26. Tage der deutschsprachigen Literatur

Eine Veranstaltung der Landeshauptstadt Klagenfurt und des ORF Landesstudios Kärnten in Zusammenarbeit mit 3sat und freundlicher Unterstützung der Telekom Austria.

Tage der deutschsprachigen Literatur 2002 - die aktuellen Informationen

Melanie Arns Text

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Heul doch!

Mittwochs Sex: Vater pfeift, Mutter springt, er stöhnt, ich kotze. Donnerstags: Mutters Predigt. Tu was... wir haben es auch nicht leicht... Oma ist alt... du bist noch jung... früher war alles ganz anders... wir sind nicht besoffen... die Menschen sterben nun mal.
Mein Bruder ist tot. Er starb als Kind, falls das jemand interessiert.
Freitags, samstags, sonntags: Vater und Mutter saufen sich zu Tode, alles andere würde sie umbringen.
Montags bin ich drei Jahre alt. Es wird gehätschelt und getätschelt. Oma legt mir ein Stückchen Schokolade auf die Zunge, Mutter legt mir den Kopf an die Brust, Vater steckt mir einen 10er an's Höschen.
Alles andere ist gelogen. Ich lüge, ich bin verrückt, das sage ich lieber gleich.
Manchmal umarme ich meine Mutter. Ich umarme sie wie das eine Tochter tut mit ihrer Mutter. Und jetzt sehe ich sie an und jetzt merke ich es erst richtig, sie lächelt! Sie lächelt und Oma lächelt und ich lächle und einfach jeder in diesem Raum, in unserem Wohnzimmer lächelt, weil wir so glücklich sind und weil alles gut ist, irgendwie. Heute ist Dienstag, glaube ich.
Oma hat Namenstag. Ein Grund zum feiern. Mutter stellt die Flaschen auf den Tisch, schenkt ein, PROST! setzt an, schluckt. Mein Blick beißt sich in ihr Gesicht wie ein Insekt.
"Nun guck mal nicht so! Ich trink ein Gläschen und du rastest gleich wieder aus." Ich habe aufgehört, meine Mutter zu schlagen.
Ich tanze. Ja, tatsächlich, ich hüpfe, ich springe, ich tobe, ich fliege, höher, immer höher, davon gibt es nicht genug! Musik. Eine Stimme jault mir das Blut aus den Adern. "I wish I was special!" Ich dreh auf, ich dreh ab, ich dreh durch.
Ein Knall, wie aus der Pistole geschossen! Für eine Sekunde übertönt er jedes Geräusch, jeden Krach, jeden Schrei, würgt den Ton der Lautsprecherboxen ab, danach: Stille. Stille, die meine Taubheit ignoriert, ich höre wieder... aufs Wort. Die Musik verliert ihre Melodie, ich den Mut - der Vater ist da. Mit ihm schreitet hart erarbeiteter Verdienst zu Tische. Wir rollen den Teppich aus, wir stehen Spalier, wir fallen auf die Knie. Herbeigelogene Harmonie bekommt den letzten Schliff: Das große Fressen.
Mutter tischt auf; Vater schlägt zu, Oma keucht auf mein Essen; ich starre auf den Boden. So hat jeder etwas davon. Schmeckt's? - Hervorragend! Einmalig! Richtig lecker! - und für Mutter ist der Tag gerettet .
Meine Eltern: ein Herz und eine Seele. Sie streiten nie.
Ein unauffällig prüfender Blick nach links. Mutter: stocknüchtern. Ich bin geschockt! Vor mir: meine Oma. Sie zieht ein Gesicht, als wären wir die besten Freunde. Rechts: die Dunkelheit. Das ist das beste. Das mit dem Glasauge meine ich. Solange ich sämtliche Versuche unterlasse, mit meinem nicht vorhandenen Auge zu sehen, stört es mich nicht weiter. Im Gegenteil, eigentlich ist mir dieses süße, kleine, unaufdringliche Glasauge sogar recht. Man kann eine Menge Dinge tun, die mit beiden Augen nur schwer möglich wären.
Zum Beispiel kann ich mich beim Überqueren einer Straße von einem Auto oder sonst einem idiotischen Fahrzeug überfahren lassen, einfach so, ohne dass ich damit gerechnet hätte. Im Ernst, ich finde das ganz praktisch, ich finde es geradezu beruhigend, dieses Kunstauge. So nenne ich es. Kunstauge.
Es ist das einzige, was bleibt. Immer. Ich bin mit hundert Sachen in einen LKW geknallt, wenn Sie's genau wissen wollen.

Das bescheuertste ist meine Dankbarkeit. Ich kann nichts dafür, aber ich bin tatsächlich dankbar. Und daran hat sich bis heute, fünfhundert Jahre nach dem Crash, nichts geändert. Dem Notarzt bin ich dankbar, weil er so schnell zur Stelle war, den Chirurgen, weil sie mich gerettet haben, den Schwestern, weil sie so lieb zu mir waren. Ich bin allen so paradox dankbar, dass ich ihnen am liebsten um den Hals fallen würde.
Allerdings ist das noch sozusagen harmlos. Absolut krankhaft hingegen - das sage ich aber niemandem - ist, dass ich deswegen auch noch anfange zu beten. Einfach so. Das soll jetzt nicht irgendwie fromm klingen oder so. Aber ich kann nichts dafür, manchmal tue ich es eben. Wenn ich nach draußen sehe, zum Beispiel, oder wenn ich Musik höre, selbst wenn ich auf dem Klo sitze, tue ich es.
Und dabei fällt mir nicht mehr ein als `danke´.
Danke, dass ich diesen Unfall hatte und danke, dass ich ihn überlebt habe.

Was jetzt folgt, ist die Krönung, ist einfach nur noch peinlich: Ich heule. Mit geschlossenen Händen das Gesicht zusammenhaltend, verbergend, mit den Fingerspitzen die Augen reibend schluchze ich mich unter den Tisch. I wish I was special! Von allen Seiten prasselt es auf mich nieder:
"Kalt kochen kann ich noch nicht!"
"Wie kann man denn auch nur so schlingen!"
"Schnell, Kind, trink wat kaltes."
Mein Wimmern - ein lautloses Geräusch. Weiter nichts! Der Sinn des Lebens: Das Weißbrot zu essen, bevor es verschimmelt; die Blumen zu gießen, bevor sie verwelken; zu erfahren, ob jemand gestorben ist, bevor es die anderen wissen. Am besten noch, bevor es derjenige selbst weiß. Das ist die Bedingung, dass jemand stirbt, meine ich. Keiner aus der Familie oder so, viel lieber einer aus der Straße oder zumindest aus dem Dorf. Jemand, den wir zwar kennen, mit dem wir aber nichts zu tun haben, irgend jemand einfach, soll doch endlich sterben. Das wäre die Erlösung, wenn die Nachbarin angerannt käme und tratschmäulig zum Besten gäbe, dass der alte - ich weiß nicht wer - tot sei. Einfach nur, damit wir etwas zu reden haben, damit das hier nicht noch peinlicher wird als es sowieso schon ist.
Aber es bewegt sich nichts, es passiert einfach nichts, weit und breit keine Nachbarin, nichts. Wir sitzen einfach da. An einem Tisch. In einem Boot, sozusagen.
Ich springe über Bord.

Draußen. Ich sehe nach draußen. Ich starre. Das Fenster zur Nachbarschaft - eine Blumenpracht. Gebt euch keine Mühe, harkt und mäht und pflanzt solange und soviel ihr wollt, es wird euch nichts bringen, wir und unser Garten sind in keiner Weise zu übertreffen. Wir sind ganz einfach perfekt. Das Bild verschwimmt. Ich sehe in die Zukunft - bis zum Ende der Woche. Ich sehe Sonntage. An Sonntagen wird der Tisch mit einer blütenreingepflegten Decke überzogen, alles strahlt und funkelt, vom Geschirr bis zum Zahnersatz. An Sonntagen wird die Flasche zum Fläschchen, das Glas zum Gläschen, der Tropfen zum Tröpfchen, Prost zum Prösterchen, ich werde zum Mäuschen. An Sonntagen wird aus dem Speckläppchen ein Filet, der Tisch wird zur Tafel, jedes röhrende Rülpsen zum dezenten Aufstoßen. Es ist alles in feinster Ordnung. Trotzdem danken wir Gott an Sonntagen, wenn kein Fußballspiel im Fernsehen läuft und wir beten, dass Steffi ihren Matchball verwandelt. Aber es könnte schlimmer sein. Mittlerweile muss Oma nicht mehr um das gute Essen heulen. Sonntage sind keine Schweinerei mehr, die Gabel findet ihren Weg zum Mund, Kristallgeschirr übersteht Mutters Hürdenlauf von Küche bis Esszimmer. Trotz Tunnelblick! Übung macht den Meister. An Sonntagen zeigt meine Stereoanlage, was sie kann.
Die Eltern sind ziemlich cool drauf. Kein "mach die Musik leiser!". Kein "räum dein Zimmer auf". Kein "hast du deine Hausaufgaben fertig?" - und wenn ich nach Hause komme, war ich gar nicht weg.
Ich habe Aids. Es fällt mir nicht leicht, das zu erzählen, aber ich möchte es jetzt mal rauslassen, wenn das erlaubt ist. Keine Ahnung, bei wem ich mich angesteckt habe. Ich hatte eben, was meinen Hüftbereich angeht, eine Menge zu tun. Was soll ich machen, es ist nun mal so, ich kann es nicht ändern. Tatsächlich, ich bin todkrank. Panik ist allerdings nicht angebracht, immerhin hab ich noch ein paar Jahre, man sieht mir nichts an. Und ich lasse mir auch nichts anmerken, ich meine, ich heule nicht rum oder so, ich sage es niemandem, solange, bis es zu Ende ist. Aber ich werde garantiert nicht warten, bis mein Körper zerfällt, nein danke. Es wird mir auch wohl niemand übel nehmen, wenn ich mir...
Für meine Mutter wird das bestimmt eine Qual. Noch weiß sie von nichts, aber irgendwann werde ich es ihr nicht mehr verheimlichen können.

Zurück zur Tagesordnung! Oma leidet von der Küche zum Wohnzimmer zur Tür herein. Ein schluffender Schritt übertrumpft den nächsten, ein Stoßgebet folgt dem anderen. Dein Reich komme, gesegnet sei der Herr, voll der Gnaden. Amen. Auf meiner Jeans landet eine Fliege. Darunter ein vertrockneter Marmeladenfleck.
"Ik kann nie mehr!"
Erdbeer glaub ich.
"No gon´k dor sette en dü nex mehr!"
Brötchen mit Erdbeermarmelade, heute morgen.
"Nex!"
Is mir gar nicht aufgefallen, dass ich da geschlabbert hab. Na, wenigstens die Fliege hat ihren Spaß. Krabbelt hektisch auf meiner Hose herum. Hier und da ein kurzer Zwischenstopp. Tastet mit ihrem kleinen Rüssel jeden Quadratmillimeter meiner Beine ab.
"Durst hab ich."
Ja, saug mich aus! Ich sehe zu, geduldig, gleichgültig.
"Hier oben is gar kein Wasser mehr."
Dann hebt sie ab. Summ - Summ, unruhige, abgehackte Flugbahnen. Ich versuche ihr zu folgen.
"Oder is da noch wat?"
Hoch, runter, rechts, links! Wo will sie hin?
"Geh ma gucken!"
Verdammt, jetzt hab ich sie verloren! Wo ist sie hin?
"Hörste?!"
Sie ist weg. Sie muss doch irgendwo sein. Ja, ich hör sie summen. Die ist ganz nah, das Summen wird lauter. Dann finde ich sie wieder, dann segelt sie mir um den Kopf und ich halt sie fest mit meinen Blicken, immer im Kreis. Immer, immer im Kreis, mir wird schwindlig.
"Gej sit en komisch Dern!"
Dann im Sturzflug zurück auf meine Jeans, mitten auf den Flecken. - Ich schlage zu, mit voller Wucht. Treffer! Die ist erledigt. Auf meiner Hose: Ein süßer Fleck, übertüncht mit einer zermatschten Fliegenleiche. Morgen werde ich sie in einem Marmeladenmeer begraben.

Vor dem Essen: Ess ma gut! Beim Essen: Schmecktet? Nach dem Essen: So, dat ham wir auch schon wieder auf! Wenn ich weg gehe: Gehste auch schon wieder weg? Wenn ich nichts zu tun habe: Haste auch nix zu tun? Wenn ich wieder da bin: Biste auch wieder da? Wenn sie sich langweilt: Und sonst geht's...
Alles was mir zu meiner Oma einfällt, ist haufenweise aneinandergereiht, stinkendes Getue voller pampig gequirlter Scheiße! Wie es mir geht? Das sage ich nicht, weil sie es beim ersten mal gar nicht, beim zweiten mal halb und beim dritten mal falsch verstehen würde. Aber schlimmer noch als ihre Schwerhörigkeit ist, dass sie überhaupt nichts dafür kann.

Es schellt, ich öffne, Karneval steht vor der Tür. Max und Moritz, mit Pfläumchen und Feigling in den Taschen. Sei kein Frosch, mach mit! Die Fun-Generation hat ihren Auftritt, du gehörst dazu. Oder nicht? Was sonst. Ich verkleide mich. Als Opfer. Aber das gehört nicht hierher.
Es ist 11 Uhr 11, alle sind glücklich. Ich auch. Wir stehn am Straßenrand und grölen. Der Zug rollt an, helau! Der Schützenverein bewirft uns mit Bonbons aus der Mottenkiste, der Trecker walzt über Konfetti und Schneematsch, die frisch-verwitwete Nachbarin liegt heulend im Graben, Pipi-Langstrumpf verliert ihre Zöpfe, Kleinkinder suchen ihre Eltern. Ein Bekannter stopft mir seine Zunge in den Hals. Ich werd ihn nicht mehr los.
Wer noch lebt, fällt zum Bürgerhaus. Es wird geschunkelt, der Ortsvorsteher macht sich zum Affen, man klatscht und stößt an, die Tanzgarde schmeißt sämtliche Beine in den Himmel, heidewitzka, das Leben ist schön! Tatütata, Platz da! Einem Kind wird der Magen ausgepumpt.
Danach quetscht sich das gesamte Dorf in die kleinste Kneipe der Welt. Ein Muss. Mein Begleiter kotzt mir einen Kuss ins Gesicht. Es wird getanzt, Löcher aus dem Käse, Polonese was das Zeug hält, Helau. Meine Eltern hängen an der Theke und warten schon. Komm, Mäuschen, trink mit uns! Nein danke, ich bin ein Arschloch. Papa grapscht mir ganz karnevalistisch an den Hintern und gibt ne Runde. Max, Moritz und der Bekannte sind begeistert und bedanken sich. Ich betrink mich mit Orangenlimonade und werde ausgelacht. Mutter sticht mir mit lackiertem Fingernagel das rechte Auge aus dem Kopf und schmeißt sich an meinen Begleiter heran. Der schreckt zurück, wir gehen. Ich weine nicht. Werde in den Arm genommen und ins Bett gezerrt. Fräulein Spielverderber dreht sich weg und faltet die Hände.
Bald wird das Christkind ans Kreuz genagelt und keiner wills gewesen sein.

Wieder zu Hause. Oma macht ein Kreuzzeichen. Der Tag beginnt mit Aspirin, mit Atemgold und Lüftungszwang. Keine Orientierungsschwierigkeiten vortäuschen! Haltung bewahren, Position einnehmen.
Wir beim Frühstück: Der Toaster gibt den Startschuss: Brötchen, Käse, Schinken, Graubrot, Ei und Kaffe. Schnauf, schmatz, schlürf - Magen vollgepumpt, Fresswahn befriedigt. Was nun? Die Zeitung! Vater den Sportteil, Mutter die Sensationen, Oma das Lokale. Feuilleton fällt unterm Tisch, ich hinterher. Alles in Rekordzeit. Und was gibt's zum Mittagessen?

Vater hört nicht auf zu nörgeln. Mutter hört nicht auf, sich zu entschuldigen. Oma hört nicht auf zu sterben. Ich fang erst gar nicht an.
Er furzt die Gegend leer und vergewaltigt sein Kotelett.
Omas beste Freundin: irgend so´ne Gymnastiktante. Mutters beste Freundin: Linda de Mol und ihre "Traumhochzeit". Seine beste Freundin: die Fernbedienung. Ich habe keine Freunde.
Bei Werbeunterbrechungen schalten wir den Ton ab und wenn es endlich weitergeht, schalten wir ihn wieder ein. Im Fernsehen, ein Jugendlicher, der seine Eltern und sämtliche Verwandte erschossen hat. Oma kommentiert das Wetter und alle geben ihr recht. Wir haben keinen Waffenschrank. Tatsächlich: Ich kann auf beiden Augen heulen.
Großeinkauf. Eine Maßnahme. Ich werde geschmückt. Mutter schleppt tausend Sachen an.
"Guck ma! Das ist doch süß, oder nicht?"
Ein gleichgültiges Nicken meinerseits.
"Moooment!"
Die väterliche Qualitäts- und Preiskontrolle. Ein nicht wegzudenkender Faktor des effizienten Einkaufsvorganges.
"Ja, kannste anprobieren."
Ausschließlich die Kraft der oberen Hierarchieebene ist weisungsbefugt und am Zahlungsverkehr beteiligt.
"Oh, das möchte ich aber auch mal eben anprobieren!"
Mutter in ihrem Element, hechtet von einem Kleiderständer zum nächsten.
"Ihr könnt ja schon vor gehen, ich guck dann alleine noch ein bisschen."
Da das ausführende Personal keinerlei Entscheidungsfähigkeiten besitzt, wird dies nicht geduldet. So ist den Leitlinien des Chefs in Richtung Parkhaus gehorsamst Folge zu leisten. Stumm, korrekt geordnet und im Gleichschritt.

Wenn ich noch weiter so blöd lache, dann wird mir "der Geldhahn zugedreht!"
Wenn das Telefon schellt: Der Organisator tritt an den Apparat. Wer sonst. Stolz, bierbäuchig. Prüfendes Melden. Ein Glück: Nicht für mich. Heute kein Verehrer. Aufgeblasener Datenaustausch. Schnell, schnell! Einen Kuli braucht der Herr. Mutter pennend im Bett, ich tot im Sessel. Schließlich legt er den Hörer bei Seite, trällert durch den Raum - ich raff´s nicht - bester Laune. Ein Liedchen summend, wühlend in den Schubladen.
"Wo ist denn jetzt der Kugelschreiber wieder!"
Ich bin zu sehr mit Verwesen beschäftigt. Allmählich sucht er immer hektischer, fast schon panisch, aber immer noch pfeifend. Laut pfeifend. Sowas kommt in den besten Familien vor.
Wenn ich schon schlafe: Jemand klingelt sturm. Wochenende, 1:30 Uhr, das kann ja nur einer sein - ich rühre mich nicht. Mutter aus dem Bett, springend, stürzend, hechtend zur Tür. Er metzelt ein paar besoffene Worte ins Haus, Mutter betroffen entschuldigend. Ich horche. Szenenwechsel. Die Küche. Monotoner Brummton. Er spricht. Berichterstattung. Das Neuste vom Neusten. Wochenrückblick. Durchgekautes vom Stammtisch. Mutter schluckt geduldig, am Herd - wo sonst - kochend. Bratkartoffeln. Er unterbricht sein Gelalle, haut rein, sabbernd. Mutter sieht zu, lächelnd. Man kennt das.

Mein übrig gebliebenes Auge tut weh. Mutter macht sich Sorgen. Und wie! Sie versteht das nicht...
"Es muss doch irgendwas sein. Warum finden denn die Ärzte nichts! Lange lassen wir uns das nicht mehr gefallen, das kann doch so nicht weiter gehen, wie soll denn das noch weiter gehen! Vielleicht finden sie was in der Neurologie. Neurologische Untersuchung, das heißt doch so, Neurologie oder?"
"Ja, das heißt so."
"Dann finden sie vielleicht was Neurologisches; nicht, dass du noch ganz blind wirst, das wollen wir ja nicht, um Gottes Willen! Nicht, dass das noch ein Tumor ist oder... nein, nein! davor brauchen wir keine Angst zu haben, ein Tumor ist das nicht und ganz blind wirst du auch nicht. Ganz sicher nicht."
Sie macht sich solche Sorgen und sie hat mich so lieb. Sie hält es kaum aus und ich auch nicht, so lieb hat sie mich.
"Ich halt das kaum aus, ich mach mir solche Sorgen. Die ganze Woche lauf ich schon mit Kopfschmerzen durch die Gegend. Das kann doch so nicht weiter gehen. Wie soll denn das weiter gehen! Ein riesen Berg Wäsche liegt da schon, bestimmt schon vier Tage, aber ich schaff das einfach nicht. Das ist alles viel zu viel für mich, ich schaff es nicht. Niemand... und du könntest doch auch mal... aber das geht ja nicht mit dem Auge, das versteh ich schon. Ich hab so Angst um dich und immer diese Kopfschmerzen. Und morgen kommt Besuch und ich muss das Wohnzimmer noch putzen und die Küche und bald ist Mittwoch und dann hab ich bestimmt auch noch Kopfschmerzen, wie letzte Woche. Ach Kind, wenn du wüsstest, ich bin überhaupt nichts mehr wert."
Und einkaufen muss sie auch noch. Wann soll sie das denn alles machen! Und wann sollen sie denn zur Klinik fahren mit mir! Ihr Mann kriegt schon immer schlechtere Laune, die ganzen Urlaubstage gehen dabei drauf. Und überhaupt, es geht überhaupt nichts mehr. Oma ist krank, der Rasenmäher ist kaputt. Aber eins möchte sie mal sehen; was, wenn sie mal krank wird, was dann passiert, was dann werden soll, das möchte sie mal sehen. Und was ihr Mann dann macht, das möchte sie mal wissen. Nein, das möchte sie lieber gar nicht wissen, was der dann macht.
"Das möchte ich gar nicht wissen. Wo soll denn das hinführen!"
Ja, wo soll denn das hin und wo soll denn ihr Mann hin, wenn sie krank wird und mittwochs Kopfschmerzen hat, mit seiner Erektion! Wo soll er denn dann bloß hin damit! - Das weiß kein Mensch. Mäuschen liegt im Bett und hat Angst. Sonst nichts.

Wo ist die Fliegenklatsche? Mutter auf allen Vieren, er strafft die Leine. Such, Frauchen! Such die Fliegenklatsche! Such! Mutter sucht. So ist's brav. Durchschnüffelt die Küche, das Wohnzimmer, den Flur. Ohne Erfolg.
"Das ist doch nicht zu fassen!"
Herrchen wird böse. Mutter zieht den Schwanz ein, betet den Fliegenfänger an. Der klebt so gut er kann, doch es nützt nichts. Die Fliegen fliegen, summen, landen, straucheln, stürzen, segeln was das Zeug hält und alles um den schlauen Kopf. Er kriegt die Krise. Ich zähle die Einstiche an meinen Armen. Ich bin mit hundert Sachen in einen LKW geknallt. Erwähnte ich das schon?
"Was sitzt du denn da rum! Kannste uns nicht mal helfen!"
Ich suche den Autoschlüssel.
Man durchstreift das Wohnzimmer und spricht: "Wie sieht denn der Flur wieder aus!"
Mutter ergattert den Schrubber, Oma einen Aufnehmer. Wischiwaschi, schrubb, flitsch, wedel. Fliesen müssen blinken. Mutter in Führung, noch drei Quadratmeter. Oma, gründlich und gewissenhaft, legt zum Endspurt an, holt auf. Ein Kopf - an - Kopf - Rennen! Kampf der Hausfrauen. Der Ernährer stoppt die Uhr und verteilt seine Orden. Unentschieden.
Geburtstage: Der Parkettboden gebohnert, die Fenster geputzt, Chips, Korn, Pils, Alt, Pfläumchen, der Tisch ist gedeckt. Die Nachbarschaft kann kommen, der Frühschoppen beginnen. Wir sitzen in den Startblöcken, gespannt. Da! ein Klingeln an der Tür, ein Grinsen auf unseren Gesichtern. Schlagartig. Oma schiebt noch schnell ihr Gebiss ins Maul, Mutter zupft ihr Blüschen zurecht, er nimmt die Geschenke entgegen. Der Hausflur wird zum Laufsteg.
"Halllohallo! Na dann mal hereinspaziert!"
Manege frei, nehmt Platz! Unsere kaum benutzte Sitzecke steht euch zur Verfügung, bequem, gemütlich - heute wird hier was geboten. Das übliche Geplänkel. Gratulationen, Gerede, das Wetter. Seufzer wo sie die Geräuschkulisse am Leben halten, Mundwinkelzucken wo es verlangt wird. Überbrückung beißender Stille, mühevolles Ankurbeln der erwarteten Partystimmung. Es will nicht so recht. Wie ist die Schule? Was macht der Freund? Wie geht es dir? Alles Fragen, die geradewegs zur offenbarten Depression führen würden, die hier einfach von vorn herein nicht in Frage kommen. Unpassend. Das weiß jeder. Vorzeigetöchterchen hat ausgedient. Ich strahle meine Narben durchs Wohnzimmer. Keine Reaktion. Ich versinke. Mutter fuchtelt in meinem Gesicht herum und spricht feierlich in den Raum:
"Montag ist die Nachuntersuchung. Da werden die Implantate im Unterkiefer untersucht. Wir werden mal fragen, ob der da am Kinn, an der Stirn - hier oben - und alles, ob man da noch was ändern kann. Aber ich denke schon. Der ist ja auch Gesichtschirurg. Und heute sind die schon ziemlich weit in solchen Dingen."
Zufriedenes Lächeln aus nachbarschaftlichen Gesichtern. Entschuldigung angenommen.
Arbeitslosigkeit. Es wird politisch. Einbrüche. Straßenschlachten. Sein Vortrag erntet Zustimmung. Ich verliebe mich nicht in Ausländer. Stülpe mir die Chipstüte über den Kopf. Salz auf meinen Lippen. Nur ein Versuch. Was? Ja, ein Alt, zwei Pils. Kommt sofort! Gehorsam wie nie schleppe ich mich in den Keller, Richtung Bierkästen. Nicht zu verfehlen. Ich komme zurück, knalle die Flaschen auf den Tisch und habe meine Tage. Verstörte Blicke machen die Runde, ich mich zum Affen, was sonst! Nein. Eigentlich macht gar nichts die Runde, aber es dreht sich trotzdem. In meinem Kopf, alles nur in meinem Kopf. Ich krieche unter den Teppich. Ich horche.
Hörst du Bruderherz? Die rauscht. Eine Muschel in meinen Händen. Das Meer in den Ohren. Ein Kinderspiel. Mein Bruder ist tot. Er starb als Kind. Erwähnte ich das schon?
"Hey! Pennst du!"
Ich renne. Ich renne mich zur Vernunft. Ausflüge ans Ende einer anderen Welt. Das sieht mir ähnlich. Jemand läutet zur Rückkehr in die Realität. Ich eile. Meine Schritte versinken im Sand. Der Gastgeber natürlich. Ich stolpere.
Fang mich, wenn du kannst!
Händeringend verlangt er nach dem Flaschenöffner, den ich umklammere.
Tod in mir.
Eine Hand voll tobender Partygäste. Wie lange war ich weg? Ich sehe eine alberne Nachbarschaft auf Kronleuchtern schaukeln. Ich sehe rote Gesichter, tastende Bewegungen. Orientierungslos. Ich sehe glasige Augen. Ich sehe eine Hand nach meinen Brüsten greifen. Ich sehe...
Ich bin dankbar. Es gibt kein zurück mehr. Mutter zieht eine Fratze. Ich kriege Lachkrämpfe. Sein beherrschter Blick züchtigt das Chaos. Sie unterdrückt ihre Ausgelassenheit. Wir tun was wir können. Ich zieh mich zurück. Den Zimmerschlüssel hab ich nicht mehr. Das ist eine lange Geschichte und noch länger her. Ich habe keine Lust das zu erzählen.
Bevor ich's vergesse: Ich habe gar kein Aids. Wer mir glaubt, ist selber schuld.
Ich bin nicht krank, ich werde nicht sterben, ich habe kein Aids, nicht einmal ansatzweise. Ich bin nur verrückt, nicht ganz klar im Kopf, aber das erwähnte ich ja bereits. Also bitte, dieser Anfall von hochperverser Verarschung war die Bestätigung. Sie können wieder aufhören mit Kopfschütteln. Das bringt auch nichts.
Ich lüge oft rum. Manchmal fange ich an, es selbst zu glauben. Damit muss man echt aufpassen, sonst ist man irgendwann überhaupt nicht mehr für voll zu nehmen. Viel scheint bei mir nicht mehr zu fehlen. Ich kenne meinen Fehler. Es geht mir einfach nicht schlecht genug.
Sechster Dezember. Knecht Ruprecht ist besoffen und wirft mit Stühlen und Tischen. Es werden die Rolladen heruntergelassen. Ich esse einen Apfel.
Der vierundzwanzigste. Wir, frischgesegnet und in Sonntagskluft, besingen mit Leibeskräften den Baumschmuck, spielen Vater-Mutter-Kind. Ein Blickkontakt hier, ein Küsschen da, auch das mit Leibeskräften. Die Weihnachtsmann-Imitation stolziert zum Gabentisch und verteilt die Geschenke. Oma begeistert ihre Hände vor den Mund und freut sich wie ein zahnloses Kleinkind über einen Teller voller Nüsse. Mutter klammert sich an ihre neue Brillantarmbanduhr als wenn das alles wäre. Ein Abdeckstift für mein Gesicht und dessen Narben plus tausend anderer Sachen. Der Star des Abends gibt das Startzeichen, mit einem Korkenknall. Es darf geflennt werden. Ein Trauerspiel. Mein Bruder ist tot. Pflichtbewusster Abstecher in die Vergangenheit. Ja, ja, als ich noch Kind war, als wir noch klein waren! Wir. Früher war das alles noch viel schöner. Ach ja, wie wahr, wie wahr! Das Christkind kreischt sich die Flügel vom Rücken. Oma legt ihre Brüste auf den Tisch und frisst.
Mit "die Suppe könnte eine Idee heißer sein" fängt es an und mit seiner Nachkalkulation hört es auf. Ein Geschäft. Der Verkauf der Weihnachtsbäume hat ihm fast fünfhundert deutsche Mark eingebracht. Zwischendurch, Omas Augengezwinker. Herr, dein Diener hat gespeist und dankt. Dann leg ich mich bei anderen unter den Weihnachtsbaum und schlafe wie ein Kind.
Das ist ein Traum oder so ähnlich. Ich öffne die Tür. Es riecht nach Bratkartoffeln. Dann steh ich da und glotze und werde beglotzt. Selbst er unterbricht sein Gesabber und peilt die Lage. Schielt in meine Richtung. Versucht ein Lächeln. Mutter macht's ihm vor. Ich schleppe mich an den Tisch. Setze mich. Entdecke die Zunge in meinem Mund. Von innen über die Zähne und über den Gaumen. Dann knibbel ich an meinen Fingern herum. Höre ihn schmatzen. Dann seh ich ihn. Die Gabel zum Mund koordinierend. Gekautes aus dem Gesicht fallend. Schweiß auf seiner Stirn. Ein Akt. Mutter. Ein Blick. Leiert mich mit besoffener Erklärung zu. Ich hau ihr eine rein und ihm das Essen in den Schoß. Weg hier. Das Bad, der Flur, die Treppe. Haste, renne, falle. Haste, renne, falle. Wohin! Ins Bodenlose. Flucht in den Wahnsinn. Mutter lacht mich in den Tod. Er würgt mir eine Gänsehaut. Ich sinke, ringe. Drückt zu. Luft! Oma taucht auf. Ihr Rettungsversuch: Bananenquark. Ich lehne dankend ab. Krieche aus dem Haus. Der Vorgarten. Blühend. Sterbe einen grausamen Tod. Ein letzter Blick ins Nichts. Die Augen schon geschlossen. Höre Schritte. Näher. Ein Schatten betritt die Nacht.
Danke, gut.

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