen oder Rettichschaben, bald beim Äpfellesen, Brennholztragen oder Ziegenfüttern, bald auch beim Hofkehren, Stallausmisten oder Marmeladekochen. Immer gelang es Max, im richtigen Augenblick dort aufzutauchen, wo jemand fehlte; dafür wurde er von allen gelobt. Die Werkstatt des Vaters jedoch durfte er einzig dann betreten, wenn darin keine Maschine lief, sondern bloß etwa Hobelspäne in einen leeren Sarg einzufüllen waren, damit der Tote nicht nur sanft ruhe, sondern auch weich liege.
Abends war Max müde wie ein Großer, nur daß er früher ins Bett mußte. Doch die Nacht trennte ihn nie lange von seinen Erwachsenen. Schon beim Einschlafen dachte er an den kommenden Morgen voraus. Noch durch seine herabgefallenen Lider konnte er den ersten Lichtstreif des kommenden Tages sehen. Die Vorfreude würde ihn zeitig wecken, auf sie war Verlaß.
Angst erfaßte Max, wenn er in den Keller hinabgeschickt wurde, einen Krug Most, eine Flasche Wein oder, in einem Korb, nicht zu groß für seine Hand, Kartoffeln zu holen. Niemand begleitete ihn dorthin, und anscheinend wollte ihn auch niemand begleiten, obwohl jeder seiner vier Erwachsenen mitleidig zu ihm hinsah, bevor Max Stufe um Stufe abwärts stieg. Ihm war, als müßten sie es sich verbieten, ihn zu begleiten, vielleicht sogar gegenseitig.
Die Angst wuchs, je näher der Keller kam. Und die Angst zupfte die Erinnerung wach, daß etwas fehlte und wie sehr es fehlte. Jetzt wäre ein Geschwister vonnöten gewesen, ein Mitkind, das wenigstens den halben Weg mitginge und von oben her mit einem redete, während man sich an seinen Worten, seinen Sätzen immer steiler und tiefer hinunterfädelte. So aber waren nur ein paar rasch leiser werdende Werkelgeräusche aus der Küche der Großeltern zu hören. Die breite, niedere Kellertür, nicht leicht aufzustoßen, mußte nach dem Eintreten sofort wieder geschlossen werden, damit es im Keller kühl blieb. Sobald sie zu war, riß die Hörverbindung nach oben ganz ab, egal wie sehr man beim Weitersteigen auf der nächsten Treppe auch hinauflauschte. Ein Bruder oder Hilfsbruder hätte es vielleicht gewagt, die Tür entgegen der Anweisung offenzuhalten.
Ganz unten war der Keller eine ausgemauerte, halbrunde Höhle; der Boden bestand aus nackter, festgetretener Erde, die einen Geruch ausströmte, für den Max keinen Namen hatte. Das einzige Licht, das hier brannte, kam aus einer vergitterten Lampe im Gewölbe und konnte nur von oben, von den Wohnräumen aus an- und abgeschaltet werden. Doch es erhellte den Keller nicht eigentlich, sondern sprenkelte allenfalls die Gegenstände in seinem Dunkel mit gelbbraunen Flecken. Wäre das Licht auch nur für einen Moment erloschen, Max hätte kaum angenommen, noch dazusein, wenn es wieder angegangen wäre, sondern vermutet, durch diese eine einzige Schalterumdrehung mitausgelöscht worden zu sein; so schwach und nichtig, so zufällig und mangelhaft im Leben abgestellt fühlte er sich hier unten. Um so größer die Dankbarkeit, wenn seine Hand endlich den Faßhahn gefunden hatte, und der Most in den Krug floß. Trotzdem wurde der Krug bei ihm nie voll – und was darinnen war, nicht selten beim Gang treppauf noch verschwappt. Wenn Max oben ankam, versuchte er seine Erwachsenen mit demselben wortkargen Ernst zu mustern, mit dem sie ihn losgeschickt hatten. Auch umrundete er sie, um sie von hinten zu sehen, vielleicht verriet sich dort etwas. Doch nichts war ihnen anzumerken; man mußte wohl mehr Mut aufbringen und länger fortsein, um vermißt zu werden.
Kurz vor Weihnachten erfuhr Max, daß er von seinen diesjährigen Plätzchen an arme Dorfkinder abgeben solle. Ein Urheber dieser Empfehlung war nicht auszumachen, doch hinter ihr schien wieder ein vierfacher Wille zu stehen. Max müsse das Teilen lernen, hieß es aus mehreren Mündern, nur wer teilen könne, bleibe vor Eigensucht bewahrt, vor dem Ich-ich-ich, diesem Untier, das sonst einen wie ihn leicht in seine Klauen bekäme.
Tagelang buken Mutter und Großmutter jedes Jahr abwechselnd in zwei Küchen das Weihnachtsgebäck miteinander: Lebkuchen, Zimtsterne oder sogenannte Makronen, in denen sich von fern pummelige Engel mit Haselnußköpfen und schaumweißen Halskrausen erkennen ließen. Auch puderzuckrige Spritzgebäckkringel wurden hergestellt, die man sich wie Ringe an die Finger stecken konnte, auch mehrere hintereinander. Manchmal trug Max mehrere von ihnen an jeder Hand, bevor er sie von dort weg nach und nach verzehrte. Niemand machte ihm seine Plätzchen streitig, niemand außer der Zeit, die sie, je nach ihrer Beschaffenheit, zerbröselte oder aushärtete. Den härtesten war nur noch auf eine Art beizukommen: Man warf sie in eine Tasse mit selbstangerührtem, gezuckertem Milchtee und wartete, bis sie untergingen. Oder man tunkte sie gleich selbst hinab, und zwar so lange, bis sie drunten zerfielen, zu Schlamm wurden und breiig warm heraufgelöffelt werden konnten.
Die Übergabe der Plätzchen in dem von seiner Familie ausgewählten Haus hatte er sich jubilierender vorgestellt. Noch auf der Treppe vor der Wohnungstür bedankten sich die Eltern: fast demütig und anscheinend erschreckt, als hätten sie kein Geschenk, sondern eine schlechte Nachricht erhalten. Sie bedankten sich nur bei der Großmutter, auf Max wollte ihr Dank nicht überspringen. Auch vom Teilen und Opfern sowie der Hauptperson, die beides vollbracht hatte, war nicht die Rede. Ein wenig unterhalb der geschüttelten Hände, auf Maxens Augenhöhe, rissen derweil die beschenkten Geschwister mit groben Händen die Plätzchentüte auf und wühlten suchend darin herum. Gleichzeitig blickten sie Max so wortlos frech und vorsätzlich undankbar ins Gesicht, daß sie ebensogut hätten sagen können: Willst ein Engelchen sein, kannst aber nicht fliegen. Dabei verspeisten sie die blind herausgefischten Plätzchen oder vielmehr: Sie rieben sie mit der flachen Hand von unten nach oben in ihre aufgesperrten Mäuler hinein, daß die Brösel, die Nuß- und Mandelsplitter, die Schokoladenkrümel nach rechts und links davonspritzten.
Es war gleichfalls die Großmutter, die ihrem Enkel riet, endlich sein Gesicht stillzuhalten und nicht in einem fort Falten zu werfen, Schnuten zu ziehen und Wülste zu bilden; sonst niste das Alter sich vor der Zeit in seinen Zügen ein. „Niemand muß sich für sein Gesicht schämen“, sagte sie, „jeder darf es frei durch die Welt tragen und sehen lassen.“ Am schönsten sei das eigene Gesicht, wenn man nicht daran denke, sofort beginne es zu strahlen, öffne sich wie eine Blüte, werde freundlich und lächelbereit. Sie streichelte Max die Wangen und fuhr mit der Fingerspitze über den Sommersprossensattel auf seiner Nase. Das Streicheln ging in ein Glattstreichen und sanftes Massieren über, das ihm wohltat und ihn ein bißchen schläfrig machte. So entspannte er Muskel um Muskel, wie die Großmutter es verlangte. Gleichzeitig wurde ihm in ihrem Gesicht vorgespielt, was er mit seinem Gesicht alles anstellte: wie er die Augen aufriß oder zu Schlitzen verengte; wie er den dreieckigen hellblonden Haarkeil mit der Hand über die vordere Schädelwölbung herniederzog und darunter ein Gärtchen mit Runzeln anlegte; wie er die Lippen, wenn sie einmal nicht aufgeworfen waren, in seinen Mund hineinsaugte, bis sie weiß waren vor Blutleere.
Als die Großmutter abließ, spürte er sein Gesicht nicht mehr, es war wie weg oder schwerelos und noch nie so leicht zu tragen gewesen, grad als wäre mitsamt seinen Grimassen ein Gewicht daraus fortgenommen worden. Allein die Stirne legte sich gegen Max’ Willen gleich wieder von selbst in Falten, da sie wahrscheinlich aus Scheu oder Verlegenheit daran gewöhnt war, und beide, Großmutter und Enkel, mußten lachen über sie.
Ein andermal schlug die Großmutter ihm vor, ein Gedicht zu lernen. Von ihrem Tischende aus rief sie Max einen Vers zu. Er merkte sich diesen Vers, indem er ihn zuerst halblaut, dann in Gedanken nachsprach, und rief ihn, auf Verlangen der Großmutter, von seinem Tischende wieder zu ihr zurück.
Eine Kraft wie die Auswendigkraft hatte Max bisher noch nicht verspürt. Kaum erhob sich seine Stimme, um Verse zu sprechen, wurde ihm warm, sein Gesicht straffte sich, der Atem strömte beim Sprechen wie von selbst aus und ein, und ungeahnter Mut flog ihm zu. Nicht satt konnte er sich hören an den selbst hervorgebrachten Wörtern, die zwar nicht seine eigenen waren, aber doch mehr Kraft besaßen als alle, über die er bisher verfügt hatte. Man mußte einen Vers nur am Zipfel erwischen, schon folgte ratternd das ganze Gedicht. Küche und Stube ließen sich mit seinem Klang ausfüllen. Wie der Wind aus dem Blasebalg in Vaters Werkstatt fuhr das Gedicht in die Ecken und scheuchte Staubflusen auf. Zum Fenster konnte man es hinausschreien. Oder hinein durch eine Tür, die man danach zuhaute. Am machtvollsten tönte das Gedicht, ins Dunkel einer leeren Gießkanne gesprochen. Auch auf dem Abort, wenn zäh die Zeit verstrich, tat es gute Dienste. Es war treu, das Auswendiggelernte. Selbst stumm ließ es sich noch gebrauchen, indem man es vor sich hindachte. Und nie ging es verloren, noch am anderen Morgen, nach durchschlafener Nacht, in der man es vergessen glaubte, war es wieder da.
Bald schien es der Großmutter auch an der Zeit, die Bitte um ein Geschwisterchen aus Max’ Nachtgebet zu entfernen. Da meistens sie ihn zu Bett brachte, entging ihr nicht, daß der Enkelsohn betend noch immer um etwas bat, das nicht zu bekommen war. In seiner Gegenwart trug sie es beinahe verstohlen den drei übrigen Erwachsenen vor und sprach unwidersprochen davon, daß Gott sich verhöhnt fühlen müsse, wenn er mit unerfüllbaren Wünschen belagert werde; außerdem mache sich selbst zum Narren, wer betend und flehend einer grundlos gewordenen Hoffnung nachhänge. Also sei um Gottes wie um Maxens Willen die falsche Bitte aus dem Gebet zu nehmen. Damit wurde freilich auch die hart gegen das letzte Bittwort stoßende Dankesformel überflüssig, die Max gern laut, händeringend und mit heftigem Kopfnicken wiederholte, um den Himmel, falls nötig, vollends zu erweichen.
Das Beten hatte er von der Großmutter gelernt. Fast hatte er überhaupt mit dem Beten das Sprechen gelernt. Zuerst war ein von der Großmutter mitgesprochenes kurzes Reimgebet aufzusagen. Daran wurde eine Litanei von Bitten und Fürbitten gehängt, die Max frei erfunden und eingeübt hatte und alleine sprach. Sie war lang, doch nie gleichlang, und auch die Reihenfolge des Erbetenen änderte sich häufig. Zugleich wurde Max ermahnt, mit dem rasenden Herunterbeten aufzuhören, das er sich angewöhnt hatte und für einen glaubwürdigen Ausdruck seiner Wünsche hielt. Gott und der Großmutter zuliebe tilgte er die Geschwisterbitte aus dem Gebet, das er von diesem Tag an auch langsamer zu sprechen versuchte. Doch immer wenn er an die Stelle kam, an der noch jüngst die Geschwisterbitte erhoben worden war, mußte er sich vorsehen, sie aus Gewohnheit nicht wieder einzufügen; so blieb sie unvergessen.
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