Heul
doch!
Mittwochs Sex: Vater pfeift,
Mutter springt, er stöhnt, ich kotze. Donnerstags:
Mutters Predigt. Tu was... wir haben es auch nicht leicht...
Oma ist alt... du bist noch jung... früher war
alles ganz anders... wir sind nicht besoffen... die
Menschen sterben nun mal.
Mein Bruder ist tot. Er starb als Kind, falls das jemand
interessiert.
Freitags, samstags, sonntags: Vater und Mutter saufen
sich zu Tode, alles andere würde sie umbringen.
Montags bin ich drei Jahre alt. Es wird gehätschelt
und getätschelt. Oma legt mir ein Stückchen
Schokolade auf die Zunge, Mutter legt mir den Kopf an
die Brust, Vater steckt mir einen 10er an's Höschen.
Alles andere ist gelogen. Ich lüge, ich bin verrückt,
das sage ich lieber gleich.
Manchmal umarme ich meine Mutter. Ich umarme sie wie
das eine Tochter tut mit ihrer Mutter. Und jetzt sehe
ich sie an und jetzt merke ich es erst richtig, sie
lächelt! Sie lächelt und Oma lächelt
und ich lächle und einfach jeder in diesem Raum,
in unserem Wohnzimmer lächelt, weil wir so glücklich
sind und weil alles gut ist, irgendwie. Heute ist Dienstag,
glaube ich.
Oma hat Namenstag. Ein Grund zum feiern. Mutter stellt
die Flaschen auf den Tisch, schenkt ein, PROST! setzt
an, schluckt. Mein Blick beißt sich in ihr Gesicht
wie ein Insekt.
"Nun guck mal nicht so! Ich trink ein Gläschen
und du rastest gleich wieder aus." Ich habe aufgehört,
meine Mutter zu schlagen.
Ich tanze. Ja, tatsächlich, ich hüpfe, ich
springe, ich tobe, ich fliege, höher, immer höher,
davon gibt es nicht genug! Musik. Eine Stimme jault
mir das Blut aus den Adern. "I wish I was special!"
Ich dreh auf, ich dreh ab, ich dreh durch.
Ein Knall, wie aus der Pistole geschossen! Für
eine Sekunde übertönt er jedes Geräusch,
jeden Krach, jeden Schrei, würgt den Ton der Lautsprecherboxen
ab, danach: Stille. Stille, die meine Taubheit ignoriert,
ich höre wieder... aufs Wort. Die Musik verliert
ihre Melodie, ich den Mut - der Vater ist da. Mit ihm
schreitet hart erarbeiteter Verdienst zu Tische. Wir
rollen den Teppich aus, wir stehen Spalier, wir fallen
auf die Knie. Herbeigelogene Harmonie bekommt den letzten
Schliff: Das große Fressen.
Mutter tischt auf; Vater schlägt zu, Oma keucht
auf mein Essen; ich starre auf den Boden. So hat jeder
etwas davon. Schmeckt's? - Hervorragend! Einmalig! Richtig
lecker! - und für Mutter ist der Tag gerettet .
Meine Eltern: ein Herz und eine Seele. Sie streiten
nie.
Ein unauffällig prüfender Blick nach links.
Mutter: stocknüchtern. Ich bin geschockt! Vor mir:
meine Oma. Sie zieht ein Gesicht, als wären wir
die besten Freunde. Rechts: die Dunkelheit. Das ist
das beste. Das mit dem Glasauge meine ich. Solange ich
sämtliche Versuche unterlasse, mit meinem nicht
vorhandenen Auge zu sehen, stört es mich nicht
weiter. Im Gegenteil, eigentlich ist mir dieses süße,
kleine, unaufdringliche Glasauge sogar recht. Man kann
eine Menge Dinge tun, die mit beiden Augen nur schwer
möglich wären.
Zum Beispiel kann ich mich beim Überqueren einer
Straße von einem Auto oder sonst einem idiotischen
Fahrzeug überfahren lassen, einfach so, ohne dass
ich damit gerechnet hätte. Im Ernst, ich finde
das ganz praktisch, ich finde es geradezu beruhigend,
dieses Kunstauge. So nenne ich es. Kunstauge.
Es ist das einzige, was bleibt. Immer. Ich bin mit hundert
Sachen in einen LKW geknallt, wenn Sie's genau wissen
wollen.
Das bescheuertste ist meine
Dankbarkeit. Ich kann nichts dafür, aber ich bin
tatsächlich dankbar. Und daran hat sich bis heute,
fünfhundert Jahre nach dem Crash, nichts geändert.
Dem Notarzt bin ich dankbar, weil er so schnell zur
Stelle war, den Chirurgen, weil sie mich gerettet haben,
den Schwestern, weil sie so lieb zu mir waren. Ich bin
allen so paradox dankbar, dass ich ihnen am liebsten
um den Hals fallen würde.
Allerdings ist das noch sozusagen harmlos. Absolut krankhaft
hingegen - das sage ich aber niemandem - ist, dass ich
deswegen auch noch anfange zu beten. Einfach so. Das
soll jetzt nicht irgendwie fromm klingen oder so. Aber
ich kann nichts dafür, manchmal tue ich es eben.
Wenn ich nach draußen sehe, zum Beispiel, oder
wenn ich Musik höre, selbst wenn ich auf dem Klo
sitze, tue ich es.
Und dabei fällt mir nicht mehr ein als `danke´.
Danke, dass ich diesen Unfall hatte und danke, dass
ich ihn überlebt habe.
Was jetzt folgt, ist die Krönung,
ist einfach nur noch peinlich: Ich heule. Mit geschlossenen
Händen das Gesicht zusammenhaltend, verbergend,
mit den Fingerspitzen die Augen reibend schluchze ich
mich unter den Tisch. I wish I was special! Von allen
Seiten prasselt es auf mich nieder:
"Kalt kochen kann ich noch nicht!"
"Wie kann man denn auch nur so schlingen!"
"Schnell, Kind, trink wat kaltes."
Mein Wimmern - ein lautloses Geräusch. Weiter nichts!
Der Sinn des Lebens: Das Weißbrot zu essen, bevor
es verschimmelt; die Blumen zu gießen, bevor sie
verwelken; zu erfahren, ob jemand gestorben ist, bevor
es die anderen wissen. Am besten noch, bevor es derjenige
selbst weiß. Das ist die Bedingung, dass jemand
stirbt, meine ich. Keiner aus der Familie oder so, viel
lieber einer aus der Straße oder zumindest aus
dem Dorf. Jemand, den wir zwar kennen, mit dem wir aber
nichts zu tun haben, irgend jemand einfach, soll doch
endlich sterben. Das wäre die Erlösung, wenn
die Nachbarin angerannt käme und tratschmäulig
zum Besten gäbe, dass der alte - ich weiß
nicht wer - tot sei. Einfach nur, damit wir etwas zu
reden haben, damit das hier nicht noch peinlicher wird
als es sowieso schon ist.
Aber es bewegt sich nichts, es passiert einfach nichts,
weit und breit keine Nachbarin, nichts. Wir sitzen einfach
da. An einem Tisch. In einem Boot, sozusagen.
Ich springe über Bord.
Draußen. Ich sehe nach
draußen. Ich starre. Das Fenster zur Nachbarschaft
- eine Blumenpracht. Gebt euch keine Mühe, harkt
und mäht und pflanzt solange und soviel ihr wollt,
es wird euch nichts bringen, wir und unser Garten sind
in keiner Weise zu übertreffen. Wir sind ganz einfach
perfekt. Das Bild verschwimmt. Ich sehe in die Zukunft
- bis zum Ende der Woche. Ich sehe Sonntage. An Sonntagen
wird der Tisch mit einer blütenreingepflegten Decke
überzogen, alles strahlt und funkelt, vom Geschirr
bis zum Zahnersatz. An Sonntagen wird die Flasche zum
Fläschchen, das Glas zum Gläschen, der Tropfen
zum Tröpfchen, Prost zum Prösterchen, ich
werde zum Mäuschen. An Sonntagen wird aus dem Speckläppchen
ein Filet, der Tisch wird zur Tafel, jedes röhrende
Rülpsen zum dezenten Aufstoßen. Es ist alles
in feinster Ordnung. Trotzdem danken wir Gott an Sonntagen,
wenn kein Fußballspiel im Fernsehen läuft
und wir beten, dass Steffi ihren Matchball verwandelt.
Aber es könnte schlimmer sein. Mittlerweile muss
Oma nicht mehr um das gute Essen heulen. Sonntage sind
keine Schweinerei mehr, die Gabel findet ihren Weg zum
Mund, Kristallgeschirr übersteht Mutters Hürdenlauf
von Küche bis Esszimmer. Trotz Tunnelblick! Übung
macht den Meister. An Sonntagen zeigt meine Stereoanlage,
was sie kann.
Die Eltern sind ziemlich cool drauf. Kein "mach
die Musik leiser!". Kein "räum dein Zimmer
auf". Kein "hast du deine Hausaufgaben fertig?"
- und wenn ich nach Hause komme, war ich gar nicht weg.
Ich habe Aids. Es fällt mir nicht leicht, das zu
erzählen, aber ich möchte es jetzt mal rauslassen,
wenn das erlaubt ist. Keine Ahnung, bei wem ich mich
angesteckt habe. Ich hatte eben, was meinen Hüftbereich
angeht, eine Menge zu tun. Was soll ich machen, es ist
nun mal so, ich kann es nicht ändern. Tatsächlich,
ich bin todkrank. Panik ist allerdings nicht angebracht,
immerhin hab ich noch ein paar Jahre, man sieht mir
nichts an. Und ich lasse mir auch nichts anmerken, ich
meine, ich heule nicht rum oder so, ich sage es niemandem,
solange, bis es zu Ende ist. Aber ich werde garantiert
nicht warten, bis mein Körper zerfällt, nein
danke. Es wird mir auch wohl niemand übel nehmen,
wenn ich mir...
Für meine Mutter wird das bestimmt eine Qual. Noch
weiß sie von nichts, aber irgendwann werde ich
es ihr nicht mehr verheimlichen können.
Zurück zur Tagesordnung!
Oma leidet von der Küche zum Wohnzimmer zur Tür
herein. Ein schluffender Schritt übertrumpft den
nächsten, ein Stoßgebet folgt dem anderen.
Dein Reich komme, gesegnet sei der Herr, voll der Gnaden.
Amen. Auf meiner Jeans landet eine Fliege. Darunter
ein vertrockneter Marmeladenfleck.
"Ik kann nie mehr!"
Erdbeer glaub ich.
"No gon´k dor sette en dü nex mehr!"
Brötchen mit Erdbeermarmelade, heute morgen.
"Nex!"
Is mir gar nicht aufgefallen, dass ich da geschlabbert
hab. Na, wenigstens die Fliege hat ihren Spaß.
Krabbelt hektisch auf meiner Hose herum. Hier und da
ein kurzer Zwischenstopp. Tastet mit ihrem kleinen Rüssel
jeden Quadratmillimeter meiner Beine ab.
"Durst hab ich."
Ja, saug mich aus! Ich sehe zu, geduldig, gleichgültig.
"Hier oben is gar kein Wasser mehr."
Dann hebt sie ab. Summ - Summ, unruhige, abgehackte
Flugbahnen. Ich versuche ihr zu folgen.
"Oder is da noch wat?"
Hoch, runter, rechts, links! Wo will sie hin?
"Geh ma gucken!"
Verdammt, jetzt hab ich sie verloren! Wo ist sie hin?
"Hörste?!"
Sie ist weg. Sie muss doch irgendwo sein. Ja, ich hör
sie summen. Die ist ganz nah, das Summen wird lauter.
Dann finde ich sie wieder, dann segelt sie mir um den
Kopf und ich halt sie fest mit meinen Blicken, immer
im Kreis. Immer, immer im Kreis, mir wird schwindlig.
"Gej sit en komisch Dern!"
Dann im Sturzflug zurück auf meine Jeans, mitten
auf den Flecken. - Ich schlage zu, mit voller Wucht.
Treffer! Die ist erledigt. Auf meiner Hose: Ein süßer
Fleck, übertüncht mit einer zermatschten Fliegenleiche.
Morgen werde ich sie in einem Marmeladenmeer begraben.
Vor dem Essen: Ess ma gut!
Beim Essen: Schmecktet? Nach dem Essen: So, dat ham
wir auch schon wieder auf! Wenn ich weg gehe: Gehste
auch schon wieder weg? Wenn ich nichts zu tun habe:
Haste auch nix zu tun? Wenn ich wieder da bin: Biste
auch wieder da? Wenn sie sich langweilt: Und sonst geht's...
Alles was mir zu meiner Oma einfällt, ist haufenweise
aneinandergereiht, stinkendes Getue voller pampig gequirlter
Scheiße! Wie es mir geht? Das sage ich nicht,
weil sie es beim ersten mal gar nicht, beim zweiten
mal halb und beim dritten mal falsch verstehen würde.
Aber schlimmer noch als ihre Schwerhörigkeit ist,
dass sie überhaupt nichts dafür kann.
Es schellt, ich öffne,
Karneval steht vor der Tür. Max und Moritz, mit
Pfläumchen und Feigling in den Taschen. Sei kein
Frosch, mach mit! Die Fun-Generation hat ihren Auftritt,
du gehörst dazu. Oder nicht? Was sonst. Ich verkleide
mich. Als Opfer. Aber das gehört nicht hierher.
Es ist 11 Uhr 11, alle sind glücklich. Ich auch.
Wir stehn am Straßenrand und grölen. Der
Zug rollt an, helau! Der Schützenverein bewirft
uns mit Bonbons aus der Mottenkiste, der Trecker walzt
über Konfetti und Schneematsch, die frisch-verwitwete
Nachbarin liegt heulend im Graben, Pipi-Langstrumpf
verliert ihre Zöpfe, Kleinkinder suchen ihre Eltern.
Ein Bekannter stopft mir seine Zunge in den Hals. Ich
werd ihn nicht mehr los.
Wer noch lebt, fällt zum Bürgerhaus. Es wird
geschunkelt, der Ortsvorsteher macht sich zum Affen,
man klatscht und stößt an, die Tanzgarde
schmeißt sämtliche Beine in den Himmel, heidewitzka,
das Leben ist schön! Tatütata, Platz da! Einem
Kind wird der Magen ausgepumpt.
Danach quetscht sich das gesamte Dorf in die kleinste
Kneipe der Welt. Ein Muss. Mein Begleiter kotzt mir
einen Kuss ins Gesicht. Es wird getanzt, Löcher
aus dem Käse, Polonese was das Zeug hält,
Helau. Meine Eltern hängen an der Theke und warten
schon. Komm, Mäuschen, trink mit uns! Nein danke,
ich bin ein Arschloch. Papa grapscht mir ganz karnevalistisch
an den Hintern und gibt ne Runde. Max, Moritz und der
Bekannte sind begeistert und bedanken sich. Ich betrink
mich mit Orangenlimonade und werde ausgelacht. Mutter
sticht mir mit lackiertem Fingernagel das rechte Auge
aus dem Kopf und schmeißt sich an meinen Begleiter
heran. Der schreckt zurück, wir gehen. Ich weine
nicht. Werde in den Arm genommen und ins Bett gezerrt.
Fräulein Spielverderber dreht sich weg und faltet
die Hände.
Bald wird das Christkind ans Kreuz genagelt und keiner
wills gewesen sein.
Wieder zu Hause. Oma macht
ein Kreuzzeichen. Der Tag beginnt mit Aspirin, mit Atemgold
und Lüftungszwang. Keine Orientierungsschwierigkeiten
vortäuschen! Haltung bewahren, Position einnehmen.
Wir beim Frühstück: Der Toaster gibt den Startschuss:
Brötchen, Käse, Schinken, Graubrot, Ei und
Kaffe. Schnauf, schmatz, schlürf - Magen vollgepumpt,
Fresswahn befriedigt. Was nun? Die Zeitung! Vater den
Sportteil, Mutter die Sensationen, Oma das Lokale. Feuilleton
fällt unterm Tisch, ich hinterher. Alles in Rekordzeit.
Und was gibt's zum Mittagessen?
Vater hört nicht auf
zu nörgeln. Mutter hört nicht auf, sich zu
entschuldigen. Oma hört nicht auf zu sterben. Ich
fang erst gar nicht an.
Er furzt die Gegend leer und vergewaltigt sein Kotelett.
Omas beste Freundin: irgend so´ne Gymnastiktante.
Mutters beste Freundin: Linda de Mol und ihre "Traumhochzeit".
Seine beste Freundin: die Fernbedienung. Ich habe keine
Freunde.
Bei Werbeunterbrechungen schalten wir den Ton ab und
wenn es endlich weitergeht, schalten wir ihn wieder
ein. Im Fernsehen, ein Jugendlicher, der seine Eltern
und sämtliche Verwandte erschossen hat. Oma kommentiert
das Wetter und alle geben ihr recht. Wir haben keinen
Waffenschrank. Tatsächlich: Ich kann auf beiden
Augen heulen.
Großeinkauf. Eine Maßnahme. Ich werde geschmückt.
Mutter schleppt tausend Sachen an.
"Guck ma! Das ist doch süß, oder nicht?"
Ein gleichgültiges Nicken meinerseits.
"Moooment!"
Die väterliche Qualitäts- und Preiskontrolle.
Ein nicht wegzudenkender Faktor des effizienten Einkaufsvorganges.
"Ja, kannste anprobieren."
Ausschließlich die Kraft der oberen Hierarchieebene
ist weisungsbefugt und am Zahlungsverkehr beteiligt.
"Oh, das möchte ich aber auch mal eben anprobieren!"
Mutter in ihrem Element, hechtet von einem Kleiderständer
zum nächsten.
"Ihr könnt ja schon vor gehen, ich guck dann
alleine noch ein bisschen."
Da das ausführende Personal keinerlei Entscheidungsfähigkeiten
besitzt, wird dies nicht geduldet. So ist den Leitlinien
des Chefs in Richtung Parkhaus gehorsamst Folge zu leisten.
Stumm, korrekt geordnet und im Gleichschritt.
Wenn ich noch weiter so blöd
lache, dann wird mir "der Geldhahn zugedreht!"
Wenn das Telefon schellt: Der Organisator tritt an den
Apparat. Wer sonst. Stolz, bierbäuchig. Prüfendes
Melden. Ein Glück: Nicht für mich. Heute kein
Verehrer. Aufgeblasener Datenaustausch. Schnell, schnell!
Einen Kuli braucht der Herr. Mutter pennend im Bett,
ich tot im Sessel. Schließlich legt er den Hörer
bei Seite, trällert durch den Raum - ich raff´s
nicht - bester Laune. Ein Liedchen summend, wühlend
in den Schubladen.
"Wo ist denn jetzt der Kugelschreiber wieder!"
Ich bin zu sehr mit Verwesen beschäftigt. Allmählich
sucht er immer hektischer, fast schon panisch, aber
immer noch pfeifend. Laut pfeifend. Sowas kommt in den
besten Familien vor.
Wenn ich schon schlafe: Jemand klingelt sturm. Wochenende,
1:30 Uhr, das kann ja nur einer sein - ich rühre
mich nicht. Mutter aus dem Bett, springend, stürzend,
hechtend zur Tür. Er metzelt ein paar besoffene
Worte ins Haus, Mutter betroffen entschuldigend. Ich
horche. Szenenwechsel. Die Küche. Monotoner Brummton.
Er spricht. Berichterstattung. Das Neuste vom Neusten.
Wochenrückblick. Durchgekautes vom Stammtisch.
Mutter schluckt geduldig, am Herd - wo sonst - kochend.
Bratkartoffeln. Er unterbricht sein Gelalle, haut rein,
sabbernd. Mutter sieht zu, lächelnd. Man kennt
das.
Mein übrig gebliebenes
Auge tut weh. Mutter macht sich Sorgen. Und wie! Sie
versteht das nicht...
"Es muss doch irgendwas sein. Warum finden denn
die Ärzte nichts! Lange lassen wir uns das nicht
mehr gefallen, das kann doch so nicht weiter gehen,
wie soll denn das noch weiter gehen! Vielleicht finden
sie was in der Neurologie. Neurologische Untersuchung,
das heißt doch so, Neurologie oder?"
"Ja, das heißt so."
"Dann finden sie vielleicht was Neurologisches;
nicht, dass du noch ganz blind wirst, das wollen wir
ja nicht, um Gottes Willen! Nicht, dass das noch ein
Tumor ist oder... nein, nein! davor brauchen wir keine
Angst zu haben, ein Tumor ist das nicht und ganz blind
wirst du auch nicht. Ganz sicher nicht."
Sie macht sich solche Sorgen und sie hat mich so lieb.
Sie hält es kaum aus und ich auch nicht, so lieb
hat sie mich.
"Ich halt das kaum aus, ich mach mir solche Sorgen.
Die ganze Woche lauf ich schon mit Kopfschmerzen durch
die Gegend. Das kann doch so nicht weiter gehen. Wie
soll denn das weiter gehen! Ein riesen Berg Wäsche
liegt da schon, bestimmt schon vier Tage, aber ich schaff
das einfach nicht. Das ist alles viel zu viel für
mich, ich schaff es nicht. Niemand... und du könntest
doch auch mal... aber das geht ja nicht mit dem Auge,
das versteh ich schon. Ich hab so Angst um dich und
immer diese Kopfschmerzen. Und morgen kommt Besuch und
ich muss das Wohnzimmer noch putzen und die Küche
und bald ist Mittwoch und dann hab ich bestimmt auch
noch Kopfschmerzen, wie letzte Woche. Ach Kind, wenn
du wüsstest, ich bin überhaupt nichts mehr
wert."
Und einkaufen muss sie auch noch. Wann soll sie das
denn alles machen! Und wann sollen sie denn zur Klinik
fahren mit mir! Ihr Mann kriegt schon immer schlechtere
Laune, die ganzen Urlaubstage gehen dabei drauf. Und
überhaupt, es geht überhaupt nichts mehr.
Oma ist krank, der Rasenmäher ist kaputt. Aber
eins möchte sie mal sehen; was, wenn sie mal krank
wird, was dann passiert, was dann werden soll, das möchte
sie mal sehen. Und was ihr Mann dann macht, das möchte
sie mal wissen. Nein, das möchte sie lieber gar
nicht wissen, was der dann macht.
"Das möchte ich gar nicht wissen. Wo soll
denn das hinführen!"
Ja, wo soll denn das hin und wo soll denn ihr Mann hin,
wenn sie krank wird und mittwochs Kopfschmerzen hat,
mit seiner Erektion! Wo soll er denn dann bloß
hin damit! - Das weiß kein Mensch. Mäuschen
liegt im Bett und hat Angst. Sonst nichts.
Wo ist die Fliegenklatsche?
Mutter auf allen Vieren, er strafft die Leine. Such,
Frauchen! Such die Fliegenklatsche! Such! Mutter sucht.
So ist's brav. Durchschnüffelt die Küche,
das Wohnzimmer, den Flur. Ohne Erfolg.
"Das ist doch nicht zu fassen!"
Herrchen wird böse. Mutter zieht den Schwanz ein,
betet den Fliegenfänger an. Der klebt so gut er
kann, doch es nützt nichts. Die Fliegen fliegen,
summen, landen, straucheln, stürzen, segeln was
das Zeug hält und alles um den schlauen Kopf. Er
kriegt die Krise. Ich zähle die Einstiche an meinen
Armen. Ich bin mit hundert Sachen in einen LKW geknallt.
Erwähnte ich das schon?
"Was sitzt du denn da rum! Kannste uns nicht mal
helfen!"
Ich suche den Autoschlüssel.
Man durchstreift das Wohnzimmer und spricht: "Wie
sieht denn der Flur wieder aus!"
Mutter ergattert den Schrubber, Oma einen Aufnehmer.
Wischiwaschi, schrubb, flitsch, wedel. Fliesen müssen
blinken. Mutter in Führung, noch drei Quadratmeter.
Oma, gründlich und gewissenhaft, legt zum Endspurt
an, holt auf. Ein Kopf - an - Kopf - Rennen! Kampf der
Hausfrauen. Der Ernährer stoppt die Uhr und verteilt
seine Orden. Unentschieden.
Geburtstage: Der Parkettboden gebohnert, die Fenster
geputzt, Chips, Korn, Pils, Alt, Pfläumchen, der
Tisch ist gedeckt. Die Nachbarschaft kann kommen, der
Frühschoppen beginnen. Wir sitzen in den Startblöcken,
gespannt. Da! ein Klingeln an der Tür, ein Grinsen
auf unseren Gesichtern. Schlagartig. Oma schiebt noch
schnell ihr Gebiss ins Maul, Mutter zupft ihr Blüschen
zurecht, er nimmt die Geschenke entgegen. Der Hausflur
wird zum Laufsteg.
"Halllohallo! Na dann mal hereinspaziert!"
Manege frei, nehmt Platz! Unsere kaum benutzte Sitzecke
steht euch zur Verfügung, bequem, gemütlich
- heute wird hier was geboten. Das übliche Geplänkel.
Gratulationen, Gerede, das Wetter. Seufzer wo sie die
Geräuschkulisse am Leben halten, Mundwinkelzucken
wo es verlangt wird. Überbrückung beißender
Stille, mühevolles Ankurbeln der erwarteten Partystimmung.
Es will nicht so recht. Wie ist die Schule? Was macht
der Freund? Wie geht es dir? Alles Fragen, die geradewegs
zur offenbarten Depression führen würden,
die hier einfach von vorn herein nicht in Frage kommen.
Unpassend. Das weiß jeder. Vorzeigetöchterchen
hat ausgedient. Ich strahle meine Narben durchs Wohnzimmer.
Keine Reaktion. Ich versinke. Mutter fuchtelt in meinem
Gesicht herum und spricht feierlich in den Raum:
"Montag ist die Nachuntersuchung. Da werden die
Implantate im Unterkiefer untersucht. Wir werden mal
fragen, ob der da am Kinn, an der Stirn - hier oben
- und alles, ob man da noch was ändern kann. Aber
ich denke schon. Der ist ja auch Gesichtschirurg. Und
heute sind die schon ziemlich weit in solchen Dingen."
Zufriedenes Lächeln aus nachbarschaftlichen Gesichtern.
Entschuldigung angenommen.
Arbeitslosigkeit. Es wird politisch. Einbrüche.
Straßenschlachten. Sein Vortrag erntet Zustimmung.
Ich verliebe mich nicht in Ausländer. Stülpe
mir die Chipstüte über den Kopf. Salz auf
meinen Lippen. Nur ein Versuch. Was? Ja, ein Alt, zwei
Pils. Kommt sofort! Gehorsam wie nie schleppe ich mich
in den Keller, Richtung Bierkästen. Nicht zu verfehlen.
Ich komme zurück, knalle die Flaschen auf den Tisch
und habe meine Tage. Verstörte Blicke machen die
Runde, ich mich zum Affen, was sonst! Nein. Eigentlich
macht gar nichts die Runde, aber es dreht sich trotzdem.
In meinem Kopf, alles nur in meinem Kopf. Ich krieche
unter den Teppich. Ich horche.
Hörst du Bruderherz? Die rauscht. Eine Muschel
in meinen Händen. Das Meer in den Ohren. Ein Kinderspiel.
Mein Bruder ist tot. Er starb als Kind. Erwähnte
ich das schon?
"Hey! Pennst du!"
Ich renne. Ich renne mich zur Vernunft. Ausflüge
ans Ende einer anderen Welt. Das sieht mir ähnlich.
Jemand läutet zur Rückkehr in die Realität.
Ich eile. Meine Schritte versinken im Sand. Der Gastgeber
natürlich. Ich stolpere.
Fang mich, wenn du kannst!
Händeringend verlangt er nach dem Flaschenöffner,
den ich umklammere.
Tod in mir.
Eine Hand voll tobender Partygäste. Wie lange war
ich weg? Ich sehe eine alberne Nachbarschaft auf Kronleuchtern
schaukeln. Ich sehe rote Gesichter, tastende Bewegungen.
Orientierungslos. Ich sehe glasige Augen. Ich sehe eine
Hand nach meinen Brüsten greifen. Ich sehe...
Ich bin dankbar. Es gibt kein zurück mehr. Mutter
zieht eine Fratze. Ich kriege Lachkrämpfe. Sein
beherrschter Blick züchtigt das Chaos. Sie unterdrückt
ihre Ausgelassenheit. Wir tun was wir können. Ich
zieh mich zurück. Den Zimmerschlüssel hab
ich nicht mehr. Das ist eine lange Geschichte und noch
länger her. Ich habe keine Lust das zu erzählen.
Bevor ich's vergesse: Ich habe gar kein Aids. Wer mir
glaubt, ist selber schuld.
Ich bin nicht krank, ich werde nicht sterben, ich habe
kein Aids, nicht einmal ansatzweise. Ich bin nur verrückt,
nicht ganz klar im Kopf, aber das erwähnte ich
ja bereits. Also bitte, dieser Anfall von hochperverser
Verarschung war die Bestätigung. Sie können
wieder aufhören mit Kopfschütteln. Das bringt
auch nichts.
Ich lüge oft rum. Manchmal fange ich an, es selbst
zu glauben. Damit muss man echt aufpassen, sonst ist
man irgendwann überhaupt nicht mehr für voll
zu nehmen. Viel scheint bei mir nicht mehr zu fehlen.
Ich kenne meinen Fehler. Es geht mir einfach nicht schlecht
genug.
Sechster Dezember. Knecht Ruprecht ist besoffen und
wirft mit Stühlen und Tischen. Es werden die Rolladen
heruntergelassen. Ich esse einen Apfel.
Der vierundzwanzigste. Wir, frischgesegnet und in Sonntagskluft,
besingen mit Leibeskräften den Baumschmuck, spielen
Vater-Mutter-Kind. Ein Blickkontakt hier, ein Küsschen
da, auch das mit Leibeskräften. Die Weihnachtsmann-Imitation
stolziert zum Gabentisch und verteilt die Geschenke.
Oma begeistert ihre Hände vor den Mund und freut
sich wie ein zahnloses Kleinkind über einen Teller
voller Nüsse. Mutter klammert sich an ihre neue
Brillantarmbanduhr als wenn das alles wäre. Ein
Abdeckstift für mein Gesicht und dessen Narben
plus tausend anderer Sachen. Der Star des Abends gibt
das Startzeichen, mit einem Korkenknall. Es darf geflennt
werden. Ein Trauerspiel. Mein Bruder ist tot. Pflichtbewusster
Abstecher in die Vergangenheit. Ja, ja, als ich noch
Kind war, als wir noch klein waren! Wir. Früher
war das alles noch viel schöner. Ach ja, wie wahr,
wie wahr! Das Christkind kreischt sich die Flügel
vom Rücken. Oma legt ihre Brüste auf den Tisch
und frisst.
Mit "die Suppe könnte eine Idee heißer
sein" fängt es an und mit seiner Nachkalkulation
hört es auf. Ein Geschäft. Der Verkauf der
Weihnachtsbäume hat ihm fast fünfhundert deutsche
Mark eingebracht. Zwischendurch, Omas Augengezwinker.
Herr, dein Diener hat gespeist und dankt. Dann leg ich
mich bei anderen unter den Weihnachtsbaum und schlafe
wie ein Kind.
Das ist ein Traum oder so ähnlich. Ich öffne
die Tür. Es riecht nach Bratkartoffeln. Dann steh
ich da und glotze und werde beglotzt. Selbst er unterbricht
sein Gesabber und peilt die Lage. Schielt in meine Richtung.
Versucht ein Lächeln. Mutter macht's ihm vor. Ich
schleppe mich an den Tisch. Setze mich. Entdecke die
Zunge in meinem Mund. Von innen über die Zähne
und über den Gaumen. Dann knibbel ich an meinen
Fingern herum. Höre ihn schmatzen. Dann seh ich
ihn. Die Gabel zum Mund koordinierend. Gekautes aus
dem Gesicht fallend. Schweiß auf seiner Stirn.
Ein Akt. Mutter. Ein Blick. Leiert mich mit besoffener
Erklärung zu. Ich hau ihr eine rein und ihm das
Essen in den Schoß. Weg hier. Das Bad, der Flur,
die Treppe. Haste, renne, falle. Haste, renne, falle.
Wohin! Ins Bodenlose. Flucht in den Wahnsinn. Mutter
lacht mich in den Tod. Er würgt mir eine Gänsehaut.
Ich sinke, ringe. Drückt zu. Luft! Oma taucht auf.
Ihr Rettungsversuch: Bananenquark. Ich lehne dankend
ab. Krieche aus dem Haus. Der Vorgarten. Blühend.
Sterbe einen grausamen Tod. Ein letzter Blick ins Nichts.
Die Augen schon geschlossen. Höre Schritte. Näher.
Ein Schatten betritt die Nacht.
Danke, gut.
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