Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Julia Schoch
Julia Schoch
Der Ritt durch den Feind

Julia Schoch
Nein. Nicht als das Pferd, eher: das Knochengerüst eines Pferdes bis zum Hals in dem Straßenloch stand. Nicht in dem Moment. Denn da war Aufruhr, gleich waren Menschen da, die gesehen hatten, wie das abgemagerte Tier mit dem Vorderbein das Loch erwischt hatte, weggeknickt und kurz darauf mit dem ganzen Köper hineingerutscht war in den klaffenden Straßenbruch. Die aufgegebnen Pferde, herrenlos, trotteten wie blind umher und stürzten alle paar Meter in die Löcher der Stadt. Sie trat nicht so nah heran wie die übrigen Passanten, die sich um das Loch aufstellten, um dem Tier und sich in der fremden Sprache zuzureden. Trotzdem, der verdrehte Pferdekopf, an dem der Verkehr vorbeihupte, war deutlich zu sehn. Aber dieser Moment war es noch nicht; das Tier schnaubte ohne wirkliches Geräusch, drückte sich halbherzig gegen die Innenwände der Straße. Hilfskräfte erschienen und hievten es mit einem Hebekran heraus, pendelnd hing es in den Seilen; die Dürrheit hatte sie erwartet. Die meisten gingen schon wieder, der Kran wurde beiseite geschafft, als sich das Pferd, stumm und gleichgültig, von jemandem wegführen ließ. Erst da erschrak sie: wie es irgendeinem an den Straßenrand folgte, und alles weitre hinnahm. Oder verstand sie nicht? Verlegen blickte sie sich um. Vielleicht, weil sie fremd herübergekommen war, kam ihr der Heimatkontinent drüben als großer gemeinschaftlicher Klumpen in den Sinn, der sich vor jedes Zeichen hier schob.

Von der märkischen Hitze in die Schwüle des Äquators zu geraten. Dabei hatte sie in der kurzen tropischen Woche nur immer wieder die Gärten der Stadt betreten, war in die abgezirkelten bewachten Parks inmitten des klappernden Verkehrs gegangen, blühende Gehege, in denen einem nichts geschah. Hinter der Stadt der Amazonas, der sich über tausend Arme in den Atlantik wälzte – aber das hatte sie nicht gesehen. Statt dessen: einen Kahn auf  ihrem kiefernumstandenen Buckower See, und ihren Ruderer allein darin, am Heck der Platz leer, auf dem sonst sie saß. Seit Jahren. Und den Steg, auf die er ihre zwei Bücher hatte befördern wollen, noch in der letzten Stunde, bevor sie aufgebrochen war. Deine Werke, hatte er vergnügt gebrüllt und sie ihr aus dem Boot vor die Füße geschleudert, daß sie aufgefleddert durch die Stegplanken gerutscht warn. Meine Preußen! hatte sie entsetzt gelacht, aber zwischen dem morschen Holz nur noch einen Algenwust erwischt. Auf dem Weg zu dem künstlich gekühlten Pavillon der Anlage griff sie jetzt genauso in einen Miniaturbrunnen, was nicht galt. Die Verabredung hieß: Sie, auf den anderen Erdhälften, sollte jedesmal in den Fluß greifen, in die Flüsse der Städte, so wars ausgemacht, weil alles Erdflußwasser eins war. Aber zwischen den umzäunten Pflanzen hier und dem International hatte kein Fluß gelegen.
Und sie hatte nicht danach gesucht.

Daß Reitergeneral von Zieten und die Fürstin von Liegnitz im Schlick des Buckower Sees stecken geblieben warn, brachte sie nicht in Schwierigkeiten. Auch ohne die zwei Biographien sprach sie sich in ihrem gekachelten Hotelzimmer, groß wie ein Saal, den sie verdunkelt hatte, aus dem Gedächtnis alle Daten vor, die in den langen Monaten der Arbeit daran in ihren Kopf gewandert waren, Friedrich mit oder ohne Wilhelm eins bis vier, auch Nebenlinien, Kriege, siebenjährige und schlesische, Zietens famose Taktik aus dem Busch; dann wie der Monarch, diesmal ein Dritter, die verschreckte Harrach später Liegnitz im böhmischen Badeort aus heitrem Himmel hatte ehelichen wollen, und legte sich zuletzt vier Sätze zurecht, zum Preußenverdienst ganz allgemein, schließlich hätte sich die Meinung durchgesetzt, daß die Geschichte von großen Persönlichkeiten gemacht – Wieder der alte Fehler, sie hörte diesem Aufgesagten zu, als seis ihr eigenes, so daß es ihr sofort den Kopf zerstach. Das eigene, kurz tauchte Buckow zwischen den angelernten Wörtern auf, das einzige, das sich vielleicht als Abwehr denken ließ, wurde aber schließlich doch von ihnen erdrückt. Sie riß die schweren Vorhänge weg und blickte in die Hitze. Gegenüber ein riesiger Tropenhelm aus Beton, Busse warteten auf einem Sammelplatz. Unter ihr bewegten sich die Bewohner der Stadt in Badelatschen nach einem unbekannten Plan in alle Richtungen.
Aus dem Straßengewühl winkte ein Mann zu ihr herauf, sofort lächelte sie; dann erkannte sie den Dolmetscher, der sie ein paar Tage zuvor viel zu spät vom Flughafen abgeholt hatte. Mit seinem Wagen hatte er irgendwann die Gruppe einheimischer Männer, die sie sich auf dem stickigen Vorplatz angesehen hatte, zerteilt und sie einsteigen lassen. Man hatte geschaut, sie ungerührt zurückgeblinzelt, als beträfe sie das nicht. Genauso reglos hatte sie zugeschaut, wie die fleischige Hand des Dolmetschers auf der verstopften Zufahrtsstraße dann lachend über ihren Arm gestrichen war: Ihre Sommersprossen, sie sähe nicht aus wie vom Archiv. Weil sie nicht gewußt hatte, was noch käme, tat sie auch nichts dagegen. Er meinte die Redner, die man sonst einlud hierher. Sie hatte ihm den Arm gelassen, von dem er seine Hand erst herunternahm, als sie über breite Hochstraßen am Hotel angelangt waren, das gleich vorn, am Stadteingang, anstatt am Hafen lag.

Wenn man ihr winke, käme sie natürlich sofort! versuchte sie jetzt, schon unten, dem Dolmetscher entgegenzulachen, aber der Verkehr war zu stark und sie mußten, jeder auf seiner Straßenseite, warten, so daß sie schon wieder ernst war, als sie vor ihm stand. Zwar müsse sie sich noch Zietens Beförderungen einprägen, log sie und bot ihm gleichzeitig ein Stück Arm, aber wenn er unbedingt wolle, könnten sie auch sofort, warum nicht, zu zweit – als der Dolmetscher sich abwandte und ein junges Mädchen begrüßte; er hatte, erkannte sie verärgert, ja gar nicht auf sie gewartet. Eine Landsmännin, stellte er das Mädchen vor. Installationskünstlerin, sagte das Mädchen selbst. Zwei Damen derselben großen Kultur, jubelte der Dolmetscher wie berauscht und wollte sie beide, links und rechts, um die Hüften fassen, aber das Installationsmädchen machte sich stumm los und ging auf das Taxi zu, das eben am Straßenrand hielt.
Als der Dolmetscher sie einlud mitzukommen, stieg sie ohne eine Frage sofort und rasch ein. Zu rasch, denn der Dolmetscher, noch draußen, rieb sich wie bei einem Gewinn die Hände. Erst die Biographien, dann die Installation, schwärmte er sich selbst das Programm des Abends vor. Und, mit seinem Gesicht nah an der Scheibe: Nie war eine Kulturwoche schöner!  
Das Installationsmädchen warf Kartons zu ihnen hinein, so daß sie, große Pappen zwischen sich, auf der Fahrt zur Ausstellungsvorbereitung unsichtbar ihre Namen tauschten; aber ihrer, Lo, Lo? war ja gar keiner. Erstaunen, überall. Und überall erzählte sie: Immer, vor allem in der Fremde, war ihr richtiger zum Stolpern, dazu die komplizierte Endung; der Dolmetscher lachte brüllend von vorn. Also? Beließ sie es bei diesem Stummel, freundlich wie ein Vorname. Hinter der Pappe, merkte sie, schwieg das Mädchen mit verkniffnem Mund. 
Durch Mangobaumalleen an Kokosnußbergen vorbei rasten sie den geraden Boulevard hinunter zum Hafen, den sie aber nur roch; Fisch und Kot, obwohl die Fenster geschlossen waren. Über allem leuchtendes Blau.
Hinter der Festung, die das Museum war, lag in der Ferne anstelle des Flusses eine weite Fläche aus Schlamm.
Sie schaute lange dort hinüber.
Ebbe, flüsterte ihr der Dolmetscher gegen die Wange, bevor einmal im Jahr die Springflut kam. Wann? Ein Wort, geheim, in seiner Sprache. Sie lachte, aus Gewohnheit, so ließ sich ja nichts erwidern, ging schwitzend ins Haus, den andern hinterher.
Wie still das Installationsmädchen drinnen in die Kartons griff. Überrascht sah sie auf die ausgepackten Schläuche, kilometerlang und durchsichtig; eine plötzliche Ahnung beschlich sie, das Mädchen hätte eine Lösung gefunden – zuversichtlich richtete es sich ein in dieser selbsterdachten stummen Welt aus Schlauch, der eigenen. Sie hockte sich erwartungsvoll dazu, um das Gummizeug mit herauszuheben; sie begriff ja schon. Aber als sie dem Mädchen komplizenhaft zunicken wollte, sagte es nur, es bräuchte noch Stecker mit drei Anschlüssen und schickte sie und den Dolmetscher für die Besorgung fort.
Über aufgerißne Straßen folgte sie ihm durch die Stadt, lief durch schrille Musik, vor jeder Tür eine Lautsprecherbox, daneben Campingtische, auf denen es klingelte und sirrte. Man rief ihnen hinterher, rannte ein Stück mit, hielt ihnen was hin. Menschen, manche wie halb, streckten ihre Hände aus. Jemand schlug brüllend auf einen zappelnden Sack. Zu allem gab der Dolmetscher Erklärungen, aber sie zeigte nur auf ihre Ohren und schüttelte den Kopf. Erschöpft hängte sie sich schließlich an ihn, und gleich drängte er sie in eine enge Wechselstube hinein, wo sie tat, als müsse sie sich setzen, unbedingt. Sie ließ sich eine Weile gut zureden, er streichelte sie. Nur ein wenig machte sie sich los: Warten wolle sie, danach vielleicht zum Fluß. Der Dolmetscher lachte im Weggehen breit unter seinem schwarzen Haarhelm; wieder baumelte ihr Wille als schlaffes Seil in ihr. Es festbinden, dachte sie müde, und: zum Beispiel an Kähnen, märkischen Kähnen, einem ganz bestimmten märkischen Kahn vielleicht, auf dessen hitzigen Planken sich im Sommer doch herrlich die Gliedmaßen verknäueln ließen – Von draußen hielt ihr ein Kind grinsend ein paukeschlagendes Plastiktier vors Gesicht.

Zwar lag das Haus Der Elf Fenster auf der Rückseite der Festung an der Mündung, aber keins der Fenster ging auf den Fluß. Draußen, im blütenwuchernden Garten des Restaurants versperrten Schirme die Sicht. Sie bereitete den Dolmetscher für den Abend vor, erklärte Zieten und Husarenstrategie, auch leichte Kavallerie und  schlachtentscheidende Angriffswaffe. Dann wie die Liegnitz hundert Jahre später in der morganatischen Ehe traurig hinter den echten Königinnen zurückstand. Der Dolmetscher rührte mit dem Strohhalm in seinem bunten Getränk. Morganatische Ehe? Er rückte dicht heran an sie, während sie übersetzte. Er interessiere sich eher für das Wort Ehe. Seine Hand, unterm Tisch, suchte ihr Bein, sie zog nichts weg. Wo liegt eigentlich dieses Preußen, fragte er und lehnte sich in seinem Salonsessel zurück, als vergäße er die Frage schon wieder. Fast beugte sie sich ihm deshalb hinterher. In ihrem Taschenkalender suchte sie die winzigen Landkarten im hinteren Teil. Mit dem Fingernagel zog sie die unsichtbare Grenze Preußens nach. Der Dolmetscher drückte seinen Kopf gegen ihre Schläfe, wie um besser zu sehen. Sie hielt still. Und hier, sagte sie plötzlich und zeigte auf einen Punkt zwischen Paris und Moskau: Buckow. Sie wollte noch mehr sagen. Darüber, daß sich an diesen Namen leichter erinnern ließ als an das dazugehörige Gesicht, daß Gesichter davon, daß man um die Erde kreiste, beständig blasser wurden, ja vielleicht gänzlich verloren gehen konnten, aber sie brauchte zu lang; der Dolmetscher leckte sich über die Lippen. Lo, Lo, begann er. Mit einem einzigen Blick stellte sie sich ihm sofort zur Verfügung. Was sie mit diesen Preußen eigentlich zu tun habe, er fuhr ihr mit dem Daumen übers Gesicht. Sie klappte den Kalender zu.
Weil das Installationsmädchen sie nicht hineingelassen hatte in den Saal, blieb sie mit dem Dolmetscher im Eingangsgewölbe des Museums. Sie ließ sich von ihm durch die Vorhalle schieben und schwieg, über Preußen und alles, was an Seen in diesem Preußen lag, vor allem über den, der doch nur mit einem zu berudern war – all das war ja gar nicht zu erklären. Später, sie wollte gehen und war von der Hitzewand sofort ins Gebäude zurückgeprallt, zählte sie ihm die Städte auf, in die sie mit den Biographien gereist war. Zuerst die, in denen es Häfen gab, dann alle übrigen, und versuchte auch, die Flüsse aufzusagen, die durch sie hindurchflossen. Der Dolmetscher schob bewundernd die Unterlippe vor: die ganze Welt interessierte sich für Reitergeneräle und Fürstinnen. Glück, sagte sie zerstreut; woher sollte er wissen, daß sie sich all das zum ersten Mal selbst aufsagte, sie durchging, diese Orte, an denen es immer jemanden gab, dem sie folgte oder von dem sie sich verfolgen ließ. Und selten kam sie an die Flüsse in ihren städtischen Betonbetten so heran, daß sie in sie hineinfassen konnte.

Statt des Dolmetschers ließ gegen Abend ein Redakteur sie in seinen Wagen steigen. Er hatte sie sofort erkannt, als sie zu Fuß und allein den langen Weg vom Hotel hinunter zur umgebauten Hafenhalle gegangen war, in der man sie erwartete. Ohne das Gewicht ihrer zwei Biographien lief sie schnell, schneller sogar als die O-Busse, die im Schrittempo auf dem geraden Boulevard neben ihr herkrochen. Niemand hier lief so. Sie hatte den Kopf bei seinem Hupen nicht gehoben, also war er quer auf den Gehsteig gefahren, um ihr den Weg zu versperrn. Aber ihre Bücher, fragte er mit ein paar Gesten und sie zeigte beruhigend auf ihren Kopf. Er lächelte. Ihre Hand von der Begrüßung noch fest umklammernd, sagte er ihr die Fragen her, die er für ihren Auftritt vorbereitet hatte. Sie verstünde doch seine Sprache nicht, lächelte sie zurück; sie wechselten in eine dritte; er zeigte ihr die Zeitung, darin sein Artikel mit der Ankündigung für den Abend.
Anstatt an den Kais entlang zur Ausstellungshalle zu laufen, fuhren sie einen umständlichen Bogen bis ans Ziel. Beim Aussteigen erkannte sie in der Nähe ein Frachtschiff, aber man schleuste sie schon in die überhitzte Halle, in der Fischcontainer gestanden hatten. Früher!, erklärte der Redakteur wichtig. Er zeigte auf einen Buchstand: Heute. Wie im Zufall lehnte sie sich gegen ihn, er ließ sich sofort erweichen; zwischen den lärmenden Ventilatorenkästen lachte sie ihm zu: Seitdem es nur noch ein System gibt in Europa, liest man so etwas dort schon lang nicht mehr. Er reagierte nicht.
In der eisgekühlten Vortragsbox aus Glas traf sie den Dolmetscher wieder, auch die Installationskünstlerin, die ihr ernst zunickte. Drei andere hockten in meerblauen Messepullis da.
Niemand mehr kam. Vielleicht weil sie papierlos dasaß, holte der Redakteur eine Gipsbüste des Soldatenkönigs aus seiner Aktentasche und stellte sie auf den leeren Tisch. Zuerst ein Scherz, dann begann sie doch. Die Kälte in dem Kasten war so stark, daß ihre Zähne beim Erzählen aufeinanderschlugen.
Als von Zieten in Oberschlesien blitzartig durch die österreichischen Stellungen gebrochen war, trat noch jemand ein. Der Einheimische ließ sich nieder, fast platzte ihm das Hemd dabei; den Strohhut behielt er auf. Schnaufend, aus halbgeöffneten Lidern hörte er, was sie auf die einstudierten Fragen des Redakteurs antwortete.
Am Ende, so war es immer, zitierte sie die Liegnitz, die gerettet vor den steinewerfenden Revolutionären in Schandau saß: Ich danke Gott, daß ich keine Rolle zu spielen hab. Sie lachte über diesen Witz, aber niemand sonst. Sie wollte schon aufstehen, wenigstens lehnte sie sich wie nach getaner Arbeit zurück, aber jetzt begann der Mann mit dem Hut zu reden. Der Dolmetscher, dicht neben ihr, übersetzte mit einemmal angestrengt in ihr deutsches Ohr: Warum hatte denn sie, aus dem großartigen Land, nicht über die zwei wichtigsten Vorbilder geschrieben, die einzigen Landsleute überhaupt, die es wert waren, daß man über sie schrieb; der Mann wandte seinen Blick nicht ab von ihr: denn hatten Senhor Marx, und der Senhor Engels ja auch, hatten die denn etwa nicht – Ja, antwortete sie sofort, das hätten sie tatsächlich, aber waren die Verhältnisse nicht inzwischen so, daß. Die Kälte kroch ihr die Beine herauf. Daß ihr der Rücken vom Reden immer noch krumm wurde!

Wieder hatte sie sich beim Redakteur festgehakt, wie automatisch ihr die Gesten kamen. Zuerst an seiner Schulter, als er den Trupp zusammenwinkte, hinauslotste, zweiter Teil!, rief er und führte sie ab; dann an seinem Arm, den er lächelnd an ihrer Hüfte kleben ließ. Sie löste sich erst, als das Installationsmädchen im Festungsmuseum schließlich einen Knopf vor dem schweigenden Publikum drückte, weil sie die Sinfonie, die jetzt zwischen den Schlauchhaufen hervordrang, als Antwort auf alles hörte, und auch das Geräusch, mit dem dann Saft durch die Schläuche zu laufen begann; grünleuchtend in dem dunklen Saal gurgelte sich die Flüssigkeit von Schlauch zu Schlauch, bis zuletzt eine einzige Leuchtmasse dalag, sprudelnd und glucksend im Raum. Sie suchte nickend den Blick des Mädchens, aber es überwachte, etwas abseits, die Pumpvorrichtung mit starrem Blick.
Als man hinausdrängte: die Abschlußfeier im Hotel, stellte sie sich wie zum Spiel zu der Taxigesellschaft, stieg dann aber auf seinen Wink hin in den Wagen des Redakteurs, der sofort losfuhr und im Wenden beinah den Dolmetscher erfaßte. Der sah sie von draußen her an und schlug mit einer Fratze gegen ihre Beifahrertür; ein Fluch, der er ihnen mit auf den Weg gab.
Tatsächlich bog der Redakteur bald ab. Zeigte ihr stille Straßen mit Wellblechbuden, hier und da stand noch ein Huhn am Rand, auch Kinder; dann inmitten dieser Dorflandschaft ein Hochhaus, in dem er wohnte, ach, sagte sie, und griff schon ausstiegsbereit nach ihrer Tasche; er fuhr aber weiter, langsam an erleuchteten Bars vorbei, in denen halbnackte Männer Karten spielten, als wolle er ihr damit ein Angebot machen. Der Bürgermeister hatte Kanäle anlegen lassen, dazu zwei Fenster zum Fluß, Schneisen, eins breit und prächtig am Hafen, das andre – er streckte seinen Arm begeistert neben ihrem Gesicht aus: pflanzenumrankt zwischen Hütten im Stadtrandgebiet. Er hielt doch und lief im Dunkeln vor, dort vorn mündete der Fluß, so gewaltig, daß man fünfzig Kilometer weit auf dem Meer noch immer Süßwasser schmeckt, rief er ihr zu, als sie sich nicht vom Wagen wegrührte. Dahinter das Urwalddelta, groß wie ihr halbes Preußen. Ach. Ja. Sie erkannte nichts, in dieser Schwärze.

Die neue Stadtregierung war nach dem Willen der Bevölkerung ins Amt gekommen: wäre nicht der Druck der Massen gewesen! Sie suchte nach einem Augenzwinkern beim Redakteur, aber sein Gesicht war nur offen. Mit ironischer Miene wischte sie die Blätter der Mangobäume von ihrem Cafétisch. Anstatt den anderen aufs Fest zu folgen, hatte er sie auf eine der Freiluftterrassen auf dem Hauptboulevard geführt, wo die Menschen in der Dunkelheit an ihnen vorbeiströmten, als sei es nicht bald Mitternacht. Er blickte sie ernst an.
Von Einzelnen sei eben nichts zu erwarten. Keine Änderung. Nichts.
Dagegen: wenn sich Millionen aufmachten. Auf den langen Weg. Dann. Aber nur so, nur wenn Millionen.
Der vorgezeichnete Weg. Sie schwieg trotzig, so daß der Redakteur für jeden Satz neuen Anlauf nahm.
Überhaupt sei kaum was zu lernen von denen. Von den Einzelnen. Diesen großen Figuren.
Ja, sagte sie schließlich, sie glaube auch nicht daran.
Aber sie habe dem mit dem Strohhut doch was andres gesagt, meinte der Redakteur überrascht. Und die Biographien.
Das seien doch nur Aufträge gewesen.
Er wartete, als hätte sie eben keine Erklärung gegeben. Dann schüttelte er sich hilflos, fast bekniete er sie: Alles führe doch schließlich zu dem einen richtigen Ziel, alle Bewegung der Geschichte.
Was denn für eine Geschichte. Sie hatte die Frage hinausprotestieren wollen, aber eine ganz bestimmte Müdigkeit hatte noch vor den Gliedmaßen ihre Stimme erfaßt. An diesen einzigen großen Raum dachte sie, diesen Geschichtsbottich, in dem alle wild herumfuhrwerkten, in den sie wie alle hineingriff, sich bediente, und zu dem Herausgefischten eine Erklärung abgab, sie oder ein andrer, der vielleicht wieder etwas andres darin sah. Und was übrigblieb von diesem Gedanken war dann nur: Die Biographien hätte auch ein andrer schreiben können. Der Redakteur lachte wie bei einem Scherz.
Dann wollte er ihr die Geschichte seines Landes beschreiben, aber bald gingen ihnen die Vokabeln aus, und er warf nur seine Arme in die Luft, schleuderte eine Granate, duckte sich mit zugehaltnen Ohren, um gleich darauf einer vorbeischießenden Kugel auszuweichen und noch einmal zurückzufeuern. Später auf dem Hauptboulevard wurde er wieder ernst, so daß sie sich alt vorkam. Sie konnte – wie lange ging das schon – nicht mehr so reden, nicht mit demselben Ernst, der ihr irgendwann abhanden gekommen sein mußte, und hielt ihm deshalb nur ihr Gesicht hin, zu dem später, schon auf dem zentralen Busplatz, noch eine Hand kam, dann die zweite und schließlich der ganze erbärmliche Körper, den sie ihm hinhielt wie das letzte, was sie ihm anbieten konnte als Argument.
Als sie unschlüssig voreinander in ihrem Hotelzimmer standen, dachte sie, auch er war nur ein Ersatz, wofür. Sie fragte ihn. Seine Antwort: sie sei schön. Ja, sagte sie erschöpft, und: das ist auch schon alles. Er dachte, er solle sie trösten und griff nach ihr. Sie fing noch einmal an: weil es nichts sonst gab, woran sich denken ließ? Aber er bog ihr schon die Arme auf den Rücken und schob sie gegen die Wand.

Irgendwo unter den Laken lag der Redakteur. Sie verließ das Zimmer, ging in dem nächtlichen Hotel umher, zuerst in den Gängen, dann im Untergeschoß, wo sie noch die Feier roch. Hinter der Glaswand des dunklen Speisesaals lag schwappend der Pool im erleuchteten Hof. Als sie nach einer Tür da hinaus suchte, trieb der Kahn vorbei, nachtschwarz über den See, sie starrte auf die Dollen, darin knarzend das Holz, und den Körper des Rudernden lang wie im Warten auf die Planken gestreckt. In der Stille ging der Fahrstuhl an der Rezeption; das Installationsmädchen, dem eine Weinflasche am Mittelfinger hing, kam erst an der Wand entlang schabend, dann wankend durch den Saal auf sie zu und schlug schließlich stummfilmhaft mit dem Kopf gegen eine da stehende Säule. Als es sich vor sie in einen Korbstuhl fallengelassen hatte, sagte es grimassierend wie bei einer Fremdsprachenübung: You cannot perform in my place. Zweimal wiederholte es das, hielt ihr sogar den Zeigefinger vors Gesicht dabei, bevor es zusammensackte. Sie schaffte das willenlose Mädchen aufs Zimmer. Als es ins Bad gebracht werden wollte, kippte es ihr aus dem Arm über den Wannenrand ins glänzende Emaillebecken; das Mädchen, gleich zusammengekauert, blieb dort, sie stand dabei. Neidisch blickte sie auf den eingekrümmten Körper, der fest und eins mit sich dalag.
Als schleife sie sich selbst an den Haaren zurück, stieg sie wieder hinauf.
Endlich zerspülte, es wurde schon hell, ein Regen die Stadt, daß man sofort die Fenster aufschob und den Kopf draußen ließ. Wildbäche schäumten, rissen abgewetzte Katzenleiber und was herumlag mit sich Richtung Hafen, um ins Delta und weiter in den Ozean zu strömen, wo sie aber träge zerstrudeln und schließlich in der großen massigen Ruhe aufgehen würden, die der Atlantik war.
Unsinnig, etwas als Fluß zu bezeichnen, wenns so weit ist, daß man kein Ufer sieht. In der fremden Sprache ging wohl der Trotz in ihrer Stimme verloren. Denn der Redakteur, noch im Laken, sagte ernst: Eine Frage der Vorstellung. Er wollte auch sonst noch reden mit ihr, bald gab es eine Volksabstimmung, doch sie strengte sich nicht an. Er sah ihre Ungeduld, sagte plötzlich, daß er zu einem Interview müsse, außerhalb der Stadt, danach in die Redaktion. Auch dürfe er, ein Einheimischer, gar nicht in dieser Art Hotel übernachten; er ging.

Schwimmen dränge den Alkohol gut aus dem Körper. Sie hatte in den rotgeäderten Augen des Installationsmädchens, das mit naßverklebtem Haar vom Pool in den Frühstücksraum und an ihren Tisch getreten war, gar keine Verlegenheit über die Nacht erkannt. 
Ich heiße natürlich nicht Lo, versuchte sie plötzlich irgendwas.
Aber das Mädchen: Ob sie denn nun auch abreise. Ja, ja, machte sie wie ein Automat, weiter nach Süden, in die deutschen Siedlungen, zum Preußenjahr. Das Mädchen mußte weiter nach Asien. Da könne es ja gleich hintenrum fahren, lachte sie, aber das Mädchen flog tatsächlich so um den Globus herum.
Wie selbstgewiß dieser Körper in der Wanne gelegen hatte, gestern nacht.
Sie fragte schließlich, was denn mit den Schläuchen gemeint war. Sofort setzte sich das Mädchen aufgeregt hin: Besonders schwierig sei es, die Flüssigkeit gleichmäßig durch die Schläuche zu schicken, auch erhitzten die Leuchten das Material, so werde alles gedehnt. Und wenn ein Schlauch erst platzt. Aber Schuberts Sinfonie? blieb sie, schon wütend, bei ihrer Frage. Das Mädchen schloß die roten Augen und blieb reglos sitzen. Wie im Schlaf. Kompliziert an der Installation sei der Abbau, meinte es schließlich, als sie schon die Fäuste gegen dieses verriegelte Gesicht ballen wollte. Die Flüssigkeit zurückzupumpen. Zuerst dachte sie, der Satz brächte alles in einen Zusammenhang; sie machte doch eine Faust, hieb aber nur zum Abschied auf den Tisch damit.

Sie kam nicht weit; ihr letzter Tag. Alle Straßen hinunter zum Hafen, wo sie sich wenigstens die Kähne anschauen wollte, die sicher verwaschen bunten Kähne auf der Schlammebene, die der Fluß bei Ebbe hinterließ, schienen gesperrt. Sie wartete in einem Taxi auf einer verstopften Magistrale, auf die immer noch mehr Taxis auffuhren, die sich ineinander verkeilten und millimeterweise vorwärts schoben, bis das große blecherne Gewirr endgültig zum Stehen kam. Keines hupte. Eine große Stille lag über der breiten hitzigen Straßenflucht. Als sie endlich aussteigen wollte, war die Tür in der Enge nicht mehr zu öffnen; sie blieb eingesperrt in den Kasten, neben sich ein Fenster- und Wagenlabyrinth. In die Stille hinein, in der aus unbekanntem Grund alle verharrten, drang von weit her das Geräusch einer Kundgebung. Sie reckte sich, sah über den Taxidächern Teile von Transparenten, eine Fahne, zwei Mützen flogen.
Ausgedörrt kam sie ins Hotel zurück, wo sie sofort die Vorhänge zuzog und sich einrollte auf dem Bett.
Als es gegen Abend klopfte, war ihr das wie eine Rettung, zu der sie ohne Zögern die Tür aufriß.
Der Dolmetscher stand in der Tür, sie schickte ihn nicht weg. Ließ ihn nur im Raum stehen, während sie sich selbst in einen Sessel warf. Der andere, in Buckow, kam es ihr sofort in den Sinn, kreiste in seinem Kahn womöglich wild über den See und zerschlug mit dem Ruderholz grimmig die Wasserdecke bis zum Morgengraun. Hier wären es noch Stunden bis dahin; sie stand schon wieder auf bei dem Gedanken und strich dem Dolmetscher über die Brust, als hinge er auf einem Bügel. Erfreut über diese Geschwindigkeit zog er sofort an ihrem Haar. Mechanisch streichelte sie weiter, vollzog alles mit einer abgekehrten Geschäftigkeit, ohne aber aufzugeben.
Nachts ging das Telefon, Alemanha, kündigte der Rezeptionist ihr das Gespräch an; sie kroch über die kalten Kacheln vom Dolmetscher weg. In der Zimmerecke hockend wartete sie, bis es deutlich von Buckow herüberknackte. Sie erzählte: die tropische Hitze, diese tropische Schwüle, der tropische Verkehr hier in der Stadt, die man mit ihrem Gewühl und den breiten Kirchenportalen vor allem vergleichen könne mit – Aber mehr als das Reden war ihr Schweigen in der Leitung zu hören. Das Schweigen darüber, daß es kein Zögern mehr gab. Niemand zögerte ja mehr, und so wiederholte sich alles, mußte sich alles wiederholen, und zog seine endlosen Schleifen durch ihre Leben, als seis so festgelegt. Das Schweigen wuchs, blähte sich auf und war plötzlich in allen Leitungen zu hören, in denen sie je geschwiegen hatte und von denen die Erde umschnürt war wie ein Ball im Netz. Und vielleicht weil es keine Lücke mehr gab darin, wurde dieses Schweigen verstanden, denn von Buckow herüber wurde dreimal sehr ruhig ihr Name wiederholt. Sie brachte noch einen gewohnten Abschied zustande.
Eine Weile kroch sie noch durch ihr desinfiziertes Zimmer, bis ihre Gelenke blau von der künstlichen Kälte warn.
Der Dolmetscher lag wie der Redakteur gelegen hatte, ein stummes Bündel, in Laken gewickelt, das schlief. Sie stieg schon zurück, als sich plötzlich eine lange Kette solch gebündelter Gestalten im Raum ausspann; eine Kette, ausziehbar wie Scherenschnittpuppen sich ziehharmonikagleich zu langen Wimpelreihen ausziehen ließen, eine an der nächsten klebend, Dolmetscher und Redakteure, auch andere, unterschiedlich gefärbt, aber alle Teil dieser langen bunten Kette, unendlich durchs Zimmer gedehnt. In der aber einer nicht vorkam.
Sie jagte den Dolmetscher hoch, sagte ein paar Schimpfwörter auf, als er nachfragte, boxte sie ihn nur. Er lächelte, weil er ihr Geschrei für ein Spiel hielt, schrie sogar zurück. Aber sie hörte nicht auf, so daß er vor Ratlosigkeit bei seinem Rückzug weiter nichts tat als ein paar Filmgesten.

Kurz nach ihm ging sie selbst hinaus, über sich einen halben Mond, und stierte böse die leere Straße hinunter. Betrachtete ihre Hand, die eben noch den Hörer gehalten hatte. Verzweifelt schrammte sie damit an der Hotelmauer entlang, aber der Sockel war marmorverkleidet.
Alle Bewohner der Erde senkten gleichzeitig den Blick. Sie war ja immer nur sie in ihrer ersten Version, die nach allem langte, als wärs ein Plan und nicht bloß eine lose Masse, die jedem hingeschüttet war.
Sie griff sich an den Kopf wie nach einem Versehen, das man fast schon amüsiert über die jahrelange Blindheit plötzlich kopfschüttelnd korrigiert.
In Richtung Hafengestank und Mündung; mit großen Schritten wie gegen Wind lief sie nun, nahm für das restliche Stück Boulevard zuletzt noch einen Nachtbus. Mit geweiteten Augen betrachtete sie die fremden Formen um sich herum. Jetzt lächelte sie sogar, als weiter hinten ein Betrunkner aufstand und gegen die Haltestange pinkelte. Nichts griff sie mehr an. Der da, wußte sie, hatte noch keine Ahnung.
Wieder an der Rückseite des Festungsmuseums bog sie in die dunkle Gartenanlage des Restaurants, in dem noch getanzt wurde. Suchte einen Weg zum Wasser, aber alles hier war auf Pfähle oder Mauern gebaut, daß man immer auf Aussichtspunkten stand. Dann fand sie einen begehbaren Abhang, unten am Flußufer lagerten Einheimische auf breiten Fährflößen, wohnten vielleicht da. Sie fragte den ersten. Er fuhr nicht, natürlich, wollte nicht fahren und zeigte in der Dunkelheit auf die unruhige Flut und ihr einen Fisch, dem er mit einem Klappmesser die Schuppen abschnitzte. Ohne von ihm wegzublicken umfaßte sie ihr Handgelenk, da wo die Armbanduhr saß; er stakte sie doch ein Stück hinaus, ließ das Floß aber festgemacht. Eine Weile zappelten sie an der Leine in der Strömung herum. Als sie so wie ausgemacht mit ihrer Hand ins Wasser griff, ließ der Mann einen kehligen Laut hören. Er zeigte: Fische, und biß sich lachend die eine Hand ab mit der andern. Dann starrte auch er übers Wasser hin. Sie schaukelten auf dem stumpfen steigenden Schwarz herum, im Genick die Restaurantmusik.
Das Floß, als sie das Seil mit dem Messer zerschnitt, kreiste schlingernd einmal um sich selbst und glitt dann sofort wie angetrieben los. Obwohl sie so rasch fortgezogen wurden, daß aus dem Ufergeplatsche schon nach Sekunden ein einziges großes Strömen durch die Nacht wurde, stand der Mann stumm da, die Arme hingen herunter. Erst nach Metern drehte er sich ruckartig zu ihr herum, lief dann doch übers Floß und hockte sich mit aufgerissenen Augen vor sie hin. Merkwürdig langsam wie ein Flehender hob er die Hand gegen sie. Aber über ihr riß schon die Nacht auf mit einem Geräusch.
Auf dem vierzehnten Längengrad bog sich das Buckower Land unter einem Hitzehimmel. Unter ihr der klare Grund; hinter Schilf und Kiefern zog Brechts Sommerhaus vorbei, als in der Stille des leeren Sees knarrend der Kahn neben ihr hertrieb. Der Ruderer darin mit abgewandtem Kopf. Sie kniff die Augen zusammen, beugte sich weit vor und starrte auf die Rückseite dieses vertrauten Schädels, streckte, schon kippend, erst den Arm, dann auch die Finger nach ihm aus. Mit dem ganzen Körper streckte sie sich, dehnte sich zu einem einzigen langen Arm, der den weggedrehten Hals des Rudernden fast griff. Sie brauchte ja nur rufen, ein einziger kurzer Ruf, und er bekäme sein Gesicht.