Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Nikolai Vogel
Nikolai Vogel
Plug In
Roman (Auszug)
Nikolai Vogel
„Ein kleiner Eingriff“, hatte er gesagt, „wir bekommen Sie schon wieder hin“ und schaute immer an ihm vorbei, wie im Tagtraum. Nach dem Arztbesuch den Spätnachmittag noch in die Arbeit. An seinem Schreibtisch starrte er nur in den Bildschirm, die Zeit aufgehängt, abgehängt, bis die hinter Wolken verborgene Sonne hinter Dächer glitt. Die am Morgen gehörte Melodie bewegte sich noch immer irgendwo im Kopf. Die Wohnung öffnete sich im Dunkeln vor ihm. In die Küche. Tee. Schuhe abstreifen, die Jacke an den Bügel. Mit der warmwandigen Tasse fällt er in den Sessel, schließt die Augen, lässt sich vom Dampf das Gesicht bestreichen, verharrt, den Kopf zurückgelehnt – wie ein Stich, etwas Kaltes auf der Stirn. Noch mal. Nass. Niklas öffnet die Augen, sieht nichts. Die Decke wie verschattet. Ein dunkler Fleck, groß, unregelmäßig. Das Bild schärft sich. Überall hängen Tropfen, seilen sich ab, nun hört er die feinen Einschläge, das Rieseln des Wassers. Als habe der dampfende Tee das ganze Zimmer beschlagen, ein Mikroklima, denkt er, Wolkenbildung, Abkühlung in höherer Lage, Abregnen.
 Raus, die Treppen hoch. Es dauert lange, bis er hinter der Türe ein Geräusch wahrnimmt, etwas Raschelndes, das sich nähert und wieder verstummt. Er spürt den Blick aus dem Spion. Stille. „Ich bin der Mieter, der Mieter unter Ihnen.“ Warten. „Bei mir steht Wasser an der Decke.“ Nichts. „Da ist etwas undicht, das muss man sofort abstellen.“ Unwirklich langsam hört er die Drehung des Schlüssels. Die Türe öffnet sich einen schmalen Spalt, kleine Augen lugen hervor, aus faltigen Tälern, öffnet sich ein wenig weiter, zitternd, Niklas steht da, was soll ich ihr sagen, hat sie Angst, „Was?“, fragt sie. „Das Wasser. Da ist Wasser in meiner Wohnung. Von der Decke. Von Ihnen wohl.“ Er sieht, dass der Gang hinter ihr dunkel ist, von hinten nur ein Schimmer, flackerndes Echo einer Kerze. Ihr die Türe aus der Hand reißen und hineinlaufen, denkt er. Das Wasser abstellen, die Waschmaschine, die Spülmaschine, den Haupthahn finden, das dauert alles so lange, denkt er, Stalaktitenbildung, Rückkehr in die Höhle, tags jagen, nachts mit Steinen die Wände einritzen, Flächen und Linien, die Welt hereinzuholen. „Ihre Waschmaschine? – Haben Sie gewaschen? – Oder ein Rohr ist gebrochen.“ Sie verharrt regungslos. „Wasser?“, flüstert sie, scheint sich einen Moment zu besinnen, „– dann sehen wir mal nach“. Sie dreht sich um, geht voran im dunklen Flur. „Gibt es hier kein Licht?“ „Geht nicht. Hat aufgehört. Lange“, wieder im Flüsterton. Sie gehen ins Wohnzimmer. Ein dicker Teppich. Mit dem ersten Schritt merkt er, dass er bis obenhin vollgesogen ist. Hier steht die Kerze. Er hält sie hoch. Nur der nasse Teppich, zurück in den Gang, sieht nasse Fußspuren auf dem Parket. In der Küche ist alles trocken. Wieso im Wohnzimmer, fragt er sich. Aber der Gang ist bis auf die Fußspuren unauffällig, erst der Wohnzimmerteppich ein Schwamm. Die Kerze beleuchtet den Raum dürftig. Er sieht hoch zur Decke, vielleicht kommt es ja von weiter oben, denkt er, aber da ist nichts, nur Flecken von tanzenden Schatten. Die Frau steht unbeteiligt mitten im Zimmer wie wartend. Ob sie begriffen hat, überlegt er und sieht sie an. „Vielleicht die Blumen“, sagt sie. „Die Blumen?“ Er versteht nicht, hält die Flamme in Richtung der Fenster. „Mein Adam hat das gebaut. Muss nur aufdrehen zum Gießen.“ Aus einem Stock sickert es, rinnt über den Untersetzer, zieht erdfarbene Lachen auf das Fensterbrett, fließt hinter dem Heizkörper herab, steht staubschlierig in den Fugen, verläuft sich unter den Teppich. „Sie müssen Ihre Versicherung benachrichtigen.“ Das Pflanzenreich. „Versicherung“, sie flüstert es. „Hausrat“, murmelt er, „das wird teuer“, leuchtet den Schlauch ab, der durch die kleine Blumenstocklandschaft hindurchführt. „Versicherung hab ich nicht“, murmelt sie. Das sich vortastende Flammenlicht wird fündig. Das Ende des Schlauches verklebt oder verschmolzen, wie ein amputiertes Glied. „Geld hab ich nicht.“ Über dem Erdreich der Stöcke, stricknadeldick jeweils ein kleines Loch. Aderlass. Aus den Löchern in das Erdreich, durch das Erdreich hindurch, Flutung der Untersetzer, Landeroberung. „Geld hab ich nicht.“ Er blickt zu ihr, ungläubig, ungeduldig. „Geld hab ich nicht“, murmelt sie weiter und jetzt sieht er, dass sie weint, Tränenfäden über ihre tief gefalteten Wangen, ihre Hände ineinander verschränkt wie im Beten. Unsicher sieht er sie an, atmet aus, die Kerze verlischt. Ein kleiner, heller Schrei entkommt ihr. Er tastet sich zur Wand. Von dort weiter in Richtung wo er den Gang glaubt, eine Hand an der Wand, die andere vor das Gesicht gestreckt. Etwas Weiches. Wieder ein kleiner Schrei. Ich habe der Frau ins Gesicht gelangt, erschrickt er. Grubenunglück.
 Die Türe auf, die Treppenhausbeleuchtung an. Eine Taschenlampe, denkt er. – Zurück huscht er durch die Wohnung wie ein Einbrecher. Er leuchtet in die Zimmerecken, wo ist die Frau? Das Wasser läuft noch immer, dem Teppich entweichen unter seinen Schritten schmatzende Geräusche. Sindbad, der Seefahrer. In der Küche findet er sie. Sie sitzt im Eck am Boden und zittert. „Ich habe Licht“, sagt er, „kommen Sie, es ist nichts passiert“. Sie rührt sich nicht vom Fleck und er geht zurück nach nebenan ans Fensterbrett. Der Schlauch führt ihn die Wand entlang bis ins Bad. Dort, wo eine Waschmaschine Platz hätte, ist er an einem Hahn befestigt. Zudrehen, denkt er und dreht bis zum Anschlag, falsch, dreht zurück, zu ist Uhrzeigersinn, feste zu. Den Schlauch vom Wasserhahn schrauben, die Hand rutscht ab, Kratzer, mit dem Ärmel geht es, Gartenschlauch, den nehme ich ihr weg, denkt er, nicht noch einmal, gehört in die Wiese, nicht in die Wohnung. Draußen und drinnen, im Zelt im Garten übernachten als Kind.
 „Sie müssen jemanden kommen lassen“, beschwört er die Frau in der Küche, „das muss professionell trockengelegt werden.“ „Gibt niemand“, sagt sie, „ja, wäre mein Adam noch hier – können Sie nicht?“
 Der Boden voller Handtücher. Der Teppich aufgerollt, aus dem Fenster gehievt, unten im Hof. Mein Rücken. Schwer, verdammt. Schweres Wasser. Die Wäsche wäscht sie mit der Hand, aber für ihre Blumenstöcke braucht sie ein Bewässerungssystem. Jungbrunnen, denkt er. Was für ein Besuch. Hebung der Bodenschätze, Landgewinn, Ureinwohner, die Quellen des Nils. Ich bin zurück, nicht verschollen. Die eigenen vier Wände. Im Fluss. Die Tropfen perlen noch immer von der Decke. „Ich gehe nicht aus der Wohnung“, hat sie gesagt, „ich wohne hier.“ Die Tränen vergessen und wie eine Verschwörerin, „gell, das trocknet wieder, auch wenn wir es niemandem sagen.“ Und haust bei Kerzenbeleuchtung, bei Gelegenheit drehe ich ihr mal neue Birnen in die Fassungen. Nicht, dass erst das Wasser, dann das Feuer ... Mein Rücken. Der Teppich im Hof. Besser, ich trage ihn ihr morgen in den Keller, sonst kommt gleich wieder der Hausmeister. Geht ja keinen was an. Hoffentlich trocknet er ein bisschen, sonst ist er so schwer, aber das feuchte Wetter. Sitzt da oben bei Kerzenlicht und merkt nicht, dass alles zu schwimmen anfängt. Alles begossen. Darauf einen Schnaps! Und dann wie ins Wasserbett, in die Arche. Ein kleiner Eingriff, hat der Arzt gesagt, und es gäbe da einige Formulare zu unterschreiben. Hinein damit und durchs Blut gepulst, die kleinen Helfer, die andocken und alles richten. Darauf einen Schnaps, der funktioniert ähnlich. Überschwemmen ins Bewässerungssystem Blut, ins Bewässerungssystem Urin. Ich gehe, ich stehe, ich setze mich hin. Noah, der Seegang!
  Eine Nacht. Ein Morgen. Ein verschwommener Tag. Der Morgenkater zwar im Nachmittag verflogen, aber müde im Kopf, in den Gliedern. Endlich heimkommen. Heute nichts mehr, nur sitzen und lesen. Wasserreste vom Boden wischen, Geruch von Holz. Der Plattenspieler dreht sich noch, ein Glück, eine Platte hinauf und hinaus die Töne in die Luft. Das Bücherregal schwer angeschlagen, vornächtlicher Wasserfall. Sein Blick streift über die Buchrücken, bleibt hängen am Wasserbuch von da Vinci, ein Angelpunkt, aufgeweicht aus dem Regal. Die flüssige Gestalt der Bewegung. Die klebenden Seiten. Nach kurzem fühlt er sich auch nass. Schrumpelige Finger. Frühabends, nach dem Gebadetwerden als Kind. Das Frotteetuch auf der warmen Haut. Die auf die Mutter gehefteten Augen. Zimmerpflanzen. Nasse Erde. Das mehrmalige Befüllen der Gießkanne. Fällt ein Tropfen Wasser auf das Meer, wenn es ruhig ist, dann muss notwendigerweise die ganze Meeresfläche unmerklich steigen. Überall an den Wänden sind Flecken, die dunkelsten auf der Zimmerdecke. Mein Biotop, mein utopes Biotop, denkt er, schön, utop. Seine Augen wollen sich schließen und er erlaubt es, sitzt im herabgesunkenen Körper auf dem Sessel in der Mitte des Raumes, meint die Bücher um sich herum fast triefen zu hören. Bücher sind Schwämme, denkt er, und sie geben ihre Flüssigkeit ab an unsere Hirne. Mein Regal ist ein Urwald.
  Eine Nacht. Morgens trifft er im Treppenhaus die alte Frau. Sie sieht ihn vorsichtig an, ängstlich, zurückgeduckt. „Guten Morgen“, sagt er und sie streckt ihren Kopf kurz vor und zurück, wie ein Huhn, denkt er. Ein verrunzeltes Leben. „Ist alles in Ordnung“, sagt er, schon die Treppen hinabsteigend, „alles halb so schlimm“. Sie steht da, weiß nicht, was sie sagen soll, sieht er, als er sich kurz umdreht. „Trocknet schon wieder“, ruft er noch nach oben, öffnet unten die Türe, steht im Innenhof und dann auf der Straße, die Autos rollen vorbei wie im Zwang, Abgase atmen, denkt er, graue Lunge, die ganze Stadt eine Rodung, oben mein Utop.
 Die Stunden herunter, den Tag hinab. Was gibt es Neues. Nichts. Den Bildschirm füllen. #!/usr/bin/perl -w  Immer wieder den Kunden am Telefon. Hoffentlich ruft er heute nicht schon wieder an. $level = 0; Sie bräuchten die Lösung schnell. Immer schnell. Immer alles sofort. Heute oder morgen. Keiner, der mal sagt, lassen Sie sich Zeit, das ist alles nicht so wichtig, ich warte gerne. Haben sie sich durchgerungen, einen Auftrag zu erteilen, Geld zu bezahlen, dann muss es schnell gehen. sub crawl($) { my $dir = shift; $dir = $dir.lookup_slash($dir); my $file; $level++; Instant Karma. Keine Lust mehr heute, die ganze Woche schon keine Lust, schon lange keine Lust mehr. chdir($dir) or (warn "Cannot chdir to '$dir': $!"); Das Telefon, natürlich. „Ja, das wird diese Woche noch fertig.“ ... „Nein, heute nicht mehr.“ ... „Nein, das ist wirklich nicht möglich.“ ... „Ja.“ ... „Ja, wir melden uns dann sofort.“ opendir(DIR, $dir) or (warn "Cannot open '$dir': $!"); Eine Mail von Lorenz. „Übermorgen Vernissage in Galerie Stumpf. Mit u. a. Bildern von mir. Kommen! Klein & fein. Der Galerist zahlt das Bier!“ my @contents = readdir(DIR); closedir(DIR);
 Einen Kaffee. „Hallo Lea, wie geht es?“ Keine Milch, keinen Zucker. Die Tassen am Mund. Ihre dunklen Augen, die mich ansehen. Ansehen, als wollten sie ein Geheimnis ausmachen. Was erzähle ich Lea das alles? Sie ist nie meiner Meinung. Natürlich sagt sie, dass ich verrückt bin, dass mir mein Vermieter aufs Dach steigt, wenn er das mitbekommt. Mein Vermieter kümmert sich nicht um die Wohnung, nur die Miete ist wichtig. Die Alte gehört ins Altersheim, die ist nicht mehr lebensfähig allein, sagt sie. Nur, weil sie vergessen hat, das Blumenwasser abzustellen. „Klar muss die das bezahlen. Was kannst du denn dafür, wenn die keine Versicherung hat?“ Das würde sie umbringen, wenn sie aus der Wohnung müsste, ich tue ihr das nicht an. Das ist etwas, was du nicht mehr los wirst, sage ich und sie sagt, ich übertreibe mal wieder. Immer geht es bei mir gleich um Leben und Tod, sagt sie. Stelle dir vor, du lebst in einer Welt, in der sich alles so schnell ändert, dass du nichts mehr wiedererkennst, jeden Morgen, an dem du aufstehst, sage ich.
 „Ja und? Was soll das jetzt wieder heißen?“
 „Nichts, stelle es dir nur mal vor“, und schaue in ihre Augen, aber sie versucht es nicht einmal. Reden wir über etwas anderes, reden wir über die Arbeit. Was macht mein Programm, will sie wissen. Ja, was macht mein Programm? „Es macht mich wahnsinnig und es will nicht funktionieren. Es sollte, es müsste funktionieren, aber es funktioniert nicht, dieser ganze Firlefanz, was machen wir hier eigentlich?“
 „Jetzt bekomm nicht schon wieder deinen Depri. Das bekommst du schon hin. Ich muss dann wieder, der Flyer muss heute noch raus.“
 Wir müssen wieder, alle müssen wir. Morgens aufstehen. Tags arbeiten. Abends ins Bett gehen. Wir sind Wiederholer. Ans Telefon gehe ich heute jedenfalls nicht mehr, wie soll man sich überhaupt konzentrieren? my @dirs = grep {-d} @contents; my @files = grep {-f} @contents; Und andauernd Mails. Mails von Kunden, Mails von der Geschäftsleitung, Mails von Newslettern, Mails für Pillen, Potenz, Partner. Jäger und Sammler. Mammon und Macht statt Bären und Beeren. Wunschmaschinen, immer noch. unlink @files; Du bist verrückt. Vielleicht nicht verrückt. Vielleicht eher ein begossener Pudel. foreach my $del (sort(@dirs)) { my $this_dir = $dir."/".$del; crawl($this_dir); } Und die Sonne geht mal wieder unter, weil ihr sonst nichts einfällt. rmdir("dir"); $level--; Gehen wir heim und lassen wir das Tagessoll hinter uns system("clear"); }
 Der Supermarkt kurz vor der Schließung. Nichts wird jetzt mehr nachgefüllt. Die Kühlregale fast leer, hie und da noch eine Packung Sahne, ein Becher Joghurt, wie Gespenster. Er kauft eine Flasche billigen Valpolicella, eine einsam daliegende Butter, ein Päckchen Reis, einen Strauß Tulpen. Mehr findet er nicht. Die Welt leert sich, denkt er. Die Tulpen wirken armselig, wie zu kurz gekommen. Den Blumenstrauß legt er der alten Frau vor die Türe.
 Die Wohnung ist kalt, ein Fenster vergessen. Er behält die Jacke an, öffnet den Valpolicella, schüttet sich ein Wasserglas damit voll, schaltet das Radio in der Küche ein. Das Radio, das immer rauscht, immer und ewig rauscht, der Anfang, das Ende der Welt. Setzt sich und trinkt und starrt auf die Küchenwand. Mein Hirn, mein Denken ein Pulsar. Zu oft Gehörtes. Leben in der Wiederholung. Er spricht dem Moderator nach, sofort wird dessen Text sinnlos. Sich an der Zeit entlangtasten. Es läutet und die runzlige Alte von oben steht da. In der Hand hält sie einen Teller. „Ich habe Ihnen einen Apfelstrudel gebacken. Ist mein eigenes Rezept. Mein Adam hat ihn immer so gerne gegessen.“
 Der Kaffee ist fertig und er beißt achtlos in den Strudel, kaut ein wenig darauf herum, bevor er realisiert, dass er ihn nicht essen kann. Leiche. Ein Apfelstrudel, der wie eine Apfelstrudelleiche schmeckt, tot, verwesend, ranzig. Er spuckt aus und schiebt die Reste mit der Zunge aus dem Mund, entfernt sie umständlich mit den Fingern von der Unterlippe. Der Geschmack verschwindet nicht und er spült sich den Mund im Bad, trinkt ein Glas Valpolicella hinterher. Der Kaffee wird kalt. Die Kaffeeleiche in der Tasse. Die Tasse ein Grab. Sein Zimmer kommt ihm nun neblig vor, kurz vor dem Monsun, kurz vor dem Regen, dräuende Wolken in den Regalen, verklumpende Wortlawinen, verschlammendes Satzgeröll. Vielleicht nur eine Kerze anzünden, denkt er, es sich gemütlich machen. Man lebt nur einmal. Es klingelt das Telefon. Einmal, noch einmal, dreimal, noch mal, noch mal, wieder – Warten – nichts, vorbei. Der graue, nasskalte Himmel von draußen schaut in das Zimmer, die ganze Welt ist nass, denkt er, Rückkehr ins Meer, Beendigung des Landausflugs.
  Eine Nacht. Ein Morgen. Ein Tag. #!/usr/bin/perl, der Kunde am Telefon, Kaffee. Lea, die mit sich schimpft, weil sie ihren Kaffee verschüttet. Ins Altersheim, denkt er, sagt nichts. Wasser verschütten, Kaffee verschütten, Stunden verschütten.
 Im Treppenhaus ein Berg Umschläge vor die Briefkastenreihen geschichtet wie ein Laubhaufen im Spätherbst. Man kommt kaum zum Treppenaufgang, ohne auf einige der Kuverts zu steigen. Niklas nimmt einen der Briefe in die Hand. Niklas Fink steht darauf, der Brief ist an ihn adressiert. Der nächste. Ebenfalls. Er langt hinunter. Auch. Niklas Fink, auf den Umschlägen steht immer wieder Niklas Fink, tausendfach Post für Niklas Fink, als wäre ich ein Popstar mit Fanpost, denkt er. Überbevölkerung. Er öffnet den ersten Umschlag, natürlich ist es Werbung. „Sehr geehrter Herr Fink, wer frisch in den Tag startet, hat mehr vom Leben. Wir freuen uns, Ihnen anbei eine Probe des neuen Duschgels SHOWER FIT überreichen zu können. Fit in den Tag mit SHOWER FIT. Mit erfrischenden Grüßen, Ihre Wasserwelt AG.“ Wasserwelt. Wasser von der Decke.
 An seiner Wohnungstür klebt ein Zettel. Er reißt ihn runter. „Sehr geehrter Herr Fink, ich bitte Sie, Ihre Post unverzüglich aus dem Treppenhaus zu entfernen, sonst werde ich kostenpflichtig jemanden damit beauftragen. Helmut Kust, Hausmeister.“ Der hat sie auch nicht mehr alle. Was kann ich denn für die Werbung. Auf meinem Briefkasten steht eindeutig, keine Werbung einwerfen. Keine Werbung davorwerfen steht da zwar nicht, aber der Postbote ist wohl auch nicht ganz sauber, das sieht man doch, dass da was nicht stimmt. Die müssen das ja extra mit dem Auto hergefahren haben, das bekommt der doch nicht auf sein Fahrrad.
 „Wasserwelt AG, Hammerstein, Sie rufen außerhalb unserer Geschäftszeiten an.“ Die Leere, das Nichts in der Leitung. Ein Klicken, das Besetztzeichen. Kein AB. Diese blöde Bande. Und dieser Scheißkerl von Hausmeister. Nicht mal ins Altpapier werfen kann man dieses saubere Zeug. Das sollte die Post zurücknehmen, zurückschicken sollten die das, aber bevor ich da lange hinfahre, habe ich es schon im Müll. Die alte Frau tritt ins Treppenhaus, die Haare hochtoupiert, in der Hand einen Schirm, in der anderen eine große Handtasche. „Herr Fink, so viel Post für Sie, etwas Wichtiges?“ Einmal ist keinmal. Werbung funktioniert durch Wiederholung. „Nur ein Versehen, Frau Schiefer, die haben da etwas verwechselt.“ Scheißt mich nur zu. Stopfleber Kunde. „Herr Fink, könnten Sie den Teppich nachher in den Keller tragen? Der Hausmeister hat gesagt, da draußen im Hof darf er nicht bleiben.“ „Ja, ja, mache ich.“ Die Welt gerät immer mehr aus den Fugen. „Das ist lieb, Herr Fink.“ In den Müll, alles in den Müll. Von oben eine Weinkiste aus Pappe, füllen und hinaus damit. Immer wieder. Als die Tonne überquillt, schleppt er den Rest hoch, leert ihn kistenweise in die Badewanne. Eine Badewanne voller Werbung, denkt er, eine Badewanne voller Duschgel. Wenn das Lorenz sieht, wird er denken, es ist eine Installation. Und andere regen sich auf über ihre Spammails. Ein kleiner Eingriff. Übergriff.
  Eine Nacht. Ein Morgen. Ein Tag. Der Kunde am Telefon. unlink $kunde. Lea glaubt ihm nichts mehr. Erst die Geschichte mit der Alten und jetzt die Duschgel-Lawine, das ist zu viel, sagt sie. „Wasserwelt AG, Hammerstein. Alle Leitungen sind besetzt. Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld, Dudel Dudel.“ Immer wieder. Immer noch. Wie lange er auch wartet. Egal, legt er auf. Abends allerdings noch ein Haufen vor dem Briefkasten. Viel weniger als das erste Mal, aber viel zu viel für den Briefkasten. Nachzügler, beruhigt er sich. Alles in die Kiste, alles nach oben, alles in die Badewanne. Läuft auch schon über, denkt er. Wasserschaden. Wasserweltschaden. Weltschaden. Er geht noch mal hinab, sperrt den Briefkasten auf, echte Post, denkt er. Arztrechnung. Telefonrechnung. Noch ein Brief. Wasserwelt AG, sieh an, meine Freunde. Der Umschlag anders als die vielen anderen. Im Hochsteigen reißt er ihn auf, liest, „es tut uns leid, durch einen Computerfehler in der Frankieranlage der von uns mit dem Versand beauftragten Firma wurden alle 50.000 Exemplare unserer letzten Werbesendung an Sie adressiert. Wir bitten Sie, dieses Versehen zu entschuldigen. Anbei ein Muster unseres neuen, erfrischenden Duschgels SHOWER FIT.“ Die haben sie nicht mehr alle, denkt er, die Welt ist verrückt, verrückt, verrückt.
 Bier aus dem Kühlschrank, Bier aus der Flasche. Ein kleiner Eingriff, sagt der Arzt. Vielleicht ist mit mir alles in Ordnung, aber meine Wohnung spinnt, das Haus spinnt. Zurück im Urwald, zurück in der Höhle. Fünfzigtausend Duschgelproben. Hätte ich alle behalten und jeden Tag eine benutzt, wie lange wäre das dann? Dreihundertfünfundsechzig im Jahr, zehn Jahre macht dreitausendsechshundertfünfzig, hundert Jahre sechsund¬dreißig¬tausend¬fünfhundert, bleiben dreizehntausend¬fünfhundert, das sind dreitausendsechshundertfünfzig mal vier, ungefähr, nicht ganz, also noch mal vierzig Jahre. Hundertvierzig Jahre lang duschen. Mehr Briefe, als ich Tage lebe, nicht mal fünfzigtausend Tage hat man. Mir ein Bad einlaufen lassen, denkt er. Umgeben vom Schaum der Tage, vom Schaum der Welt um uns herum. Seifenblasen. Was wir für Welt halten, denkt er. Im Zimmer die dunklen Flecken an der Wand, es riecht feucht, das Fenster ist beschlagen. Er öffnet es und schaut hinaus, hinauf in den grauen Himmel. Die Bücher in den Regalen quellen vor sich hin, saugen die Feuchtigkeit auf wie Pflanzen. Die leere Bierflasche stellt er auf das Fensterbrett, versinkt im feuchten Sessel wie im Moor, dämmert dahin, während die untergehende Sonne den Raum entfärbt. Mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, Duft an den Hals, mit den Armen durch die Ärmel des Mantels, die Türe ins Schloss, hinab, hinaus.
 Die Nacht hat den Vorteil, dass die Wolken nicht so ins Gewicht fallen, denkt er, läuft vorbei an den schattigen Leibern der neben den Bürgersteigen abgestellten Autos. Eine leere Bierdose aus dem Weg treten, hin und wieder im Blick hinaufwandern an den Häuserwänden, ordnungslose Muster aus finsteren und beleuchteten Fenstern, Jalousien und Vorhänge, hie und da sieht er dahinter für einen Moment sich bewegende Körper auf ihrem Weg durch die Zimmer. Wohnzimmerkörper, Küchenkörper, Schlafzimmerkörper, denkt er.
 Die Brille beschlägt sofort, unmittelbar mit dem Eintreten. Menschennebel. Die Bar umlagert. Mit Geschick bekommt er einen Arm hindurch, presst sich hinterher. Mit dem Glas Bier in der Hand bewegt er sich in die Raummitte. Schauen wir uns den Abend an, denkt er, die Nacht. Er trinkt schnell, stellt das leere Glas ab, steht mit den Händen in den Hosentaschen im Geschiebe, wird umhergedrückt und bleibt doch immer ungefähr an derselben Stelle, wie auf den Wellen tanzendes Treibgut, ein Stück Holz etwa oder ein Teil einer Pflanze. Er sieht in die Dünung aus Köpfen, Fischgründe, denkt er, niemand von seinen Freunden ist da, einige schon mal erblickte Gesichter, aber niemand, über den er sich freut. Lorenz ist nicht da. Mit ihm könnte ich viel reden heute, das Ganze erzählen. Mein Leben im Dschungel. Und nachts laufen die Tiere zur Tränke. Wie sich alles bewegt. Stelle dir vor, du lebst in einer Welt, in der sich alles so schnell ändert, dass du nichts mehr wiedererkennst, jeden neuen Tag, würde ich ihm vorschlagen und er würde diesen Gedanken sofort weiterspinnen oder behaupten, es sei längst so. Was bleibt? Wir glauben uns zu erinnern, aber wir finden diese Erinnerung einfach nur vor, sie ist nicht von gestern, sie ist von heute. Das Mädchen sieht aus wie die vom letzten Mal, nein, das ist sie nicht, nur von der Seite. Die Hitze nimmt zu. Trinken und schwitzen. Eine Runde Duschgel für alle.
 Noch ein Bier. Noch ein Bier. Die Decke hing niedriger als sonst in seiner Wahrnehmung. Er sah alle auf dem Kopf schweben. Als müsste man sich am Boden festhalten, als hätten alle ihre Schuhe mit Klebstoffen bestrichen. Die Schwerkraft wegdenken, die Schwerkraft umdenken, die Schwerkraft anders denken. Der Wirt wechselte die Kopfbedeckung zum vierten Mal in dieser Nacht, hatte den Fez abgelegt und trug jetzt die Freiheitsstatue. Der Rauch hatte sich an die Decke verästelt, stieg und fiel, griff tastend hinab in die Gesichter. Alle standen sie unter dieser Decke, alle blickten sie aus ihren Augen, hielten ihr Glas, bewegten den Mund, betasteten die Zähne mit der Zunge. Zeitreise. Sie alle waren auf einer Zeitreise; eine Reise, auf der es keinen Halt gab, nie, nirgends, aber dieser Moment, dieser Ausklang, dieses Stehen war, als wären sie in der richtigen Geschwindigkeit angekommen, hätten endlich das gleiche Reisetempo erreicht wie die Dinge um sie herum, wie die Nacht über ihnen, auf die sich bereits der anbrechende Tag stülpte. Draußen in der veränderten Welt.