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FR | 11.02 | 15:51
Sasa Stanisic
Sasa Stanisic
Was wir im Keller spielen . . . .

Sasa Stanisic (Bild: Johannes Puch)
WAS WIR IM KELLER SPIELEN, WIE DIE ERBSEN SCHMECKEN, WARUM DIE STILLE IHRE ZÄHNE FLETSCHT, WER RICHTIG HEIßT, WAS EINE BRÜCKE AUSHÄLT, WARUM EMINA WEINT, WIE EMINA STRAHLT
Kaum haben die Mütter zum Abendessen gerufen, mit flüsternden Stimmen, stürmen Soldaten das Gebäude, fragen, was gibt es, setzen sich zu uns an die Sperrholzplattentische im Keller. Sie bringen eigene Löffel mit, an ihren Handschuhen fehlen die Finger. So unbedingt dringen die Soldaten ein, wie sie auch unbedingt die Namen von allen wissen wollen, wie sie in die Decke schießen müssen, wie sie Cika Hasan und Cika Sead aus dem Treppenhaus in den Keller schubsen und zu einem der Soldaten bringen. Der aber tunkt Brot in die Erbsenbrühe, sagt: nicht unbedingt jetzt. Schnell zu Tisch, Soldaten, bitte, es wird doch kalt, hatten die Mütter nicht gerufen. Es gibt keinen Platz für Rucksäcke und Gewehre und Helme auf den kleinen Tischen, aber Zoran und ich machen für die Kalaschnikow gerne Platz. Wie heißt ihr? Wir heißen ganz gut und dürfen deswegen Helme tragen. Wie kann es sein, dass ein Helm nach Erbsenbrühe riecht, ich weiß nicht.
Bis auf die Soldaten, und dass Cika Hasan und Cika Sead vor den Sperrholzplattentischen ihre Mützen in den Händen kneten und weinen, ist alles so, wie es zuletzt immer war. Ich durfte seit heute morgen um zehn nicht aus dem Keller, ich durfte Marija nicht an den Zöpfen ziehen, tat es aber doch, ich musste Erbsen essen, obwohl Erbsen nach Bohnen schmeckten. Pünktlich um zehn Uhr dreißig begann auch heute morgen, wie an jedem Morgen in den letzten drei Wochen, der Krach. Schweres Geschütz, nickten die Großen, und sagten entsprechende Buchstaben und Zahlen auf, VRB128, T84. Cika Petar und Cika Hasan stritten oft darüber, welcher Buchstabe und welche Zahl wohin schoss, und ob sie was trafen. Sie sagten: „theoretisch“. Wenn unser Gebäude getroffen wurde, sagten sie „praktisch“, und lachten. Uns Kindern gefällt Artiljerija besser als schweres Geschütz. Die Einschläge der Artiljerija und das Gekläff der Maschinengewehre kann Zoran am besten nachahmen. Deshalb will ihn jede Mannschaft für sich haben, wenn wir Artiljerija im Keller spielen. Drei gegen drei, keine Bomben erlaubt, nein, Marija du darfst nicht mitmachen, Gefangene dürfen gekitzelt werden, unbegrenzte Munition, im Aufgang zum Treppenhaus – Waffenruhe. Tattattaterte Zoran, spitzte die Lippen und schüttelte sich wie ein Verrückter! Fast immer gewann die Truppe, in der Zoran diente. Kein Wunder bei seinen Salven und seinem Schütteln.
Auch heute Nachmittag haben wir gespielt. Zoran war bei den anderen. Normalerweise liefen die Mannschaften nach Spielbeginn in entgegen gesetzte Richtungen, versteckten sich in finsteren Kellerecken und warteten lauernd: Wer verlässt die Stellung zuerst und stürmt zum Angriff? Konnte ganz schön langweilig werden in der Kellerecke, und wenn die anderen gar nicht kamen, begannen wir mit Murmeln zu spielen und vergaßen, dass Krieg war. Leichte Beute für den Feind, wenn er dich dann doch überrannte, und deine Waffe ist ein Glaskügelchen zwischen Daumen und Zeigefinger, meines immerhin mit einer vierfachen Feder darin.
Heute sind wir den anderen heimlich gefolgt, anstatt uns zu verstecken. Sie verbarrikadierten sich hinter zwei Sauerkrautfässern und einem Bettgestell mit verrosteten Federn. Wir wollten von hinten an sie rankommen. Nach drei Schritten landeten wir links vor einer Wand, nach fünf Schritten rechts vor einem verschlossenen Kellerraum. Eine tolle Taktik.
Lasst uns eine entlegene Kellerecke auf der anderen Seite suchen, schlug ich Nešo und Edin vor. Mir war eigentlich nach Murmelspielen.
Wartet mal, Nešo zeigte auf die Tür, das hier ist doch der Keller von Cika Petar, da kann man durch. Drüben ist der Keller von Cika Ratko, dahinter unser Keller mit einem Durchgang zu Cika Seads. Wenn wir von dort aus unbemerkt über den Gang kommen, dann geht alles super. Nur noch runter und zack und wir sind hinter ihnen. Los, lasst uns die Schlüssel besorgen.
Na, das sind mir zu viele Keller, das dauert zu lange, sagte Edin, nahm sein Winchester-Repetiergewehr von der Schulter und schlich vor, spähte um die Ecke. Wie oft hatten wir Edin gesagt, die Winchester, das geht nicht. Die hat hier nichts verloren mit ihrer Bison-Gravur und ihren zwölf Schuss. Da kann er gleich mit Pfeil und Bogen kommen. Schieß ich eben genau. Gar nicht genau schoss er, und sah dabei auch noch komisch aus. Am Abend vor dem Schlafengehen und morgens nach dem Aufstehen klebte ihm seine Mutter mit Panzer-Tape die abstehenden Kartoffelscheibenohren am Kopf fest. Edin winkte uns heran. Zoran und seine beiden Kameraden hockten, den Rücken uns zugewandt, da und bemalten die beiden Sauerkrautfässer. Ich legte den Zeigefinger auf die Lippen und ging geduckt voran, mein AK-47 fest in den Händen, Edin und Nešo dicht hinter mir. Leise war das nicht, aber wir blieben unbemerkt. Daumen – Zeigefinger – Mittelfinger – Faust: Hurraaaaaaa!, und wir stürmten voran. Überrascht und erschrocken wichen die anderen zurück! Nur Zoran verharrte, drehte den Kopf zu mir, ließ die Kreide fallen und hob sein Maschinengewehr. Bevor er die Lippen spitzen und sich zu schütteln beginnen konnte, warf ich mich auf ihn. Zuckte er zusammen? Duckte er sich? Wollte er ausweichen? Ich weiß nicht, sah nichts. Wir stürzten zu Boden, rollten umeinander. Ich schoss in seine Seite, du bist tot, rief ich, hab dich, rief ich, trrrr. Er sagte, warte mal, es blutet, stand auf, langte unter seine Nase, als würde er Wasser trinken und zeigte mir das Blut  in der Handmulde. Es blutet, sagte er, mit dem Knie hast du mich, und das Blut rann ihm um den Mund und in den Ärmel. Wie viel Blut so eine Nase hat, und ich antwortete: vier Literflaschen voll. Edin lud nach und schüttelte den Kopf, sagte, Leute, ich freue mich, wenn wir wieder kicken können, hab schon wieder daneben geschossen.
Als Zorans Mutter das Blut sah, rief sie seinen Namen und drohte umzufallen. Ich glaube ja, sie hat das extra gemacht. Eigentlich wollte sie nur, dass Cika Petar sie in die Arme nimmt. Läuft sie also nach links, verdreht die Augen, legt die Hand vor ihre Brust, und wie schön, da steht ausgerechnet Cika Petar, jetzt kann sie sich fallen lassen. Was wohl Cika Petar jetzt denkt? Wenigstens musste er sie nicht lange halten. Mit einem Schrei löste sie sich von ihm, sprang auf Zoran zu und stierte auf seine Nase. Halt deinen Kopf nach hinten, was ist passiert? Sie zerrte ihn aus dem Keller. Als sie schon an mir vorbei war, kehrte sie um, als hätte sie etwas vergessen. Es nutzte nichts, dass Zoran und ich „keine Absicht, keine Absicht“ riefen – sie packte mich am Ohr und schüttelte dran, bis es knackte. Zoran streckte mir hinter ihrem Rücken die Zunge heraus, er sollte lieber den Kopf nach hinten halten.
Soldaten haben den Männern in den Bauch geschossen. Vornüber sind die zusammengesackt. Wenn du einen Volley abkriegst – so war das. Das habe ich, berichtete Zoran, als er zurück kam, oben aus dem Fenster gesehen. Er flüsterte und drückte ein Handtuch an seine Nase. Immer musste Zoran mit allem übertreiben. Ich glaubte ihm kein Wort, welche Soldaten überhaupt, sagte aber nichts. Erst wenn kein Blut mehr kommen und wenn seine Mutter nicht mehr in der Nähe sein würde, wollte ich ihm zeigen, was ich von seinen Märchensoldaten halte. Zoran faltete das Handtuch auf und zeigte mir, wie viel Blut er verloren hatte. Viel Blut war das, zwei Literflaschen vielleicht, aber Blut wächst nach.
Zorans Mutter schüttelte ihren großen Kopf, stemmte die Hände in die Seiten, lief vor mir auf und ab. Sie bimmelte. War das ihr Schmuck? Ich hörte diesen kleinen Glocken zu und nicht ihren strengen Fragen. Sie zog die Augenbrauen zusammen und fuchtelte mir mit ihrem Zeigefinger vor der Nase herum, worauf es noch heftiger zu bimmeln begann. Warte nur!, zischte sie durch die Zähne. Ich schämte mich aber nicht mehr für den Tritt und hatte keine Angst vor ihr – Zoran und ich verstanden uns doch wieder. Trotzdem nickte ich zu dem, was mir der große Kopf von Zorans Mutter bimmelnd erklärte. Waren das Münzen vielleicht? Geldscheine namens Demark nähten die Frauen seit kurzem in ihre Kleider und Unterkleider, aber doch keine Münzen! Warte nur! Ich wartete und bald bimmelte sie davon, zu den anderen Müttern und den Töpfen auf dem Herd.
Die Erbsen köchelten schon auf dem Gottseidank-dass-wir-noch-Strom-haben. Durch das Luftgitter fiel immer weniger Licht. Zu hören waren vereinzelte Schüsse, dann eine Salve, dann Stille, dann Schüsse, dann wieder Geknatter. Es war in den Straßen und nicht mehr in den Bergen. Gegen sieben wurde es zu einer Stille still, dass wir ermahnt wurden, stilljetztstill!, obwohl wir schon längst nichts mehr sagten. Alles war wie immer, nur die Stille drückte lauter als sonst, warum hörten alle der Stille zu? Zähne fletscht die Stille, murmelte Cika Petar. Sonst sagte er „fletschen“ zur Sonne, wenn sie im Winter strahlte, ohne zu wärmen. Sogar die Rufe der Mütter klangen  dagegen wie geflüstert: „Abendessen!“ Die Großväter drängten ihre Köpfe dichter über das kleine Transistorradio zusammen, stießen mit den Köpfen aneinander. Lange kam keine Musik mehr, immer redeten sie im Radio nur. Heiser sprach jetzt einer verärgert davon, dass sich unsere Truppen von ihren Stellungen zurückzogen, um sich neu zu formieren. Schweigend stützten Großväter ihre Ellenbogen auf die Knie und ihre Köpfe auf die Hände, oder standen kopfschüttelnd auf und stützten sich auf ihre Stöcke. Alle fieberten mit unseren Truppen und den Stellungen unserer Truppen, obwohl niemand genau wusste, wer das war, diese unsere Truppen, und was das für wichtige Stellungen waren, die aufgegeben werden mussten. Erst als die heisere Radiostimme den Namen einer Stadt nannte, die genau so hieß wie unsere Stadt, wussten alle etwas. Auch ich wusste ein wenig. Dieses Wissen war es, das in der Stille seine Zähne fletschte. Was wir Kinder sonst wissen sollten, das redeten uns die Mütter ein. Wasser vorm Trinken abkochen. Im Innenhof, nicht auf der Straße spielen, und nur morgens vor zehn. Nicht an die Fenster gehen. Aber als die heisere Radiostimme jetzt „Višegrad“ sagte, und ich mich fragte, wie kann das sein, dass eine Stadt fällt, muss das nicht ein Beben geben, wussten selbst die Mütter nicht, was zu tun sei. Sie salzten die Erbsen und rührten im Topf.
Draußen löste eine Hochzeitsgesellschaft die Stille ab. Wir wurden aus dem Keller hinausgehupt – erst an die Fenster im Treppenhaus, dann in den Hof, dann auf die Straße. Was sollte das jetzt, Bräutigame mit Bart, oben Tarnjacke, unten Trainingshose? Geländewagen hupten, Lastwagen hupten. Eine Armee von bärtigen Bräutigamen fuhr vorbei, sie schossen die ganze Nacht den Himmel an, und feierten, die Stadt zur Braut genommen zu haben. Auf den Wagendächern und den Hauben schaukelten Bräutigame im Takt der Straßenlöcher, die sie selbst ausgeschachtet hatten, morgens ab zehn Uhr dreißig, drei Wochen lang, jeden Tag. Die Hände hielten sie flach über die Augen, schielten darunter hervor, mieden die untergehende Sonne. Hinten hingen aus den Anhängern Beine in grün und braun, baumelten wie Zierde.
Die ersten Panzer ziepten die Straße hinauf. Ihre Ketten hinterließen weiße Ritzen im Asphalt und machten, wo sie über Bürgersteige fuhren, Beton zu Kieseln. Es gab kein Halten mehr: wer ölt die denn, was quietschen die so? rief ich, und schon rannten wir auf die Panzer zu – rennen, das konnten am schnellsten wir! Die Mütter, deren Händen wir entschlüpft waren, griffen sich in die langen Röcke und klagten uns nach, so schnell eilten wir zu den Panzern. Ja, wer fährt die denn, wie sieht das Lenkrad aus und können wir mit? An den Gärten vorbeiklappern, an den Pflaumenbäumen, die reife Früchte trugen, an den Höfen vorbei, in denen Koffer standen und Menschen, die sie schnellschnell in Kofferräume packten und auf Autodächer stapelten. Wie es wimmerte und trillerte unter diesen geballten Fäusten – der Zeigefinger ausgestreckt! Was zerrieb die Faust, was mahlte das Metall, was presste die Faust aus, wohin zeigte der Finger? Sogar die Brücke über die Drina bog sich unter den Zahnrädern. Ihre Bögen werden bersten, da ist Großmutters teueres Porzellan nichts dagegen. Im kleinen Park blieben wir stehen, kletterten auf das Podest der Statue von Ivo Andric, wollten hören, wie laut es würde, wenn die Brücke bricht.
Die Mütter holten uns ein, ich holte mir von meiner eine ehrlich gemeinte Ohrfeige ab. Sie wusste, dass ich den Panzern auch über die Brücke gefolgt wäre, sobald der erste drüben angekommen ist. Mir dröhnte nach der Ohrfeige der Kopf, so wie von den Panzern die Ziegeldächer vibrierten. Ich hielt mir die Hände an die Ohren, die heute so einiges auszuhalten hatten, und hörte nur noch die stählernen Hundertfüßler, wie sie die Straße zu Staub raspelten. Die Brücke hielt.
Zoran am Ohr, mich am Ärmel zerrten uns die Mütter zurück in den Keller. Emina, meine Emina, war nicht mitgelaufen. Sie saß auf der untersten Treppenstufe, da sitzt man doch, wenn man keine Munition mehr hat, Spielregel: Treppenaufgang – Waffenruhe. Ich setzte mich neben sie, rieb mir das Ohr, sie rieb sich die Augen. Als ich „Panzer“ sagte, und „schneller als Zoran“ sagte, und „Soldaten wie Bräutigame“ sagte, stand sie auf und rannte weinend die Treppe hinauf.
Vor zwei Tagen hatte Emina schon einmal geweint. Sie weinte, bis sie einschlief, ihre Hand in meiner. Eminas Onkel Ibrahim traf es, als er sich in Cika Hasans Bad rasieren wollte und den Kopf zum Spiegel neigte. In den Hals und ein bisschen in das Kinn traf es ihn durch das Fenster im Bad. Cika Hasan erzählte den anderen, und ich hörte an der Tür mit, rahmetli Ibrahim habe Minuten lang nach Luft gerungen. So sehr gekämpft und an meinem Hemd gezerrt, als wollte er einen unendlichen Atem schöpfen, um mir von Dingen zu erzählen, die am wichtigsten sind auf der ganzen Welt. Ich hatte, schüttelte Cika Hasan den Kopf, keine Luft für rahmetli Ibrahim. Und so war er in den Tod geklettert, ohne mit seiner Geschichte begonnen zu haben. Dabei ist sie auch ungesagt eine Legende geworden! Cika Hasan zeigt, wie er die Hände hob, weil alle um Ibrahim bloß herumstanden, und Cika Hasan erzählt, wie er die Augen verschloss, weil an Ibrahims Kopf und an den Fliesen und am Spiegel das Blut klebte. Überall Blut, überall die Farbe von Kirschen, stellte ich mir vor, auch wie sie von den Fingern triefte, die in Ibrahims Hals gebohrt wurden, damit er Luft bekam.
Ich wäre Emina sofort nachgelaufen, hätten die Mütter nicht zum Abendessen gerufen und wäre nicht Glas im Treppenhaus zerbrochen und die Stille unter Schüssen und Rufen verflogen. Emina weint, weil Soldatenfäuste nach Eisen riechen und niemals nach Seife. Weil den Soldaten die Gewehre um die Nacken baumeln und Türen unter ihren Tritten nachgeben, als gebe es keine Schlösser. Sie weint, denn so hatten Soldaten auch in Eminas Dorf die Türen eingeschlagen, sie weint und versteckt sich auf dem Speicher, in dem wir Mäuse jagen, in dem Staub auf den Vitrinen liegt und mein erstes Fahrrad rostet. Dort werde ich meine Emina gleich finden.
Hier, im Keller, schöpfen die Mütter Erbsen für Kinder und Soldaten. Einer mit schwarzem Stirnband bricht das Brot und verteilt die Stücke – wehe mir und meinem Ohr, wenn ich das Brot mit Dreck unter den Nägeln anfassen würde. Zoran zeigt auf das Stirnband, sagt, Rambo eins war viel besser als zwei und drei. Die heisere Radiostimme sagt: Višegrad, Rambo sagt, jaja; die Radiostimme sagt: nach erbitterten Gefechten gefallen, Rambo kratzt sich unter dem Stirnband, gutgut, und nimmt Anlauf; die Radiostimme hebt sich: aber unsere Truppen formieren sich neu, Rambo murmelt, mmh interessant, aber irgendwie… verantwortungslos, denn ich bin Rambo vier und fünf. Er tritt mit Vollspann gegen den kleinen, schwarzen Kasten und die Radiostimme sagt nichts mehr. Der Soldat wirft den Großvätern die verbogene Antenne und einen Knopf vor die Füße: was zum basteln. Wer es repariert, dem kauf ichs ab. Er setzt sich an den Sperrholzplattentisch. Und ihr, mehr Speck in die Erbsen – so werde ich nicht satt. Lasst ja nicht mich nach Speck suchen. Finde ich Speck, verliert ihr Schöneres. Du da hinten, du wirst mir Speck aufschneiden. Löffel schlagen gegen Teller, das Mädchen mit den langen, schwarzen Zöpfen legt dem Soldaten ein Kreuz aus Speckstreifen auf die Hand. Er beißt ein Stück ab, fragt, hast du dir das Kleid selbst genäht? Sag ja, und ich werde deine Finger küssen.
 Im Treppenhaus – wieder Schüsse, Schreie und die Stimmen besorgter Menschen. Wie die Muschel am Ohr klingt das Stimmenrauschen im Keller. Eminas Stimme fehlt mir, ich muss Emina finden. Ich lege den Helm ab, renne durchs Haus, wieder der schnellste. Die Soldaten jagen in Tarnfarben hinab-hinauf, grölen, runter und raus und nein! Nehmen immer drei, immer sieben Stufen auf einmal. Ziehen in die Wohnzimmer ein, die nach frischem Pflaumenkompott riechen. Wüten in den weißen Schlafzimmern. Schmieren die Fließen in den Bädern mit ihrer Sprache voll. Rütteln an Schränken, an Schubladen, an Truhen.  Mit roter Kreide malen die Bräutigame Kreuze und Halbkreise an die Wand, schreien rausraus, alle raus. Wieder und wieder dringt Soldatenbefehl in das Muschelrauschen. Gesichter werden gegen die Wand gepresst, über die Köpfe die Arme an den rissigen Putz gedrückt. Wen suchen die, einen Namen rufen sie. Ich kenne diese Soldaten nicht und nicht diesen Namen. Überhaupt sind mir die meisten Treppenhausbewohner unbekannt, sie leben nicht hier, sind aus ihren Dörfern weg, die Soldaten ihnen nach. Schutz suchten sie, weil Granaten einschlugen, weil das Treppenhaus und die Keller des einzigen Hochhauses der Stadt groß genug für Viele waren. Flüchtlinge, sagen wir zu ihnen, ich sage, „Schutzlinge“. Sie beschützten Emina, begleiteten sie und ihren Onkel Ibrahim hierher, nachdem Eminas Eltern verschwunden waren. Um ihr Haar wickeln die Frauen Tücher, die Männer haben keine Zähne und kauen am Brot mit offenem Mund. Sie riechen säuerlich und schlafen auf ihren Handrücken in den Fluren zwischen den Stockwerken. Manchmal muss man über sie steigen, und da seit Wochen niemand fest schlafen darf, wachen sie auf und fluchen kraftlos.
Wenn Soldaten fluchen, winseln die „Schutzlinge“, bitten, bitten, geben. Wenn die Soldaten lärmen, wenn sie brüllen, wenn sie brechen, wenn sie prügeln, wenn sie schimpfen – winselt es in der Treppenhausmuschel. Am besten wäre, überlege ich und zähle die Stufen auf dem Weg zum Speicher so laut ich kann, die Muschel geht kaputt, und alle – Nachbarn und „Schutzlinge“ und Soldaten – reden normal miteinander.
Auch Männern aus dem Haus, Cika Muharem im zweiten Stock, Cika Husein und Cika Fadil im dritten, halten die Soldaten die Köpfe gegen das Geländer. Die Nacken stützen sie ihnen von oben mit den Gewehrkolben oder von der Seite mit den Stiefeln. Auf dem Boden liegt Cika Fadils Mütze. Ich renne vorbei, grüße Cika Fadil nicht, obwohl er mein Geschichtslehrer ist und ich bei ihm nur eine Drei habe. Gegen den Kopf von Cika Miloš wird nicht gedrückt. Cika Miloš verschränkt die Hände vor der Brust und fragt einen der Soldaten: Was wollen Sie denn, Herrschaften? Hier sind nur ehrliche Menschen.
Wollen, dass du dein Maul hältst, hältst du die Fresse, wird nix passieren.
Ich will zu Emina, das ist alles, halte mein Maul, damit nichts passiert. Am schnellsten zu meiner Emina, sie wird Angst haben, sie wird wieder weinen müssen, und ich werde sie finden auf dem Speicher mit den Besen, mit Spinnweben zwischen den Sliwowitzflaschen und mit den Mäusen, die man niemals sah, aber immer hörte. Ich stürze durch die Tür zum Speicher, Emina zuckt zusammen, zieht die Beine enger an sich und drückt sich an die Wand.
Du bist es, joj, du bist es! Schnell, die Tür zu, schnell, sie finden uns sonst! Sag mir, finden sie uns?
Emina streckt die Arme nach mir aus und fragt schluchzend, hast du meine Mama und Tata gesehen? Sind Mama und Tata vielleicht mit den dummen Soldaten zurückgekommen? Soldaten haben sie vor Wochen doch auch mitgenommen, wie viele andere, die einen falschen Namen trugen. Woher Mama und Tata zurück kommen sollen, weiß Emina nicht. Das weiß niemand, flüstert sie. Und niemand soll wissen, dass wir hier sind! Wenn uns die Soldaten finden, werden sie nach unseren Namen fragen. Wenn du keinen guten Namen hast, so wie ich, wenn du einen falschen Namen hast, dann kommt, wenn alle schlafen, der Lastwagen mit der grünen Plane und sie fahren dich weg. So war es bei Mama und Tata. Vielleicht fahren mich, hebt Emina plötzlich ihren Kopf von meinen Händen und ruft unter noch mehr Tränen, vielleicht bringen mich die Soldaten zu Mama und Tata, wenn ich ihnen meinen Namen sage, hörst du? Vielleicht ist es jetzt für mich gut, falsch zu heißen, hörst du?
Ich höre es – und Schritte, die sich nähern. Ich höre schwere Stiefel und trage den richtigen Namen. Und obwohl der Soldat mit gelbem Bart schmunzelt, obwohl er nicht nach Schweiß und Schnaps riecht wie die anderen, obwohl er nur will, dass wir ins Treppenhaus zurück gehen, schreie ich ihn an: Ich heiße Aleksandar und das, das ist meine Schwester, Katarina, das ist Katarina, nur meine Schwester Katarina. Meine Oma heißt doch auch Katarina, und ihr Name, davon bin ich überzeugt, ist nicht falsch, das kann gar nicht sein. Omas haben niemals falsche Namen. Meine Emina ist meine Katarina, das ist alles dasselbe. Der Soldat lacht, packt mich unter seinen Arm, na du Knirps, nimmt Emina an die Hand und trägt und zieht uns in das Treppenhaus, ihr rührt euch nicht vom Fleck, verstanden?
Im Flur zwischen dem vierten und dem fünften Stock rühren wir uns nicht vom Fleck, warten. Wie lange und worauf, weiß niemand. Die ganz Kleinen werden von ihren Großen keine Sekunde losgelassen. Sie werden in Armbeugen gewippt, quengeln und bekommen auf Alles „shhh“ zur Antwort. Gehen wir runter, Emina? Wir würden schon, aber ein fetter Soldat stellt sich in den Weg, guckt, als hätten wir gestohlen. Unter uns fallen ausgerechnet jetzt Schüsse, der Fette sagt, na hört ihr. Wir nicken, halten unser Maul, damit nichts passiert und rühren uns nicht vom Fleck. Nicht mehr die Mütter, die Soldaten reden uns jetzt ein, was wir wissen sollen.
Im Fenster am Flurende hängt schon die Nacht. Draußen brummen noch immer die Motoren. Cika Petar sagt, die ziehen weiter nach Westen ins Landesinnere, theoretisch. Cika Hasan ist nicht mehr da, um zu widersprechen. Lange Zeit sind Motoren und Husten und Stiefelsohlen die einzigen wiedererkennbaren Geräusche. Die Bräutigame sind nicht mehr in Feierlaune, müde spazieren sie mit ihren großen Schritten über und zwischen und unter uns. Einer singt das fröhliche Lied, alle kennen es, er singt allein und schläft dabei ein.
Zwei neue Soldaten kommen auf unser Stockwerk, der eine zeigt schiefe Zähne und steckt dem Schlafenden einen Finger ins Ohr. Aus einer Plastiktüte holt der andere Brot, Salz, Bier. Packt aus der Alu-Folie zwei ganze gebratene Hühnchen. In einem roten Topf dampfen gekochte Kartoffeln. Sind unten etwa die Erbsen ausgegangen? Große Messer mit schartiger Klinge und Kerben im Griff, Teller brauchen sie nicht. Alle Türen stehen offen oder liegen auf dem Boden, wer hat das schon mal gesehen, dass du über die Tür laufen musst, um in ein Zimmer zu kommen? Cika Hasan wohnt dort, wo zwei Soldaten hinein gehen. Es scheppert und rumpelt, quietscht und scharrt, so kratzen die Tischbeine übers Parkett und der Tisch passt doch nicht durch die Tür. Da stehen die Soldaten, zwei drinnen, zwei draußen, und was jetzt? Der mit dem größten Hunger isst die Hähnchenkeule im Stehen. Die schon drinnen sind, setzen sich in Cika Hasans Wohnung an den Tisch, einer setzt sich vom Flur aus dran. So wird das gemacht, Soldaten wollen Hähnchen, bohren die Finger ins Fleisch, spießen es auf die Messer, essen das Fleisch von den Messerspitzen.
 
Alle zwei Minuten erlischt das Licht im ganzen Treppenhaus. Für Sekunden verhüllt die Dunkelheit das Warten. Nicht genug Zeit, um Konturen zu erfassen. Sofort knipst jemand das Licht wieder an.
Was ruft da auf der gegenüberliegenden Seite des Flures der schwer atmende, aufgeblähte Soldat mit dem roten Gesicht? Verficktes Licht? Verficktes Scheißlicht? Ist doch die Dunkelheit, die ihn stört, der Fette möchte nämlich lesen. Wenn er gegen den Lichtschalter haut, knackt es. Einmal will er mit dem Fuß, kommt aber nicht so hoch. Aus der Wohnung nebenan holt er einen Stuhl und setzt sich direkt unter den Schalter um sofort dagegen zu hämmern, wenn das Licht erlischt. Wenn die Neonröhren angehen – ein großes Blinzeln jedes Mal, aber kein Aufwachen - die Soldaten verschwinden nicht, spielen Fußball mit der abgenagten Hähnchenkeule, das Warten endet nicht.
Einmal, unmittelbar nachdem der Fette das Licht angeknipst hat, deutet Emina mit einem Kopfnicken auf ihn und beginnt flüsternd zu zählen. 115, 116, 117. Dunkel. Knazz! Tsck-Ssssumm! Licht. Beim zweiten Mal, und ich frage mich: warum zählen wir eigentlich? Es würde reichen, sich bereit zu halten, bestimmt sind wir auch so schneller als der. Aber wir zählen, und jede gleichzeitig gezählte Zeit steht später für einen Wunsch. Bei 109, 110 legen wir die Hände hinter dem Rücken an den Schalter, lassen den Fetten nicht aus den Augen. Bei 114 prasselt draußen eine Gewehrsalve los, bei 117 grunzt der Fette die Dunkelheit an, der Stuhl unter ihm knarrt. Emina schiebt ihre Finger durch meine, wir drücken einander die Hand und mit Fingerspitzen den Plastikschalter. Eminas Strahlen ist im Augenblick dieses Triumphs, da sie vor Freude in die Hände klatscht, heller als jedes Licht. Ruhe da hinten, der fette Soldat will lesen.