Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:50
Silke Scheuermann (Foto: Paul Müller)
Silke Scheuermann
DIE FURCHTLOSEN
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Der Tag pumpte sich ein letztes Mal auf und schickte Sonne und Energie. Das Licht war butterweich – ein abnehmendes Licht, aber noch stark genug, dass die Konturen verschwammen; der Asphalt vor mir glitzerte wie eine Wasseroberfläche. Seit ich mit dem Bus von der Arbeit nachhause fuhr, kam ich fast eineinhalb Stunden später heim als sonst. Die Abende waren viel kürzer als früher, und doch schien es mir, wenn ich von der Haltestelle durch die Neubausiedlung ging, als ob die leeren Straßen noch einiges mit den Bewohnern vorhatten, bevor sie zuließen, dass es dunkel würde.

Ich zuckte zusammen, als ich die fette, getigerte Katze auf der grün glänzenden Motorhaube meines Minis liegen sah wie eine Raupe auf einem überdimensionalen Blatt. Ich hatte nicht zu dem Auto hinsehen wollen; das Tier hatte sich gestreckt und meinen Blick darauf gelenkt; ich fühlte mich herein gelegt. Meine Hände zitterten, als ich die Haustür aufschloss. Im Flur sprang mir die leere obere Seite des Notizblocks auf dem Telefontisch ins Auge. Ich starrte darauf, dann streifte ich die Pumps ab. Anstatt wie sonst zuerst nach dem schlafenden Julian zu sehen, ging ich in den Garten, wo ich Ralph vermutete. Er war in die Zeitung vertieft, neben sich einen Krug Orangensaft und ein Glas, an dem noch ein paar Fruchtfetzen klebten. Ich blieb auf der Terrasse stehen. Er hatte mich nicht kommen hören; ich zögerte plötzlich, ihn zu begrüßen, formulierte in Gedanken einen Satz, der gut wäre. Mutig, aber nicht zu direkt. Es war schwer; er war oft gereizt in letzter Zeit, das lag an meiner ständigen Verspätung.

„Hat denn immer noch niemand auf das Inserat geantwortet?“ platzte ich heraus. „Können wir nicht ein bisschen mit dem Preis runtergehen?“

Er sah auf: „Du willst ihn unbedingt loswerden, stimmt’s? Kathrin, du hast doch keine Ahnung, dreizehntausend für einen Oldtimer, das ist geschenkt.“

Ich sagte nichts, biss mir nur auf die Lippen. Normalerweise bin ich die Sparsame, aber in dem Fall war es mir egal, wenn wir Verlust machten. Ralph faltete die Zeitung gründlich zusammen, steckte die Teile so ineinander, dass sie aussahen wie neu und lächelte mich an: „Hör mal, ich habe eine andere Idee. Wir können den Wagen genauso gut Sylvia schenken. So, wie es aussieht, braucht sie nur die Mindestzahl Fahrstunden, und zu ihrem Geburtstag nächste Woche hat sie den Schein. Warum soll sie einen billigen gebrauchten bekommen, wenn wir den schönen Mini haben?“

Er sah mich von unten an, halb erwartungsvoll, halb provozierend, und ich dachte, wie gut er immer noch aussah. Seine Schläfen wurden grau, aber er war ein Mann, der wie zum Spaß alterte. Keine Traurigkeit, reine Würde.

„Ich glaube nicht, dass sie einen Wagen braucht“ sagte ich vorsichtig. „Mein Gott, Ralph. Sie kann mit dem Fahrrad zur Schule fahren, das ist viel gesünder.“

Das klang, als gönnte ich ihr den Wagen nicht. Was ich nicht sagen konnte war: Ich glaubte nicht mehr, das Auto brächte irgendwem Glück. Aber ein Wort wie Aberglaube kennt mein Mann nicht, auch wenn man es ihm buchstabiert.

Ralph sagte: „Und nächstes Jahr an die Uni radeln? Wenn sie hier wohnen bleibt?“

Auf dem Rand des Kruges krabbelte ein Marienkäfer, die Flügel halb gespreizt; wie ein winziges aufgeklapptes Handy empfing er seine Informationen aus der Luft. Plötzlich war mir das Gespräch zu viel. Die eine Sache war, dass ich nichts mehr von dem schrecklichen Auto hören wollte, die andere, dass ich praktisch pausenlos von ihm redete.

„Lass uns nicht wieder streiten!“

„Dann hört doch auf, es zu beschwören!“ sagte Ralph und klopfte auf die massive Lehne des Liegestuhls, zum Zeichen, dass ich mich zu ihm setzen sollte, aber ich schüttelte den Kopf, es war mir zu heiß. Wenn ich das vom Arzt verschriebene Medikament gegen die Angst genommen hätte, dürfte ich gar nicht in die Sonne gehen, fiel mir ein. Ralph hatte sich darüber lustig gemacht, „wo gibt es denn so was“, hatte er gesagt, „du hast sogar Angst vor einem Medikament gegen die Angst“.

Ich riet Ralph, bald ins Haus zu kommen, es würde dunkel, und dachte daran, dass es um unsere Liebe im Moment wie um meinen Führerschein stand, noch gültig, aber derzeit nicht gebraucht. Er nickte spöttisch, griff wieder zur Zeitung, und ich ging in den ersten Stock, um nach Julian zu sehen, der schon schlief. Wie er das Gesicht zur Decke gedreht dalag, mit diesem hellen Haar, sah er so schutzlos und unschuldig aus, dass es wehtat. Ich streichelte ihm über den Kopf, über die verkrampfte Hand, die den Kuschelhund hielt. Ich glaubte an nichts, das war mir in diesen Tagen aufgefallen. Nicht an irgendetwas Religiöses oder Metaphysisches, nicht an eine politische Utopie. Eine Stimme in mir sagte, aber an das Leben glaubst du doch, und das stimmte zum Glück.

Ich zog die Tür nicht ganz zu, als ich auf Zehenspitzen das Zimmer verließ. Das Telefonkabel lief unter der Tür ins Nachbarzimmer, man konnte stolpern, aber ich wollte nichts sagen, wenn Sylvia unseren uralten Apparat statt ihres Handys benutzte, sparten wir immerhin Kosten.

Kathrin hatte mich schon immer genervt, aber seit dem Überfall war sie ein Problem. Immer stritten sie, wenn sie abends heimkam, ich hatte die Fenster offen und hörte sie im Garten, drehte dann die Anlage auf oder fing an zu telefonieren, um nur ja kein Wort zu verstehen. Wie Kathrin Papa kränkte, indem sie plötzlich das Auto nicht mehr haben wollte! Es war kaum ein Dreivierteljahr her, da hatte er es ihr geschenkt, nachdem ihr alter Fiat kaputt gegangen war. Mann, das war ein Theater gewesen. Er hatte die Schlüssel in ein Kästchen getan, und dann liefen wir alle vor’s Haus, stellten uns um den tollen Mini. Erbsengrün war er, ziemlich auffällig, deshalb hatte der Bankräuber ihn auch bei nächster Gelegenheit wieder abgestellt. Zum Teil hatte es jedenfalls am Wagen gelegen, dass sie den Kerl so schnell geschnappt hatten. Ich musste immer an den Moment denken, an dem er Kathrin die Knarre unter die Nase gehalten, sie bedroht hatte, deine Autoschlüssel, ich stellte mir sein Entsetzen vor als er bemerkte, wie auffällig sein Fluchtfahrzeug war. Kathrin sah nicht nach so was Extravagantem aus. Dass sie den Schlüssel einfach so heraus gegeben hatte fand ich unglaublich; ich hätte das nicht getan, da war ich mir sicher; ich fürchtete mich nicht so leicht. An ihrer Stelle hätte ich einfach geleugnet, ein Auto zu haben.

Ich fegte einen Stapel Papierzeug vom Tisch Richtung Mülleimer, ein Hausaufgabenheft fiel auf den Boden, aber ich ließ es liegen. Ich selber hätte den Wagen so gerne gehabt, aber das war ja allen egal. Kurzer Blick auf meinen Stundenplan, dann packte ich das Mathe- und das Geometriebuch ein, außerdem Romeo und Julia auf dem Dorfe. Ich verzichtete auf die Sportsachen, das war die Doppelstunde am Nachmittag, prima zum Schwänzen. Ich würde Tommy vorschlagen, ins Schwimmbad zu gehen, tagsüber hatte er ja Zeit. Ich ging ins Bad und inspizierte den Wäscheständer. Kathrins BHs, schön säuberlich mit den Schalen nach links gerichtet, eine Wäscheklammer pro Stück an die linke Verschlussseite, kleine Titten, viel Zeug in schwarz und grau, es sah aus wie ein zerlegter Eierkarton.

„Was suchst du?“

Sie war geräuschlos hinter mir aufgetaucht. Das Kostüm war eines ihrer schlimmsten, aber seit sie wieder arbeitete, sah sie ein bisschen besser aus. Sie kratzte sich mit ihrem linken Fuß am rechten Unterschenkel und sah mich ratlos an.

„Meinen Bikini“, sagte ich. „Ich geh morgen nach der Schule mit Tommy ins Schwimmbad.“

Sie wünschte mir Spaß, wartete, ob ich noch was sagen würde, aber das hatte ich nicht vor. Bevor ich wieder in meinem Zimmer verschwand, stellte ich mich kurz ans Fenster, paffte eine Zigarette und sah hinaus auf die Vorgärten. Alle gepflegter als unserer, also spießig, das waren wir nicht. Wir waren erst seit eineinhalb Jahren hier, zusammen mit einem von Kathrin organisierten Kredit hatten sie das Haus gekauft. Mir gefiel es, auf einmal war alles neu um einen herum, keine Vergangenheit, nur das Jetzt und die Zukunft. Die Schule jetzt war mir lieber, auch wenn Tommy sagte, ich sei da nicht die Queen, nur die Königin der Landeier.

Als ich zurück in mein Zimmer kam, saß Papa auf dem Bett und sah sich meine CDs an.

„He“, sagte er, und ich schob unauffällig meinen Bikini in die Schultasche. Ich freute mich, ich hatte auf den richtigen Moment gewartet, da war er.

„Ich habe eine eins in Sozialkunde bekommen.“

Seine Augen leuchteten richtig, und die große Falte am Kinn verkürzte sich, weil er lächelte. Ich fummelte aus der Schublade meinen Schnellhefter, auf dessen erstem Blatt oben eine rote eins und die Signatur von der Schmalenberg prangten. Normalerweise reichte ihm das, und zehn Euro wechselten den Besitzer, aber diesmal griff er nach dem Ordner. Ich sagte schnell, dass es nicht so interessant wäre, vom Thema her.

Er las laut: „Verbrechen in Stadt und Landkreis – ein Vergleich“, dann lachten wir beide, aber verlegen. Sollte ich mich schämen, weil er sich jetzt Sorgen um mich machte? Die Arbeit war nicht so toll, aber als ich das Thema vorgeschlagen hatte, war die Schmalenberg sofort Feuer und Flamme gewesen. Sie hatte bestimmt Wind von der Sache bekommen und fand es gut, dass ich meine Stiefmutter besser verstehen wollte. Das war ein Grund, sicher. Abgesehen davon gab es auch ein privates Interesse, es hatte nur mit mir zu tun und ich sprach nicht darüber, mit keinem.

„War es schwierig für dich, das zu schreiben?“

Pa ließ den Hefter sinken.

„Nein“, sagte ich. „Im Gegenteil. Es hat mir deutlich gemacht, dass wir, ich meine, dass Kathrin Glück hatte.“

Das stimmte. Alles, was ich über Verbrechen und Unglücksfälle im Landkreis gelesen hatte, bestätigte mich in der Ansicht, sie sollte endlich Ruhe geben, einfach nur dankbar sein. Es passierten definitiv schlimmere Dinge, als dass sich jemand dein Auto auslieh.

„Die individuelle Wahrnehmung ist halt anders. Es lässt sie nicht los.“

„Sie hat sich so eine Art angewöhnt, im Haus rumzuschleichen und einen zu erschrecken“, sagte ich.

Zweieinhalb Wochen, fasste ich still zusammen, zweieinhalb Wochen war sie das Gespenst gewesen, mit bleichem Gesicht und schwarzen Augenhöhlen. Ich trieb mich daher draußen rum, machte außer der Sozialkundesache nichts für die Schule, war in der Zeit auch Tommy näher gekommen. Kurze Zusammenfassung – und ich kam mir vor wie eine Kriegsgewinnlerin.

Pa schaute wieder auf die Hüllen der CD, dann auf den Schnellhefter, dann auf mich.

„Pass mal auf, ich verspreche dir was. Du kriegst das Auto, wir zögern es einfach ein bisschen hinaus. Das Inserat war einmal geschaltet, aber Kathrin kontrolliert doch nicht, ob ich es wirklich verlängere.“

Er strahlte über das ganze Gesicht, und alles in seinen Augen war Freundlichkeit und Liebe.

Am nächsten Tag war es in der Bank hektisch, deshalb freute ich mich nicht sofort, als ich Sylvia in der Schlange warten sah, sondern schaute mich erst vorsichtig nach den Kolleginnen um. Ich war die einzige gewesen, die nach dem Überfall krankgeschrieben worden war, sie fanden mich zimperlich und beobachteten mich; da musste man keinen neuen Stoff liefern.

„Hallo, Syl, was führt dich denn her?“ Ich begrüßte sie herzlich. Auch wenn ich annehmen musste, dass ihr Vater ihr gesagt hatte, sie sollte bei mir vorbeischauen, so war es doch ein Zeichen: Sie tat ausschließlich das, was sie wollte.

„Nichts Besonderes. Diese Bank ist ja grässlich.“

Sie war im Schwimmbad gewesen; ihre rot getönten Haare waren feucht, man sah den schwarzen Ansatz. Dass sie so laut sprach, machte mich verlegen, denn Cordula schaute her, ausgerechnet. Sie war es gewesen, von der er das Geld gekriegt hatte – und wie alle außer mir war sie am nächsten Tag wieder topfit am Schalter gestanden.

„Tja“, sagte ich, „wir werden sehen, wo du mal landest.“

Sie hätte sich umdrehen und rausrauschen können, aber sie lächelte ganz entspannt. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht Sex gehabt hatte im Schwimmbad.

„Was grinst du so, Kathrin? Ich wollte dir sagen, dass ich mit Tommy im Auto heimfahre und wir dich mitnehmen können.“

Ich hatte nicht die geringste Lust, aber es war wohl unausweichlich. Außerdem starrte Cordula jetzt ostentativ zu uns herüber; sie ließ sogar einen Kunden warten.

„Wann und wo?“

„Drüben, vorm Schuh-Görtz, um halb, ja?“

Sie ging, an der linken Schulter baumelte ihre bunte Umhängetasche. Hätte ich sie der Polizei beschreiben sollen, ich hätte auf die kleine Tätowierung hingewiesen, die man trotz des Tops am Rücken sehen konnte, ein schwarzes Kreuz, um das eine blühende Phantasiepflanze mit blutroten Blütenblättern wuchs. Es sah hübsch aus, sexy.

Die Zeit verging schnell, ein Gesicht nach dem andern, und zwischendurch trank ich kalten Tee. Wie immer wartete ich, bis Cordula das Gebäude verlassen hatte, erst dann ging ich. Als sie sich unbeobachtet glaubte, verstaute Cordula die halb volle Riesenschachtel klebriger Pralinen in ihrer Handtasche, die uns der Chef auf den Schreck hin geschenkt hatte. Ich hatte schon die Jahre bis zu Cordulas Pensionierung gezählt, so wenig konnte ich sie ertragen. Aber furchtlos, das war sie wirklich.

Draußen umfing mich die heiße Luft des Spätsommertags wie eine Parallelwelt. Ich stand nur durch eine Glasscheibe getrennt von einem Schaufenster voller Sandalen, Schläppchen, Turnschuhe.

„Hallo“ rief ich, als ich Sylvias rotes Oberteil von weitem erkannte.

Die beiden drehten sich praktisch gleichzeitig zu mir um, Tommys Lächeln war charmant, und maskenhaft, wenn ich nicht gewusst hätte, dass er neunzehn war, ich hätte ihn älter geschätzt. Ein ehemaliger Abiturient des Siemens-Gymnasiums, jobbte gerade, mehr wußte ich nicht.

„Also los“, kommandierte Sylvia. Im Gehen nahm sie eine kleine Cola-light-Flasche aus der Umhängetasche und öffnete sie mit einem Zischen. Am liebsten hätte ich sie gefragt, ob ich einen Schluck haben könnte, aber ich wollte mir vor Tommy keine Abfuhr holen. Die aggressive Hitze des Tages zog alle Flüssigkeit aus dem Körper wie ein gigantischer Lappen Kleenex. Mein Mund fühlte sich trocken an, und ohne die Kühlung durch die Klimaanlage der Bank war meine Bluse sofort unter den Achselhöhlen nass.

„Nun habe ich einen Eskorteservice nach Hause“ sagte ich mit gespielter Fröhlichkeit. Ich war etwas außer Atem, beide waren um einiges größer als ich und machten lange Schritte. An der Töngesgasse zielte Tommy mit dem Schlüsselbund auf einen nagelneu aussehenden Mercedes, ein Modell, von dem ich glaubte, ich hätte es neulich in der Fernsehwerbung gesehen. Ich hatte den beiden zehn Euro als Zugabe für’s Kino geben und mich damit an den Fahrtkosten beteiligen wollen, das kam mir jetzt albern vor. Tommy setzte sich, Sylvia war schon auf dem Weg Richtung Beifahrersitz, also befand sich mein Platz wohl hinten.

Das Auto sah innen völlig unpersönlich aus. Keine Zeitung, kein Stäubchen, nichts. Als ob es gerade aus der Fabrik käme, nicht einmal ein Päckchen Kaugummi lag zwischen den Vordersitzen. Tommy fuhr an, und kaum ein paar Straßen weiter war der Wagen schon eiskalt, irgendein Gebläse lief auf Hochtouren; ich fröstelte in meiner nassen Bluse und sehnte mich nach der heißen, stickigen Luft von vorhin zurück: „Könnt ihr es ein bisschen wärmer machen? Nur ein bisschen.“

Obwohl Sylvia okay sagte und anscheinend etwas verstellte, bemerkte ich keinen Unterschied. Dafür fuhr Tommy jetzt anders. Schon in der Stadt hatte er, wo es ging, beschleunigt, nur um dann vor roten Ampeln doch wieder bremsen zu müssen, aber auf der Landstraße entdeckte er das Gaspedal noch einmal ganz neu. Im Fenster verschwammen die Straßenpfeiler zu einer einzigen Mauer, nicht einmal die Schutzmantel-Madonna konnte ich sehen, die an der Abzweigung nach Vilbel in ihrem Schaukasten stand. Oder lag es an mir, und ich verpasste sie einfach, weil mir die Augen tränten? Ich fasste mit der Hand an das Gurtschloss, umklammerte das kühle Plastik, und ein Gefühl der Beklemmung, wie ich es seit Wochen nicht mehr gehabt hatte, ließ mich flach atmen.

„Tommy, könnten Sie etwas langsamer fahren?“

„Natürlich, das kann ich gerne tun.“

Er hatte eine melodiöse, schöne Stimme. Geschmeidig war das Wort, das mir einfiel. Und obwohl seine Antwort ironisch geklungen hatte, gehorchte er sofort, kroch geradezu über die Straße, ich wollte schon sagen, nun übertreiben Sie nicht gleich, aber das war nicht nötig, denn schon nach kurzer Zeit kletterte die Tachonadel wieder, und es kam mir so vor, als überholte er jeden einzelnen Wagen, der in die gleiche Richtung fuhr. Natürlich konnte das nicht sein, Sylvia war eine kluge Person, sie hätte sich beschwert. Ich machte mir bewusst, wie durcheinander ich war. Weil niemand sprach, zog sich die Fahrzeit in die Länge. Sylvia klappte den Spiegel herunter und schminkte sich die Lippen; mir schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ich schloss die Augen, mir war schlecht, aber da war keine Dunkelheit, die mich schützte, nur diese gleißenden Punkte, die sich zu weißen Flächen zusammenschoben und vor meinen Lidern flackerten. Ich sah Rot, silbergrau in der Landschaft verschwinden, ich sah die alte Frau mit ihrem Hund, die gestern im Bus neben mir gesessen hatte, ich sagte mir, ich fühle mich sicher, die Farben waren schön.

„Der Mini soll also verkauft werden?“ hörte ich dann plötzlich Tommys Stimme, und da, in diesem Moment dachte ich, „ach so, daher weht der Wind“, und es war tatsächlich eine Erleichterung. Es ist immer einfacher zu wissen, warum etwas passiert, egal was es ist, es nimmt eine Last von dir. Ich hatte das auch der Polizistin gesagt, die mir am einfühlsamsten vorgekommen war.

„Ich bin mir gar nicht mehr so sicher“, sagte ich.

Ich bedankte mich leise bei Tommy, als ich ihn zum Abschied im Auto umarmte, und sah dabei aus den Augenwinkeln, wie Kathrin die Treppen zur Haustür hoch stürmte.

„Bonnie und Clyde“ flüsterte er grinsend zurück, aber das ärgerte mich, und ich schüttelte den Kopf.

Ohne mir vorschriftsmäßig die Schuhe auszuziehen ging ich die paar Schritte durch den Flur, ich wollte Papa gleich die Neuigkeit erzählen, aber dann blieb ich abrupt stehen, als ich das heisere Lachen einer Frau hörte, echt erotisch und echt unpassend, und dann Papas Stimme.

„Wer ist das denn?“ fragte ich Kathrin.

Sie zuckte mit den Schultern, hängte scheinbar seelenruhig ihren Mantel auf, aber dann öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer doch ziemlich plötzlich, und da saß Papa mit einer großen Frau im Hosenanzug. Erst auf den zweiten Blick sah man, wie gut sie aussah, ein herber Typ, machte auf Katherine Hepburn. Julian war vor einem leise gestellten japanischen Zeichentrickfilm geparkt worden, den er mit offenem Mund ansah.

„Hallo“, sagte Papa und stand auf. „Ihr seid schon da! Schön! Darf ich euch Sascha vorstellen, eine ehemalige Studienkameradin. Sie hat das Inserat gelesen, ist das nicht unglaublich?“

Kathrin schien das nicht zu finden, ich schon, und meine Augen schossen Blitze.

Sascha gab mir die Hand. Ich hatte vorher nicht gewusst, dass es auch ein Name für eine Frau war. Papa macht mir beschwichtigende Zeichen, aber ich ging nicht darauf ein.

„Zufällig, rein zufällig, hatte ich im Büro noch die alte Zeitung und sah beim Telefonieren auf den Anzeigenteil“, sagte Sascha. „Ich rief gleich an, aber ich dachte gar nicht, dass es noch nicht verkauft ist.“

„Das passt ja bestens“, Kathrin verdrehte die Augen. „Eben habe ich den Wagen Sylvia versprochen.“

Ich staunte, ja, ich konnte nicht anders, ich fand sie toll. Warum tat sie das? Vielleicht trat in solchen Momenten ein Reflex ein, der einem instinktiv sagt, was das weniger schlimme Übel ist. Ihre Stimme war ein bisschen dünn, aber ihre Selbstbeherrschung gefiel mir. So wie sie durch den Raum ging, den Vorhang am geöffneten Fenster zurück zwirbelte, Julian über das Haar strich, eine Zeitschrift gerade rückte, machte sie die normalsten Dinge der Welt, und doch schaffte sie es, dass ihr alle zusahen. Kurz sah sie mich an, ihre Augen funkelten blank, wie die Augen einer Katze. Ich konnte nicht sagen, ob sie mir ein Zeichen machte, wenn ja, verstand ich es nicht. Julian quiekte, er hatte die Hände zu Fäusten verkrampft und sah mit kerzengerade durchgedrückten Rücken zu, wie ein kleines Mädchen durch ein ausgestorbenes Dorf ging. Es war einer meiner Filme, Zeichentrick, aber ziemlich unheimlich und erst ab zwölf, er würde ihm Alpträume machen. Das hatte Papa wohl beim Auftritt seiner lieben Freundin übersehen.

Sascha sagte: „Da habe ich wohl Pech gehabt. Nun – wie sagen die alten Chinesen? War aber trotzdem nett, dich mal wieder getroffen zu haben, Ralph.“

Sie hakte die Finger lässig in die Gürtelschlaufe ihrer Hose.

„Bleiben Sie doch noch auf ein Glas“ sagte Kathrin. „Ich ziehe mich kurz um, bin gleich wieder da.“

Es war merkwürdig. Obwohl ich hätte schwören können, dass keiner der drei sich wohl fühlte, blieben sie doch beisammen als wären sie gemeinsam in einen Fahrstuhl eingesperrt worden und müssten das beste draus machen.

Papa ging Gläser holen, und ich schloss ein Fenster, nur um es gleich wieder zu öffnen. Man hörte die Vögel aus der Voliere des Nachbarn gegenüber.

„Ich geh mal in mein Zimmer“, sagte ich. Sascha hätte jetzt nur noch mich zum Reden, ich wollte das nicht. Sie sollte allein dasitzen, mit ihren alten Chinesen.

Mein Zimmer sah immer klein aus, wenn man aus dem Wohnzimmer kam. Es war manchmal fast, als würden das Haus und die Welt darum herum wachsen, aber genau das machte es zu meiner Höhle. Ich riss ein paar Poster von den Wänden, die sowieso weg sollten, dann rief ich Sabine an, erzählte ihr alles Mögliche über mich und Tommy, inklusive ein paar privater Details. Es tat gut, immer wieder seinen Namen auszusprechen, und sie fragte mich, ob wir morgen Abend auch ins Dorian Gray kämen. Ich sagte, eher nicht; wir würden aber nachmittags was machen. Am Anfang hatte es mich gestört, dass wir so selten abends ausgingen; er behauptete, er hätte zu viel zu tun, und am nächsten Tag hörte ich dann, in wie vielen Clubs man ihn gesehen hatte. Inzwischen glaubte ich ihm, dass er arbeitete – leider. Vertrauensbeweis hin oder her, manche Dinge will man einfach nicht wissen. Ich bekam schlechte Laune. „Du, ich muss langsam“, sagte Sabine, aber ich redete einfach weiter, begann, über Kathrin herzuziehen, was mir aber bald falsch vorkam.

Nach dem Gespräch saß ich da. Diese Sascha, ob die noch unten war? Kathrin spazierte durch meinen Kopf, Szenen aus den vergangenen Wochen, ihre zerdrückten Haare, der Bademantel, all die kleinen Sachen, die in ihrem Gesicht schief gelaufen waren, Tränenbäche quer durch den Kajal, Lippenstift an den Zähnen. Sie machte Flecken, sobald sie nur etwas anfasste; ich dachte an das Schubbern ihrer Hosenbeine, so ein Wetzgeräusch, das von ihrem speziellen Gang herrührte und das noch unangenehmer war als wenn sie sich einem lautlos in einem stillen Zimmer näherte.

Ich sah auf meine Wände. Wo die Poster gehangen hatten, war die Tapete heller; die Einstichlöcher der Reißzwecken waren nicht besonders schön. Mit einer Zigarette ging ich zum Fenster, die Aussicht von dieser Seite des Hauses war ziemlich unattraktiv. Eine Reihe frisch gebauter, erst kürzlich bezogener Häuser, die alle gleich aussahen, mit den früh runtergelassenen Rolläden wirkten sie wie vernagelt, völlig bedeutungslos. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass dort Kinder und Tiere wohnten.

Ich drehte mich um, als ich ein Geräusch an der Tür hörte. Es war kein Klopfen, nur kurz Papas Stimme: „Hier ist was für dich“, und ich sah, wie ein Kuvert unter der Tür durchgeschoben wurde und im ersten Drittel stecken blieb. Nach einer Sicherheitspause öffnete ich die Tür, und hatte den Zettel in der Hand: „Dies wartet bis nächsten Freitag auf dich. Ich hatte Sascha einfach nur mal sehen wollen! Nie hätte ich verkauft!“ Ich dachte, dass Müdigkeit ihn manchmal ganz schlicht werden ließ, stellte ihn mir frühmorgens vor dem großen Auditorium vor, wenn er wach war, und sah dabei den schiefen, gemalten Autoschlüssel an. Ich spürte so stark wie nie, dass ich erwachsen geworden war. Er war so ein Idiot, aber es war doch ein Zeichen, und ich barfuss ein paar Stufen die Treppe hinunter, dachte, ich könnte mich bedanken, bei beiden, aber da ging die Tür auf, der Flur wurde hell, und ich drückte mich an die Wand. Sascha war noch gar nicht weg, sie wurde erst verabschiedet. Man hörte das Lachen dreier Leute, die schon etwas intus hatten, ziemlich widerlich.

Ich nahm den Bildband über Grönland, den ich mir letztes Weihnachten selber geschenkt hatte, aus dem Regal und blätterte darin herum. Fotos, die zeigten, was Freiheit wirklich bedeutete, nämlich Weite und die Farbe Weiß und die Fähigkeit der Menschen, sich der Landschaft und ihren Regeln unterzuordnen. Es war nur scheinbar eintönig, in Wirklichkeit war es die Wildnis. Dorthin würde ich einmal reisen, so viel war sicher. Eis, Wasser, und die sonnigen, eiskalten Nachmittage, totenstill. Ein Wolf war auf einer Doppelseite zu sehen, wie er über den Schnee fegte, um anzugreifen. Kein Lebewesen lief hier vor etwas davon.

Einzelne Bilder waren schwarzweiß, zeigten Eskimogesichter, rund und kindlich, mit schwarzen Äuglein wie die Julians. Dann wieder sah man Robben und die roten Streifen ihres Bluts auf dem Eis, Opfer und Jäger. Ein Stück der Fellkapuze eines Jägers schimmerte goldfarben, und man hatte den Eindruck, dass dort in Grönland, schon früh am Tag, die Schatten um einzigartiges Licht herum lauerten, nur ein Stück weit entfernt vom Radius des Fotografierten. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, schloss die Augen. Hörte, wie meine Schritte auf Eis knirschten.

Ich hatte schon meine Laufsachen an, da sah ich Sylvia im Wohnzimmer. Ihrer sparsamen Kleidung nach zu urteilen wartete sie auf Tommy.

„Gehst du laufen?“ fragte sie überflüssigerweise. So richtig hatten wir noch nicht raus, worüber wir reden sollten, obwohl wir es manchmal versuchten.

Ich brummte zustimmend. Sie gab sich weiter Mühe, Interesse zu zeigen, und mir fiel auf, wie albern meine Fragen die ganze Zeit über auf sie gewirkt haben mussten: „Zum Sportplatz?“

„Nein, ich wollte am Vogelpark vorbei in den Wald. Weißt du da links, neben dem Gehege mit den Buntspechten, oder sind es die Kolibri, jedenfalls da rechts ist ein kleiner Weg... “

Sie nickte erleichtert, vermutlich, weil ich mich nicht mehr bemühte, den Satz zu Ende zu führen. Dann klingelte es, und sie rannte zur Tür.

„Wir nehmen deinen, okay?“ hörte ich Tommies Stimme, und ich war erstaunt, dass Sylvia sich zierte, erst „ach, nein“ sagte. Seit sie ihren Führerschein hatte, fuhr sie jede Strecke, die länger als drei Meter war, mit dem Wagen, hatte sogar Julian einmal zur Tagesmutter gebracht. Ralph sagte, diese übertriebene Fahrlust würde sich wieder legen, doch dass es so schnell geschah, wunderte mich doch. Tommy redete kurz auf sie ein, und dann waren sie weg; weil ich keinen Anlasser hörte, merkte ich, sie hatten doch den kleinen Grünen genommen, Syl benutzte meist einen Parkplatz ein Stück weit weg vom Haus, ich fand das rücksichtsvoll.

In mittlerem Tempo joggte ich die Straße entlang, meine Wangen glühten, die Luft war trübe vor Feuchtigkeit, in den Fenstern gingen die Lichter an. Ich lief erst seit ein paar Tagen wieder, war nicht mehr fit, dennoch fühlte ich mich mit jedem Atemzug besser, als wäre ich von einem Irrweg abgekommen und nähme endlich wieder in meinem Körper Platz. Als ich die fette getigerte Katze sah, die mich noch vor Tagen auf dem Auto sitzend erschreckt hatte und von der niemand wusste, wem sie eigentlich gehörte, rannte ich so schnell auf sie zu, dass sie erschreckt weg sprang.

In der Finkstraße winkte mir Tiantian, Horsts Frau, zu, von der alle dachten, sie käme aus Thailand, aber sie stammte aus China und alles war überhaupt nicht so, wie man dachte. Vermutlich hoffte sie, ich bliebe auf einen Schwatz stehen, aber ich machte nur eine rudernde Bewegung mit den Armen, die auf ironische, nicht allzu unfreundliche Weise zeigen sollte, dass ich heftig am Trainieren war.

„Schon die neue Wachgarde im Villenviertel gesehen?“ rief sie.

Ich schüttelte den Kopf, trabte im Stehen vor ihr herum. Sie meinte ein Haus im Süden der Siedlung, wo sich das Neubaugebiet zur Landstraße hin erweiterte und teilweise ziemlich protzige, freistehende Behausungen hochgezogen worden waren. Anscheinend hatte eine junge Familie sich zwei steinerne Löwen links und rechts der Auffahrt hingestellt, Tiantian gefiel das, und sie wollte gerne wissen, wo man sie bekommen könnte. Ich wußte das auch nicht, schnaufte aber, ich würde mir das gleich mal ansehen und zog weiter. Sie hatte Recht, es war auffällig, weißer Marmor, die Tatzen der Tiere im Vergleich zum Rest des Körpers so groß und die Mähnen der Tiere so üppig, dass sie wie Fabeltiere wirkten.

Ein feiner Nieselregen setzte ein, tropisch, gleichzeitig warm und kalt. Ich merkte, dass ich mich mit der Dunkelheit verschätzt hatte, ich würde doch zum Sportplatz laufen müssen, im Wald knickte man im Halbdämmer leicht um, sah das Geäst am Boden nicht. Mein Kopf wurde leer, meine Atmung gleichmäßiger, ohne das Tempo zu verändern, lief ich auf das abgezäunte Feld, spürte, wie der Rasen das Laufen anstrengender, aber auch angenehmer machte. Ich machte nach einer Runde Pause, senkte den Oberkörper, berührte mit den Händen meine Turnschuhe, federte nach oben. Nach unten. Oben. Unten. Loslassen, ohne zu fallen.

Ein Hund trabte heran, ich kannte ihn, er gehörte dem Gaststättenbesitzer des TSC Schwarz-Weiß. Er war alt, die Schnauze ganz hell, aber sein übriges Fell schimmerte fast golden im Licht, das von den Straßenlaternen auf den Rand des Felds fiel. Ich wollte nicht, dass er mir jede einzelne Runde hinterher hechelte, also lief ich mit ihm in Richtung des Gasthofs. Dort würde er schon bleiben. Schweiß bildete sich auf meiner Oberlippe, der Hund japste fröhlich.

Als ich auf den Parkplatz zwischen den beiden Clubhäusern einbiegen wollte, sah ich das grüne Funkeln. Tommy stand neben dem Mini, neben ihm zwei dunkelhaarige Jungs in T-Shirts und Jeans, die die Köpfe zusammen steckten. Sylvia saß auf dem Beifahrersitz, hatte den Kopf von den dreien weg gedreht. Zwei Fahrräder waren an die Wand gelehnt, ansonsten war niemand da, auch kein Licht in den Vereinshäusern.

Ich zögerte, bevor ich mich an die Hauswand presste, den Hund nahm ich am Halsband und hielt ihn zurück. Nur kurz leuchtete etwas Weißes zwischen den Fingern der Verhandelnden auf, nicht groß, höchstens wie ein Briefumschlag oder eine Papiertüte für Postkarten, dann wurde es von der Dunkelheit verschluckt. Sylvia bewegte sich nicht, bis Tommy wieder eingestiegen war, nicht einmal dann sah sie zu ihm hin.

Mir schoss durch den Kopf, dass meine Tavor weg gewesen waren, die Tabletten, die ich nicht hatte nehmen wollen und von denen ich meinte, ich hätte sie verlegt, ich war ja dauernd so durcheinander. Jetzt war ich es wieder, oder vielleicht auch gar nicht mehr. Sylvia stieg aus dem Auto, rief etwas, und die drei erstarrten, bevor sie hektisch noch einige Worte wechselten und die beiden Jungs, die ich nicht kannte, zu ihren Rädern eilten. Ich war mir nicht sicher, ob Sylvia etwas Unpassendes getan hatte, oder ob das zu einem kalkulierten Plan gehörte, bei dem sie Tommies Partnerin war; die Fronten zwischen den vieren waren mir nicht mehr klar, ich stand gebannt da, hatte das Gefühl, das Leben in meiner eigenen Geschichte erstarrte und zwischen den mir bekannten Figuren träten plötzlich Doppelgänger auf, um ein Stück zu spielen, das ich nicht kannte, aber längst hätte kennen müssen. Die beiden Jungs schossen auf ihren Rennrädern in die Nacht, ich konnte den Hund nicht mehr halten, er rannte, oder vielmehr zockelte, hinter ihnen her in die Dunkelheit. Tommy wandte sich einer langsamen, verzögerten und stellenweise unterbrochenen Bewegung meiner Stieftochter zu, es war als schraubte er sich mit Kraft in den Boden. Er umarmte sie, ich dachte an ihren kurzen Rock. Sylvia lachte, es war kein normales Lachen, sondern grell und nicht in ihrer üblichen Stimmlage. Niemals hätte ich hinterher zugegeben, dass ich immer noch an Sex dachte in dem Moment. Sie stand jetzt dicht an der Wand, verschwand hinter Tommies breitem Rücken; es war sehr still, nur der Hund kläffte von weitem, einmal, zweimal, dann war er still. Kurz darauf ließ Tommy von ihr ab, rannte zu seinem Wagen und fuhr an. Sylvia rutschte langsam die Wand herunter, sie hielt die Hände vor das Gesicht. Sie schrie, es war als schrie sie mit Verzögerung, ich rannte hin, sie blutete an den Lippen, ein dünner Faden lief in ihren Ausschnitt. Viel später brachte ich den Moment mit anderen roten Dingen in Zusammenhang, ich bildete mir ein, ich hätte daran gedacht, wie viele Sachen von ihr ich angeblich verwaschen hatte, Stücke, die ersetzt werden mussten, ein bestimmtes rotes Kleid vor allem, und an das Rot der tätowierten Rose; ich dachte: Wenn sie nicht, zuerst, gelacht hätte, ich wäre ihr sofort zur Hilfe gekommen. Verdammt. Sylvia sagte, es war alles richtig, Kathrin, Tommy durfte dich auf keinen Fall sehen, sonst wären wir alle in Gefahr gewesen. Es ist gut, dass er dich nicht gesehen hat, jetzt lässt er mich einfach in Ruhe; er hat etwas gegen mich in der Hand. Sag Papa nichts, bat sie mich, ich versprach es ihr. Ich fragte nicht nach, habe ich nie gemacht. Ich verriet ihr nicht dass ich an diesem Abend wirklich geheilt war von der Bankgeschichte. Es war, als hätte sie stellvertretend für mich gebüßt, das war nicht fair, aber es fühlte sich an wie eine Lösung. Ich meine: die Lösung in einer Geschichte, die nicht fortgesetzt werden muss.