Bachmannpreis ORF.at Texte
FR | 11.02 | 15:51
Barbara Bongartz (Bild: Johannes Puch)
Barbara Bongartz
Karpfen grün

KARPFEN GRÜN
Der Fisch sah ungewöhnlich aus. Das Gericht, das er vorstellen sollte, heißt Karpfen blau. Man kann das auch mit Forelle machen, ich habe später im Kochbuch nachgesehen. Nachdem man ihn erschlagen hat, läßt man den Fisch in heißem, nicht kochendem Wasser sieden, bis er blau anläuft, ein Färbungsprozeß, den man bei Menschen nur kennt, wenn sie erkalten. Man serviert das zuvor mit Milchbrot gemästete Tier an zerlassener Butter, neuen Kartoffeln und frischem Gemüse. Ich fragte mich, ob es mit der besonderen Zusammensetzung ihres Blutes zusammenhängt, daß diese Fische blau anlaufen, wenn man sie erhitzt.
Dieser hatte die falsche Farbe. Er war grün, als hätte er den Span einer Bronze angesetzt, die seit Jahren auf einen Sockel gebettet im Garten liegt. Span hätte auch gut zu seiner Attitüde gepaßt. Attitüde, sage ich, weil mir dunkel bewußt war, daß nicht jeder Karpfen so in einer Schüssel liegt. Er sah aus, als hätte die Hausfrau ihn hingedreht, den Schwanz extra aufgestellt, so wie ein Bildhauer der Tonstudie zu seiner Skulptur noch den letzten Schwung verleiht. Der Schwung lag hier im Schwanz. Über den Leib war ein dichtes Knäuel aus Kräutern gedeckt. Meine Mutter pflegte so die toten kleinen Vögel, die im Frühjahr manchmal aus den Nestern fallen, zu bestatten. Grün wie er da lag, drängte sich mir außer anderen, nicht so schönen Gedanken die Frage auf, ob er vielleicht gar kein Fischblut in sich gehabt habe, sondern anderes Blut. Was sonst mochte der Grund der falschen Farbe sein?
Ich wußte, er war nicht am selben Tag geschlachtet worden. Zumindest schenkte ich Meggi darin Glauben, weil sie viel zu mitfühlend war, ein Tier eigenhändig zu erschlagen. Sie kannte nicht einmal aus Erzählungen die Schweinerei, die es macht, einen Karpfen zu töten. Nicht, daß ich je Erfahrung damit gehabt hätte. Ich mochte Karpfen nicht, wahrscheinlich, weil bei uns in der Familie niemand ein Faible für Allesfresser hatte, außer meiner Tante Gerda. Tante Gerda schwärmte für fette Fische, und da sie jung und frisch sein mußten und gut gewässert, hielt sie die Tiere, bevor sie gnadenlos unter den Hammer kamen, einige Tage in der Badewanne. Alle mußten währenddessen duschen, was Eliza, meine sehr viel ältere Kusine, besonders störte. Sie liebte damals schon, als ich noch nicht einmal wußte, was ein Badeduft war, kochend heiße, schaumgekrönte Bäder. Natürlich kam bei meiner Tante der Karpfen Weihnachten dran, und da Eliza nicht baden konnte, war ihr Jahre später noch Weihnachten so verhaßt, wie es das sonst nur den orthodoxen Eltern längst assimilierter jüdischer Nachkommen ist.
„Weihnachten treibt mich wie Vieh unter die Duschstation“, maulte Eliza, die nicht nur gern badete, sondern auch gern gut und am liebsten fettfrei aß. Sie liebte es ebenso, sich nach einem langen, ausgiebigen Schaumbad schön anzuziehen. Soviel Sinn für Eleganz mußte vor einem so häßlichen Blauknochen kapitulieren.
Von der Tante mit dem Geschmack am fetten Fisch und ihrer Tochter Eliza also kannte ich die Schlacht um seinem Tod. Karpfen, selbst kleine, sind zu kräftig, um tonlos zu sterben. Auch wenn sie tot sind, hängen die Nerven noch dem Leben nach, das man ihnen gerade aus dem Leib gebleut hat. Das tote Schuppenmonster wehrt sich auf, wie Tante Gerda sagte, Deuwel komm `raus. Aber es war nicht der Teufel, der aus ihm spritzte, sondern das Blut. Und das sah dann aus, als hätte man im Bad eine ganze Rinderherde massakriert. Eliza kreischte jedes Jahr, sie würde keinen Fuß mehr in diesen Schlachthof setzen, und tatsächlich zog sie nach einigen Jahren Karpfen ihre Konsequenz und in dieser zu ihrem Freund, einem jungen, begüterten, etwas bornierten Anwalt, den weder Tante Gerda noch Onkel Hans leiden konnten. Das Schwein unter den Fischen hatte die Familie meiner Tante versprengt.

Es war ein Sonntagabend, der erste im Jahr, genauer gesagt der zweite Januar, und der Karpfen lag schon, wie Meggi mir bei unserer Ankunft versicherte, seit dem Tag vor Sylvester draußen im Gras. Es war ein warmer Dezember gewesen, die ersten Tage im Januar wurden noch wärmer, die Temperaturen stiegen fast frühlingshaft an, und das Tier, so Meggie, sollte sich noch einige Zeit tot und allein im Gras amüsieren können, während das alte Jahr in das neue überging und der erste Januar der erste Tag der Ruhe nach den vielen Fest- und Familientagen war. Der Sonntagabend war der Abschluß all dieser Vereinigungen, deswegen kam bei Meggi der Glücksbringer am Sonntag auf den Tisch.
Ich wagte nicht, ihn genauer anzusehen, nachdem ich seine falsche Farbe erkannt und den verbogenen Schwanz bemerkt hatte. Ich wagte ihm erst recht nicht in die Augen zu blicken, und doch meine ich mich, fälschlicherweise natürlich, zu erinnern, daß sein Blick trüb und gebrochen war. Ich hatte schon vorher nicht gewagt, mich umzuschauen, und erst recht nicht, jemandem in die Augen zu sehen. Ich fürchtete, mein Blick könnte mich entlarven, hätte gezeigt, wie sehr mir die Sache mit dem Fisch zuwider war, obwohl ich das dringende Bedürfnis eines direkten Blicks verspürte, stechend und klar in der Farbe und so scharf, daß ich mich davon unmißverständlich hätte getroffen fühlen müssen, ein Blick, der quer durch den Raum eindeutig mir galt und so genau zielte, daß er mich hätte töten können, hätte er nur gewollt.
Aber hier wollte niemand töten, den Karpfen nicht und einen Menschen schon gar nicht. Hier war alles ganz familiär, so fein gewebt und warm überzogen, daß ich nur stoffliche Begriffe dafür finden kann. Eine Atmosphäre an große Gewebe gemahnend, in dem noch die Rohstoffe erkennbar sind sowie Kette und Schuß nur locker angeschlagen, lag über, um und unter uns, hüllte uns ein und umgab uns, als seien wir bedürftig wie ein entblößter Körper. Uns alle, und so, wie wir da saßen, waren wir ganz schön viele, die den Abschluß der Feierlichkeiten begingen, hüllte die Decke ein.
Vor dem Hauptgericht hatte es erst eine Suppe gegeben. Gelbe Gemüsewürfel badeten darin, an der Oberfläche schwammen kleine, grobkörnige Sprenkel. Es war schwer zu bestimmen, wonach die Suppe schmeckte und was sie wirklich enthielt. Ursprünglich hatte sie wohl auf der Basis einer klaren Brühe begonnen und war dann, obwohl nicht püriert, nach und nach in einen trüben Zustand geraten. Ein plötzliches Mißgeschick? Ich mußte warten, notgedrungen, und weiter essen, den zweiten Gang, um mir ein Urteil bilden zu können, was hier vor sich ging. Ich hatte es immer noch nicht kapiert, obwohl ich nicht zum ersten Mal hier aß, aber ich aß hier eben auch für ein schnelles überzeugendes Urteil bei weitem nicht oft genug. Es war unmöglich, nach einer Suppe die ganze Lage abzuschätzen, als stünde ein einzelner Krieger für das ganze Heer und noch dazu für die Absicht des Angriffs und den Hintergrund. Ich bitte Sie, hat Clausewitz bei seinem Werk etwa an einen einzelnen Soldaten gedacht? Schrieb er nicht von Taktik, Strategie und einer ganzen Maschinerie, die es in Gang zu setzen und zu halten gilt?
Ich weiß nicht, wieso ich an Krieg denken mußte, wo doch alles so friedlich war. Es wurde vor der Suppe gebetet, das vergaß ich zu sagen. Vielleicht war ich dabei, nach den innigen Tagen den Krieg heraufzubeschwören, weil das seit Jahren in Deutschland zu Weihnachten Mode ist. Es gehört zum guten Ton, sich schlecht zu benehmen, die Explosion der Gefühle zu fördern, den Haß zu schüren, der unter den Teppichen und unter der Haut das ganze Jahr und das ganze Leben und die ganze Familienlinie lang schwelt. Offenbar konnte ich es nicht ertragen, daß es hier nicht so war. Ich wollte, daß der Karpfen, obwohl er längst erledigt war, sich so lange wehrte, bis sich der Teufel zeigte.
Ich hob, das war bei dem zweiten Gang, Weizengrütze mit einer rosa-gelb durchsetzten Pastete, deren Ränder die Farbe des bald folgenden Fisches vorwegnahmen, vorsichtig meinen Blick und sah ihr in die Augen. Margarethe, Meggi genannt, meine Schwiegermutter. Nein, das ist nicht wahr, zur Zeit des grünen Karpfens war sie noch nicht meine Schwiegermutter und der Mann, dessen Mutter sie war und den ich liebte und der unwillig der Vater meiner Tochter Sophia wurde, war noch am Leben.
Meggi erwiderte freundlich meinen Blick, und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob es Sebastians Augen seien. Sie hatte ein kleines weißes Korn im linken Mundwinkel kleben und schien es nicht zu merken. Niemand sagte etwas. Es war nicht üblich, solche Dinge zu erwähnen in dieser Familie. Nie hatte Sebastian mir auf Empfängen gesagt, ich hätte Lippenstift an den Zähnen. Vielleicht sah er es nicht, vielleicht sahen die anderen es auch nicht, daß Meggis Mund mit Bulgur besprenkelt war, oder sie mochten es, weil Meggi, die Hausfrau und Mutter, ihnen beigebracht hatte, daß nichts dabei war, wenn sich alles mit allem vermischte und verklebte, Gesicht mit Grütze und Lippenfarbe mit Zähnen und Fleisch. Meggi sprach und verschoß weitere kleine weiße Körner, ähnlich ihrem Mann, der neben ihr saß und mich nie ansah. Er mied meinen Blick, als fürchtete er, sich daran zu versengen. Meggi sprach über Sandra, und währenddessen sagte Karl, ihr Mann und Vater der sechs Geschwister, „Schmeckt gut, Meggi, hast dich mal wieder selbst übertroffen, ganz köstlich. Ich möchte noch etwas davon.“
„Nicht so viel, Kalle, da kommt noch der Fisch.“
Ich blickte auf die Weizengrütze. Salz fehlte. Ich wußte nicht, was diese Grütze sollte, aber ich hatte inzwischen gelernt, warum sie so war, wie sie war. Alle Gewürze des zweiten Gangs hatte die Pastete abgekriegt. Nachlässigkeit? Meggi kochte allein. War der Geschmack ihr egal? Sie servierte allein und räumte auch alleine ab. Sie wollte nie, daß man ihr half. Worauf kam es ihr an? Sebastian ging einen Augenblick, wie er sagte, hinaus, um zu telephonieren. Ich sah Sabrina an, unsere schöne Tänzerin, sah ihr in die tiefen dunklen Augen, die sie von Karl hatte, nichts von Meggi darin. Ich versuchte ihr so lange in die Augen zu sehen, bis Sebastian wiederkäme, ein heilloses Unterfangen, denn Sebastian war immer zu spät. Als er endlich wiederkam, war der eine Augenblick zu einem langen Starren mit flatternden Lidschlägen verschwommen.
„Deine Freundin hat Falteraugen. Sie starrt mich an, als müßte sie einen Dämon in mir bannen“, sagte Sabrina und trank ihr Wasser in einem Zug aus, dieses schöne Mädchen, das so begabt war in der Bewegung und eine böse Seele hatte, die alle für braunen Zucker hielten.
Ich hatte sie einmal nur tanzen sehen und mich gefragt, wie sie an diesen zarten Körper gekommen war. Die Sehnen, das war schon klar, waren wie die Augen von Karl, aber woher hatte sie die Feingliedrigkeit und die Anmut der Bewegung? War Karl auch einmal so gewesen? Hatte das Alter ihn nur so gedrungen werden lassen, und die Nachlässigkeit, in der Haus und Garten verfilzten, ihm den Mut genommen, schön zu sein? Ich tastete nach Sebastians Hand, die sich sofort wie eine kleine Schlange um meine legte, den Schwanz verknotet unter dem Kopf, bereit, sich vor aller Augen an mir niederzulassen und in meinen Körper zu kuscheln. Ach, was sage ich, vor aller Augen, aller Augen sahen ja nichts. Nicht einmal die Farbe des Fisches erkannten sie.
Karl tranchierte. Ich sagte ihm, das sei Sache des Hausherrn, denn das Comme-il-faut in dieser Familie bestimmte ich, obwohl Sebastian und ich gar nicht verheiratet waren.
„Nur ein ganz kleines Stück, bitte“, sagte ich und versuchte, meine Zunge vor der Farbe des Fisches zu panzern, wenn ich auch nicht wußte, womit. Brot war keines da. Ich trank einen Schluck Wein und überlegte, den ersten Happen direkt mit einem weiteren Schluck herunterzuspülen, so zu tun, als schwämme der Karpfen in mich hinein, ohne ihn beißen zu müssen, denn immer, wenn ich an diesem Ort in etwas biß, hatte ich den Eindruck, in das Haus samt seiner Geschichte und all den Geschehnissen, die sich darin ereignet hatten und niemals ausgeräumt worden waren, zu beißen, als Meggi Sandra und ihre Liebe zum Cello erwähnte.
„Was meinst du dazu, Emma“, fragte Sascha, der neben mir saß und dem ich unmöglich in die Augen hätte schauen können, ohne zu schielen.
„Ich verstehe nichts von Musik.“
„Aber von Tanz versteht sie etwas“, zischte Sabrina. „Von Bewegung, nicht wahr, und von Rhythmus und Stillstand versteht sie auch etwas. Sie versteht mehr, als sie zugeben will. Ich habe sie gesehen, als sie mich betrachtet hat, unten im Zuschauerraum während der Probe, und ich habe gesehen, wie sie Sandra betrachtet hat auf der Hochzeit von Severin, als Sandra Cello spielte. Emma sieht mehr als wir alle zusammen und rückt nicht damit heraus.“
„Sabrinchen, ich bitte dich, nicht so wild.“
Sabrina schob das Stück Fisch, das ihre Mutter ihr zusammen mit der Mahnung auf den Teller gelegt hatte, auf die Platte zurück und bat um eine Möhre. Die Mahnung durchzog den Raum. Da sie bei Sabrina nicht hatte andocken können, mischte sie sich unter die allgemeine Atmosphäre und wob sich in den Stoff, der uns wärmte. Genauso, dachte ich, ist die Pastete entstanden. Folgte die Zusammensetzung der Speisen einem Plan? Ich sah verstohlen in die Runde. Alle sprachen eifrig, alle aßen mit großem Appetit. Ich hielt mich an die Kartoffeln. Wie der Weizengrütze fehlte ihnen das Salz. Der Fisch hatte alles geschluckt, vielleicht ist er deswegen oxydiert, dachte ich stumm und ärgerte mich, daß ich im Chemieunterricht nicht aufgepaßt hatte. Ich paßte überhaupt nie genug auf. Und so hatte ich nicht mitbekommen, daß längst wieder über Sandra gesprochen wurde.
Ich sollte sie alle einmal beim Namen nennen, nacheinander, sie aufschreiben, mit Etiketten versehen, auswendig lernen und noch einmal abschreiben. Wie oft habe ich das gedacht, ohne dergleichen getan zu haben, angefangen mit Sebastian, dem ältesten. Dann kam Sidonie, die links neben ihrem Vater saß, weit weg vom Tisch entfernt, zwischen ihrer Wirbelsäule und der Kante lag der Fötus in ihrem Bauch, achter Monat. Ihr Mann war in Rom geblieben, er mochte deutsche Weihnachten nicht.
Der dritte in der Geschwisterreihe war Sascha. Er wirkte wie ein Jüngling, zart. Man sah es ihm kaum an, daß er Frau und Kinder hatte. Sie waren bei seinen Schwiegereltern und warteten dort sehnsüchtig auf ihn. Über seine Ehe kann ich nichts sagen. Sandra, über die alle sprachen, war sein Zwilling, aber inzwischen Lichtjahre von ihm und von uns tausend Kilometer entfernt. Wenn Zeit ein Ort wäre, hätte der Rest von Saschas Leben nicht dazu ausgereicht, um zu ihr zurückzukehren und sich mit ihr wieder zu verbünden.
Sandra lebte in einem eigenen Haus, in bizarren vier Wänden aus schrägen, verkanteten Wolken, die als Ausstattung dem expressionistischen deutschen Film zur Ehre gereicht hätten. Aber so etwas wollte heute niemand mehr haben. Sie war zu spät dran und fehl am Platz mit ihrer seltsamen seherischen Begabung, ein Medium zwischen der Wirklichkeit, die ihr Elternhaus nie hatte betreten dürfen, und dem gemischten Aggregatzustand, der in dem Haus am See herrschte. Ich weiß bis heute nicht, ob irgend jemand von ihnen wissen wollte, wieviel sie in ihrem Wahn von der Wahrheit wußte, und ob man sie deswegen für verrückt erklärte, oder ob sie an der Wahrheit und der daraus resultierenden Einsamkeit in der Familie irre geworden war.
Severin, der frisch gebackene Ehemann mit zweiter Residenz auf Malta, hatte eine sehr eigene Art kultiviert, alles zu ignorieren, sofern er nicht selbst darin vorkam. Den letzten bösen Brief, den Sandra einem Familienmitglied verabreicht hatte wie langsam wirkendes Gift, hatte sie an ihn geschickt. Aber Severin kam nicht darin vor, es war von ganz anderen Leuten die Rede, und deswegen wirkte das Gift nicht auf ihn. Seine Antennen orteten zur Zeit ohnehin in erster Linie seine Frau Lydia, die auf Malta geblieben war, um, wie böse Zungen raunten, Briefmarken zu züchten. Tatsächlich war sie Börsenmaklerin und erholte sich von ihrem Job an der Wallstreet. Sie interessierte sich nicht für das spirituelle Leben im Haus am See.
Und dann war da noch unsere schöne kleine begabte Tänzerin mit dem bösen Blut, Fischblut würde ich sagen, wasserkalt und nach dem Kochen blau. Aber niemand würde sie je an die Angel kriegen, denn Sabrina hatte einen betonharten Gaumen und eine scharfe Zunge, die jeden Haken durchtrennte. Als Sascha seinem innigen Zwilling  zugunsten seiner Frau den Laufpaß gab, hatte sie sich der schwer verwundeten Schwester angenommen. Sie allein vermochte die Wahrheit aus den spinnerten Briefen zu lesen und den Spuk zu deuten, der in Sandras Kopf umging. Und manchmal, wenn ich in Sabrinas Schönheit starrte, hatte ich den Eindruck, sie wüßte, daß ich wußte, daß sie weiß. Ich war sicher, sie tüftelte an irgendeinem Plan, wenn ich auch keine Ahnung hatte, an welchem.
Nach dem Fisch kam der Salat, eine neue Schattierung der Gartenfarbe, auch er war wohl im Gras gelagert worden, ein wenig durchsichtig im Gebälk und gelb. Ich sah die schwangere Sidonie vor mir, wie sie eine Zeichnung anlegte, einen der Musterentwürfe, für die sie inzwischen berühmt war, weltberühmt. Man riß ihr aus der Hand, was im Garten lag. Zwischen Paris und New York säuselten die Modeschöpfer hinter ihr her wie Gassenjungen einer nächtlichen Schönen, unglaublich, wer nicht alles bei ihr Order gab. Von Ralph Lauren bis Dolce/Gabbana fragten sie sich, wie diese Nixe ihre Ideen zeugte. Woher kam die Inspiration, der Strich ihrer Zeichnung, schließlich in der Realisation der Rhythmus des Rapports im Gewebe?
Ich sah den Karpfen im Gras mit dem Kräutergrün bedeckt und von Salat umkränzt, angepeilt von den Schnecken, die langsam ihre Spur durch den Dezemberrasen zogen. Die Wärme hatte sie vor dem Tod bewahrt. So fraßen sie von dem, was eigentlich für uns bestimmt war, als machten sie sich vor, damit einen Winterschlaf provozieren zu können wie ein anderes eierlegendes Viech, nur weil der Frost noch nicht eingesetzt und sie hatte verenden lassen. So funktioniert das mit dem Gedanken an die Unsterblichkeit! Ich sah Sidonie, wie sie am Nachmittag aus dem Matsch, der wartete, unser Menü zu werden, Kunst produzierte, sah sie waten durch das regenfeuchte Gras, Perspektiven wechselnd und die Schattierung der Tage einfangend, das Licht und die Luft, die sich auf dem Fisch und seinem Gemüse niedergeschlagen hatten, und sah ein Model im Mantel aus diesem Stoff den Catwalk entlang schlendern ... Ich hörte die Ovationen des Publikums, die nicht der Kreation der Mode, sondern dem Gewebe galten, das dem in Sandras wirrem Kopf wohl kaum so unähnlich war, ein gewaltiger, gewaltsamer, farbiger Rausch.
Zwischen Salat und Nachtisch stand ich auf, von den Augenblicken zu Tisch müde, ging zu den Fenstertüren und sah auf den See. Sebastian trat von hinten an mich heran und umarmte mich. Ich liebte diese Nähe, die Wärme, die von seinem Körper ausging, den langgliedrigen Schlangengriff, mit dem er mich liebkoste unter der Ignoranz anderer Augen. Ich liebte ihn. Es war so schwer, sich aus dieser Wärme zu kratzen, die grenzenlos war.
„Laß uns vor dem Nachtisch gehen, ich bitte dich“, flüsterte ich ihm ins Ohr, ein Jahr bevor er sich erschoß.